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Berlin: Bahnhof Friedrichstraße: Spätes Lädchen

Berlin-Friedrichstraße, ein Türsteher regelt den Einlass, sonst wird es zu voll. Aber noch nie hat einer von ihnen gesagt: "Sind zu wenig Mädchen drin", und die Jungs nicht reingelassen.

Berlin-Friedrichstraße, ein Türsteher regelt den Einlass, sonst wird es zu voll. Aber noch nie hat einer von ihnen gesagt: "Sind zu wenig Mädchen drin", und die Jungs nicht reingelassen. Aber er steht ja auch nicht vor einem Tanzschuppen, sondern vor einem Supermarkt. Dem einzigen vollwertigen Supermarkt Berlins allerdings, der bis abends um zehn und dann auch noch sonntags geöffnet hat. Und wenn dies ein Club sein soll, dann ist es höchstens der Club derer, die spät dran sind.

Am Kühlregal im Edeka des Bahnhofs Friedrichstraße stehen abends um halb zehn Leute, die erst jetzt von der Arbeit kommen. Ein Mitarbeiter des Arbeitsministeriums wählt unter den Oliven die mit den Mandelkernen. Weil seine Freundin die so gerne mag. Andere allerdings könnten auch zu einer anderen Zeit einkaufen, wollen das aber gar nicht: Ein Künstler, für den die Einteilung in Tag und Nacht nur eine gesellschaftliche Konvention darstellt, hält Spülmittel, Spaghetti, eine Tomatendose und Oregano im Arm. Schülerin Franziska hat gerade einen Anruf von ihrem Freund bekommen. Der hat morgen Geburtstag und gerade keine Cola mehr.

Dieser Supermarkt rettet plötzliche Geburtstage, Abendessen und seelische Gleichgewichte. Denn er hat nicht nur Gedörrtes, Getrocknetes und Gekühltes, keine steinernen Schokoriegel und kein Fossilienobst für genügsame Reisende, sondern frische Papayas, Torten zum Auftauen, eine Knüppelsalami und Kaviar im Angebot. Vor Feiertagen erreicht das menschgewordene Argument für längere Öffnungszeiten erstaunliche Längen. Es schlängelt sich um die nächste Säule im Bahnhof und wartet geduldig auf Einlass. Um dann unter den stolzen 12 000 Artikeln Auswahl den rettenden Strohhalm zu finden.

Umsteiger, die regelmäßig zwanzig Minuten Aufenthalt haben, bis die Regionalbahn nach Strausberg kommt, können sich auf dem Bahnsteig noch überlegen, dass sie heute überbackenen Fenchel wollen. Unten finden sie eine frische Knolle in der Kühlung. "22 laufende Meter Kühlung" hat der kleine Laden, der nur gut 540 Quadratmeter umfasst, dafür aber mit 40 Mitarbeitern oft genug 5000 Kunden am Tag bedient. Die größte Leistung ist wohl die Logistik, damit ständig wieder aufgefüllt wird. Wenn einmal das Gemüse knapp wird, setzt sich der Chef in seinen Wagen und besorgt Ware aus einem seiner anderen Läden. Wenn dann noch das Personal im Ansturm einen kühlen Kopf und Freundlichkeit bewahrt, sind die Kunden dankbar.

Sorgen machen müsste man sich höchstens grundsätzlich und gesamtgesellschaftlich. Ist es doch das hausfrauliche Primat der Planung, das hier unterlaufen wird. Die gepflegten Braten, die mittwochs bestellt, am Freitag in Marinade eingelegt und sonntags gegessen werden, sind vom Aussterben bedroht. Kaum noch eine Hausfrau bastelt ihren eigenen Rumtopf über ein ganzes Jahr hinweg mit Früchten der jeweiligen Saison. Wie Bestrafte ihrer eigenen Faulheit müssen die, die alles auf den letzten Drücker erledigen, dann in die Friedrichstraße pilgern, von überallher, denn so ein Laden ist in Berlin noch einzigartig. So wie Philip und Anne aus Zehlendorf, denen das Angebot am Bahnhof Zoo zu teuer ist. Und die, gefragt was sie hier so spät am Gemüseregal tun, entgegnen, dass sie ein Zeichen setzen wollen mit ihrem Besuch im Supermarkt. Ein Zeichen für längere Öffnungszeiten. Womit ja wohl bewiesen wäre, dass jetzt auch mit Konsum Politik gemacht werden kann.

Da, doch noch, zwei Reisende. Die beiden Frauen sind der offizielle Grund für die Erlaubnis zu den langen Öffnungszeiten. Sie ziehen einen blauen Rollkoffer hinter sich her und kommen aus Bonn und Hamburg. Im roten Plastikeinkaufskorb liegen zwei große Wasserflaschen und eine Tüte Chips. "Wir versorgen uns fürs Hotelzimmer", sagen sie, und der Einkauf hier ist billiger als ihre Minibar. Den Tipp, dass es hier einen Supermarkt geben soll, der noch spät auf hat, haben sie von jemandem bekommen, der schon länger in Berlin wohnt. Und auf seinen Spätmarkt überhaupt nicht mehr verzichten will.

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