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Das Haus mit der Nummer 75.

© Kitty Kleist-heinrich

Auszug Grass-Gedicht "Ein weites Feld": Mit Fonty durch die Kollwitzstraße

1995 veröffentlichte Günter Grass den Roman „Ein weites Feld“. Darin gibt der Bürobote Theo Wuttke, genannt Fonty, dem Leser einen Einblick in das Berlin zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Wir veröffentlichen eine Passage, die in Prenzlauer Berg spielt.

„Die Kollwitzstraße ist eine zum gleichnamigen Platz führende Verlängerung der von der Dimitroffstraße gekreuzten Senefelderstraße. Früher, als Tante Pinchen hier wohnte, hieß sie anders, wie auch der Platz nicht den Namen der einst hier ansässigen Künstlerin trug; Wörther Platz hieß er, und die Straße hieß Weisenburger.

Käthe Kollwitz konnte den Blick nicht abwenden: Sie hat menschliches Elend gezeichnet, was Grund genug war, ihren Namen unter Verbot zu stellen oder zu ehren. Ähnlich hatte sich die jeden Systemwechsel nachäffende Umbenennung von Plätzen und Straßen im Bezirk Prenzlauer Berg und anderswo niedergeschlagen. Wenn im „Stechlin“ Schickedanz sagt: „Straßenname dauert noch länger als Denkmal“, ahnte er nichts von der bald und rabiat aufkommenden Kurzlebigkeit des Gedenkens; denn ob es bei Kollwitzplatz und der gleichnamigen Straße bleiben würde, war zu Beginn der allerneuesten Wechsel- und Wendezeit nicht sicher. In anderen Stadtteilen liefen bereits Anträge, nach deren heftigem Verlangen hier eine Heinrich-Heine-Straße, dort ein Rosa-Luxemburg-Platz dran glauben sollte. Allerdings war man im Sommer 90 noch um Namen verlegen, mit deren Hilfe die angekündigte Einheit Deutschlands hatte befestigt werden können.

Das Mietshaus Nummer 75 lag in Richtung Platz auf der rechten Straßenseite. Beiderseits der scheunentorbreiten Durchfahrt zum Hinterhof, von deren linker Mitte der Treppenaufgang ins Vorderhaus führte, bewahrte brüchiger Putz einige Handelsangebote aus vergangener Zeit auf: Rechter Hand waren, laut schwarzer, zum Teil versunkener Schrift, „Holz, Kohlen, Briketts und Koks“ vorrätig gewesen; linker Hand hatte ein Flickschuster eine Kellerwerkstatt als „Besohlanstalt“ betrieben. Noch mehr bot der Fassadensockel des Nachbarhauses: Dort waren einst „Kurzwaren, Schuhcreme, Butterbrot- und Klosettpapier“ sowie „Dosen und Gläser jeder Größe“ verkauft worden.

Doch hier zählt nur die Nummer 75, ein vom Hochparterre an dreistöckiges Haus, in dessen von Nebengebäuden, Schuppen und Brandmauern verengtem Hinterhof ein Kastanienbaum die Kriegs- und Nachkriegszeiten überlebt hatte. Bis zum Dachgeschoss hoch, wo die Wuttkes ihre dreieinhalb Zimmer bewohnten, zeigte der Baum die Jahreszeit an, indem er winterliches Licht durchließ, mit Knospen prahlte, großblättrig Schatten gab und im Oktober die stachligen Schalen seiner sanft gerundeten Früchte auf geteerte Schuppendächer und den hartgetretenen Grund des Hofes warf.

Es war aber ein heißer und bei Windstößen staubiger Julitag, an dem Hoftaller den verhinderten Englandreisenden bis zur Haustür heimführte. Ab U-Bahnstation Senefelder Platz trug er sogar beide Koffer. Mag sein, das sich Fonty, dem nur die Tüte anhing, die letzte Wegstrecke lang zum jünglingshaften Schritt zwingen konnte, doch vom Kollwitzplatz an hatte er Blei in den Sohlen, und vorm Haus angekommen, verschleppte er seine Ankunft weiterhin und wollte nicht treppauf.“

(c) Steidl Verlag, Taschenbuch bei dtv

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