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Berlin: Ausgeschlachtet und verschoben

Sie klauen nur die teuersten Autos und zerlegen die Fahrzeuge komplett in geheimen Werkstätten: Das Geschäft der osteuropäischen Banden boomt

Das ist eigentlich das Schlimmste, was einem Halter passieren kann, dass die Polizei ihn anruft: „Wir haben dein Auto gefunden, du kannst dir das hier angucken.“ Polizist Christian Guschke zieht mitfühlend die Augenbrauen hoch: „Der bricht doch in Tränen aus.“ Hier – das ist ein Gewerbegelände mit halb verfallenen Lagerhallen und einer proper gekalkten Autowerkstatt. Märkischer Sandboden, huckelig, hier und da etwas Asphalt, Wildwuchs an den Rändern. Das Ganze liegt inmitten einer Häuschen-mit-Garten-Idylle irgendwo in Brandenburg. Das Gezwitscher diverser Vogelarten und das Gekreische fröhlicher Kinder aus der nahen Kita können nur hin und wieder den Krach übertönen, den Abschleppfahrzeuge machen, wenn sie eine Luxuslimousine aufladen. Oder Autotüren, Kotflügel, Fenster und Dächer, wenn sie einzeln aus einer zinnsoldatenartigen Reihe von ihresgleichen gezogen und zu einem Haufen mit Sitzgarnitur, Kabelbaum und im Idealfall Motor sortiert werden. Zu denen sie in Wirklichkeit gehören.

Hier – das ist ein einziger der vielen Tatorte eines relativ neuen Zweigs der Organisierten Kriminalität: Das brutale Schlachten und Ausweiden von in Berlin gestohlenen Edelkarossen. Zerlegehallen nennen Fachleute solche Betriebe. Dem weinenden Halter würde vielleicht Abdeckerei einfallen. Für Laien hat der Anblick etwas Obszön-Unheimliches. Wie dieser Werbespot, bei dem sich die Einzelteile eines harmlosen Hochglanz-Autos plötzlich losreißen, zu einem Monster verrenken und in eine Art Veitstanz verfallen. Christian Guschke und seine Kollegen sind keine Laien. Sie gehören zum Zentralen Verkehrsdienst (ZVkD) der Berliner Polizei und sind, um im Bild zu bleiben, Fachleute für das Wiedereinfangen der Gliedmaßen und Organe. Sie identifizieren sie anhand allermöglicher Kennziffern und -zahlen, ordnen sie diversen Diebstahlsvorgängen zu und bereiten sie zum Abtransport in die Kriminaltechnik vor.

Guschke ist seit sechs Jahren Leiter des ZVkD 223, zuständig für „Fahndung/Ermittlung“. Die 18 KFZ-Profiler sind Spezialisten für Kriminalität rund ums Auto, erkennen gefälschte in- und ausländische Führerscheine, Fahrzeugpapiere und Dienstsiegel genau so auf Anhieb wie Typenschilder und Werkzeuge. „Profi-Puzzler“, lacht Guschke. Sie bekommen regelmäßig Upgrades zu neuen Sicherungssystemen von den Herstellern und informieren die umgekehrt über enttarnte Methoden und elektronische Tools zum Knacken von Wegfahrsperren.

Operative Arbeit an Tatorten wie diesem erledigt der ZVkD 223 ein paarmal pro Jahr, im Auftrag des Landeskriminalamts. Das hat ein Dezernat für „Qualifizierte Eigentumsdelikte und Bandenkriminalität“ und bearbeitet vor allem Diebstahl und Unterschlagung von und Betrug mit Autos, die besondere kriminelle Energie und Organisation brauchen. Die Autos, um die es hier geht, müssen nicht nur zum „Hochpreissegment“ gehören – davon werden sehr viel mehr gestohlen – sie müssen obendrein technisch hochgerüstet sein, also schwer zu überwindende Diebstahlsicherungen haben.

