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Berlin: Ausstellung zum "Homo Kleingärtus": "Ethnologie der eigenen Kultur" - auf den Spuren von Schreber

Tatort Wohngebiet: Wir alle kennen sie, diese netten Wohnviertel der sechziger, siebziger Jahre aus Beton und Grün, aus Architektur und Natur, Wechselbäder zwischen Zivilisationsstress und Naherholung. Einer der größten dieser urbanistischen Freizeitparks befindet sich im Sanierungsgebiet Wedding, Brunnenstraße.

Tatort Wohngebiet: Wir alle kennen sie, diese netten Wohnviertel der sechziger, siebziger Jahre aus Beton und Grün, aus Architektur und Natur, Wechselbäder zwischen Zivilisationsstress und Naherholung. Einer der größten dieser urbanistischen Freizeitparks befindet sich im Sanierungsgebiet Wedding, Brunnenstraße. Nach fast völligem Abriss und Entmietung in den sechziger Jahren wurde das Viertel im Schatten der Mauer in den siebziger Jahren großflächig neu gestaltet. "Heute ist der Vinetaplatz eine Art Park mit einer großen Zahl von Grünflächen, Hecken und Beeten, Kinderspielplätzen, steinernen Tischtennisplatten, Bänken, Sitzgruppen und Sandkästen. Der Gedanke der Planung ist überall zu spüren", schreibt die Künstlerin Ingeborg Lockemann in ihrer Rückschau auf die Architektur der Bundesrepublik.

Lockemann nimmt Teil an einem groß angelegten Ausstellungsprojekt, das sich zwischen dem Sanierungsgebiet im Wedding und Mitte - genauer gesagt zwischen zwei gläsernen Pavillons - erstreckt. Der eine befindet sich auf einem Grünstreifen in der Weddinger Stralsunder Straße, der andere neben der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte. Bespielt werden die beiden Pavillons bis Ende Juli von einer ganzen Horde von Künstlern, Kulturwissenschaftlern und selbsternannten Schrebergärtnern.

Auf Open-Air-Vorträgen, per Theaterstück und Video versucht das Team der veranstaltenden "Rampe 003" - Annette Maechtel, Julia Rahne, Kristin Wergeland Krog in Zusammenarbeit mit der Kulturwissenschaftlerin Kathrin Peters -, dem international beobachtbaren Phänomen der Mischbebauungen auf die Spur zu kommen. Denn die urbanistische Umgebung, die die Kindheit und Jugend vieler Ausstellungsteilnehmer prägte, ist nicht so harmlos wie es zunächst scheint. Warum sind diese Viertel entstanden? Was wurde mit den unschuldigen Spielchen bezweckt, die wir auf Spielplätzen und Steintischtennisplatten spielten? Was war das Kalkül, das zu einer derart massiven Stadtumstrukturierung führte?

Die Spur führt zum Arzt und Orthopäden Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808-1861), der sich um die Volksgesundheit mittels der Erfindung eines beachtlichen Arsenals von Rückenstützen, Geradehaltern und anderen Körperkorrektoren verdient gemacht hat. Im Zuge der Lebensreformbewegungen kam ihm die Idee, dass man die Heranwachsenden nicht nur per Prothese, sondern auch per Freizeitbeschäftigung formen könne. Auch die Seelen der jungen Menschen sollten begradigt werden, indem man ihnen gegen die Schrecken der Industrialisierung ein Renaturisierungsprogramm verordnete. Das Projekt nahm freilich ebenso monströse Formen an wie das Unheil, das man bekämpfen wollte. Der Kleingärtner als König im Gartenreich oder die Ordnungsphantasien im Gartenzwergformat sind nur einige Auswüchse dieser Geschichte.

Aus Räumen wurden Rekreationsstätten und aus der Kunst des Müßiggangs eine Kulturtechnik. Dort, wo sich der Lärm der Urbanität legt, um zur verkehrsberuhigten Zone zu werden, wird die Disziplinierung einer jeden Lust anerzogen. Dort, wo sich die Stadt zur Ruhe setzt, um zum Park zu werden, wird rückengerade Erholung produziert. Böse Zungen behaupten, die städtischen Gärten fungierten als Auslaufzonen im Kulturgefängnis. Die Leute im Wedding hingegen sagen, die zahlreichen Grünanlagen sollten die Jugendlichen vom Onanieren abhalten. Das genau war Schrebers Idee: Aus dem wilden Tier Mensch mittels Lenkung seiner Freizeit einen domestizierten Kleingärtner zu machen. Dem "Homo Kleingärtus" versuchen die rund 30 beteiligten Künstler das Handwerk zu legen.

In einer bis Mitte Juni dauernden Schau zeigt Ingeborg Lockemann im Pavillon der Volksbühne einen ebenso imaginären wie ausleihbaren Stadtplan, auf dem sie die Topographie des Weddinger Sanierungsgebietes in adretten Symbolen wiederkehren läßt. Annette Kisling fotografiert das Grüngebiet mit diskreter Tiefenschärfe, die die verschiedenen Renaturierungsprozesse wieder ins Blickfeld treten lässt. Und Petra Trenkel fertigt Architekturzeichnungen von unterschiedlichen Gebäuden mit homologen Strukturen an (bis 18.6). Elke Marhöfer zeigt im Pavillon in der Stralsunder Straße etwas zeitversetzt Aquarelle im Sechziger-Jahre-Retro-Look (bis 9.7.).

Die Arbeiten demonstrieren eine ästhetische Entscheidung: Die Künstler, Kunstvermittler und Kulturwissenschaftler versuchen nicht, einen eigens produzierten Gegenstand auszustellen oder eine These zu vertreten. Statt dessen geht es ihnen um die Veränderung des Blickwinkels, der das Alltägliche als abgefahren betrachtet: Plötzlich wird die Umwelt merkwürdig und man findet es sonderbar, dass man sich auf Grünflächen erholen soll. Mit Hilfe dieser "Ethnologie der eigenen Kultur" (Michel Foucault) verwandeln sich Räume in Schaukästen und das Weddinger Sanierungsgebiet in ein Versuchslabor zur Züchtung des neuen Menschen, des "Homo Kleingärtus".

Knut Ebeling

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