„Berlin ist nach unseren Erfahrungen Hauptstadt des KFZ-Diebstahls“, sagt Dirk Jacob, der Leiter des Dezernats 45. Zwar nimmt die Zahl der KFZ-Diebstähle in Berlin seit Jahren ab – 2007 waren es 5102 Fahrzeuge – bei hochwertigen Marken aber geht es steil nach oben. Es trifft auch andere Großstädte. Aber Berlin liegt nun mal am nächsten am früheren Ostblock und hat noch zwei weitere Vorzüge. Der erste: „Unsere Täter wollen nicht lange suchen, die wissen, hier gibt es eine Wohnbevölkerung, die diese Fahrzeuge auch fährt.“ Diese Fahrzeuge – das sind die, die andere kriminelle Auto-Fetischisten zur Zeit gerade wieder gern abfackeln: Audis ab A6, Mercedes ab E-Klasse, BMW ab 5er-Reihe aufwärts, zum Beispiel, und vor allem die Benzin- und Parkplatzfresser der besonders absurden Art: SUVs. Allradgetriebene, großmotorige Geländewagen wie Porsche Cayenne und BMW X5.

Inzwischen ist der alte Spruch: „Heute gestohlen, morgen in Polen“, vollends obsolet. Die Sore geht sowohl viel weiter nach Osten als auch nach Westeuropa, inklusive Deutschland. „Die Banden sind natürlich nicht völlig homogen, aber überwiegend dominiert von Litauern, das hält sich über die Jahre relativ konstant. Und es ist einfach so, dass in Polen das Knowhow für die Herstellung der Tools vorhanden und die Technik auf dem neuesten Stand ist“, fasst Jacob zusammen. Polnische Handwerker sind die Spitzenkräfte, die die Top-Jobs erledigen und ihre eigenen Underdogs haben: Billiglohnkräfte, meistens aus baltischen Ländern, die wochenlang in solchen Hallen hausen und bis zu vierzehn Stunden täglich im Akkord Autos mit der Flex zersägen. „Die leben da regelrecht kaserniert“, erzählt Karsten Linke empört, „oft in unglaublich unhygienischen Verhältnissen, die sehen kein Tageslicht, die schlafen und arbeiten da, bis die Halle dichtgemacht wird oder die Polizei kommt und sie mitnimmt.“

Linke beobachtet diese Szenerie für den Gesamtverband der deutschen Versicherungsunternehmen. Seit 2003 hat der Versicherungsverband eine zehnköpfige Abteilung „Kriminalitätsbekämpfung/Geldwäsche“, von der zwei nur mit KFZ-Delikten befasst sind. Sie sollen auch die Erkenntnisse der Versicherer, Hersteller und Ermittlungsbehörden bündeln und koordinieren. „Crash for cash“ (manipulierte Unfälle), „Rebirthing“ (die wundersame Wiedergeburt eines Autos aus den Daten eines stillgelegten Totalschadens und anderen frisierten „Leichenteilen“) und der ganz normale KFZ-Diebstahl gehören zu ihren Aufgaben, und eben das hochorganisierte Verschieben von Luxusautos in Einzelteilen, das in dieser Brandenburger „Zerlegebatterie“ gerade aufgeflogen ist.

Die Adresse des Zerlegebetriebs ist kein Zufall. Der zweite Vorzug, den Berlin zu bieten hat, heißt schlicht: Brandenburg. „In der Umgebung von Berlin gibt's viele alte Hallen von LPGs oder Fabriken“, sagt Linke. Und damit auch verwaiste, verödete Landstriche, in denen kaum jemand merkt, „wenn da ständig hochwertige Fahrzeuge reinfahren, aber keins wieder raus, und ab und zu kommt mal 'n großer LKW, stellt sich rückwärts davor und fährt nach einem halben Tag wieder weg.“ Allenfalls direkte Nachbarn, die sich über nächtliches Metallgesäge und -geschepper von unsichtbaren Menschen wundern. „Die meisten Hallen sind durch Hinweise von Anwohnern entdeckt worden“, sagt Linke.

In Kaunas, der zweitgrößten litauischen Stadt, war er auch schon. Riesige Verkaufsräume hat er dort bestaunen dürfen, messehallenartig, gestopft voll mit heißer Ware, feilgeboten „wie auf dem ganz normalen Markt“. In Kaunas residieren den Erkenntnissen der Ermittler zufolge auch etliche Köpfe der Banden. Im Stil mafiöser Familienclans, Herren der illegalen Marktwirtschaft gemäß den Gesetzen der legalen: Profitmaximierung durch effiziente, zielgruppenorientierte Arbeitsteilung, Logistik und Vertrieb. „Das ist im Grunde eine Art Organhandel“, resümiert Linke, „die Fahrzeuge werden zerlegt, weil sie als Einzelteile mehr Geld bringen.“ Stückgut lässt sich auch kostengünstiger über Grenzen bringen als ganze Autos mit ihren Identitätsnachweisen. „Die Gewinnspannen sind immens“, sagt Kriminaloberrat Jacob. An die Top-Chefs sind sie noch nicht drangekommen. In den unteren und mittleren Rängen – Überführer, Autoknacker, Werkstattchefs – haben sie allerdings in den letzten fünf Jahren schon aufgeräumt, auch mithilfe des europäischen Haftbefehls, der die Auslieferung von ausländischen Tätern für Prozesse mit hohen Haftstrafen am Ort der Taten ermöglicht.

Die Nachfrage nach diesem Organhandel für Luxuskutschen kommt keineswegs nur aus dem Osten. Christian Guschke zeigt auf einen Stapel in Folie eingeschweißte Vierecke mit Adressaufklebern nach Süddeutschland. Zwei Paketdienste haben sie heute schon wieder weggeschickt. Die Adressaten werden vergeblich auf ihre vermeintlichen Ersatzteilschnäppchen aus dem Internet oder Inseraten warten. Ein Teil des Vertriebs nämlich wird scheinbar ganz legal abgewickelt, mit juristisch kniffeligen Folgen: Wer mit einem Auto erwischt wird, das nachweisbar überwiegend aus Gestohlenem besteht, ist es los, auch wenn er tatsächlich keine Ahnung hatte. Man kann in Deutschland kein Recht an Diebesgut erwerben.

Die Schadenssumme allein aus KFZ-Diebstahl beziffern GDV und Polizei mit rund 250 Millionen Euro jährlich. Die Zahl der Diebstähle geht zwar konstant zurück, auch wegen der immer höheren Sicherungsausrüstung, der durchschnittliche Schadensaufwand jedoch steigt an. Wenn LKA und ZVkD ihre Arbeit in so einer Zerlegehalle getan haben, gehört der Rest, der sich keinem Vorgang zuordnen lässt und keine brauchbaren Spuren trägt, der Versicherung. Er wird komplett verschrottet, er soll nicht wieder in den teilweise gefährlichen Frisierkreislauf geraten. „Wir können froh sein, wenn der Erlös die Räumungskosten deckt“, seufzt Linke. „Was den Fahrzeugwert angeht, betreiben die Täter absolute Vernichtung.“

Im Brandenburger Zerlegebetrieb rechnet Polizeihauptkommissar Guschke nach. Fünf Edelschlitten haben sie im Stück rausgeholt und vier zerlegte sowie einen alleinstehenden Motor identifiziert. „Kosten alle vierzig- bis siebzigtausend Euro. Wenn wir mal nur den Durchschnitt von fünfzigtausend nehmen, sind wir hier bei einer halben Million Euro.“ Eine Zahl, die bei Leuten, für die ein Auto einfach fahren, möglichst wenig Dreck schleudern und möglichst wenig Sprit, Steuern und Versicherung kosten soll, Kopfschütteln oder einen kurzen hämischen Lacher provoziert. Aber Guschkes Satz war noch nicht fertig: „das zahlen wir alle mit. Das ist unsere Kohle.“

Pieke Biermann

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