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Berlin: „Beeilen Sie sich! Die Vopos kommen!“

August ’61, Bernauer Straße. Der Vater schließt die Tür von innen ab. Es hat Vorteile, ganz unten zu wohnen Mit den Eltern flüchtet die Tochter durchs Fenster, rüber in den Westen – im Wintermantel

In einer geteilten Stadt kommt es darauf an, ein möglichst ungeteiltes Leben zu führen. Ein tendenziell ungeteiltes Leben führt, wer zwar noch mit beiden Beinen im Osten steht, aber bereits Westluft atmet. Und das machen die Matherns schon, wenn sie die Fenster öffnen. In der Bernauer Straße wohnen, kochen und schlafen sie gewissermaßen zentimetergenau auf der Grenze zweier Weltsysteme.

Elke Matherns Vater arbeitet beim Backmittelhersteller „Brann“ – dem Dr. Oetker des Ostens. Und Elkes Vater ist der Verkaufsleiter, er hat sogar einen Firmenwagen. Ihre Mutter hilft in einer Weddinger Fleischerei. Was ist eine Fleischereigehilfin gegen einen Verkaufsleiter mit Dienstwagen? Nicht viel, normalerweise, aber was ist schon normal in einer Stadt mit zwei Währungen? Und wenn die Mutter ihren Verdienst schwarz tauscht, bleibt von Vaters Vorsprung nichts übrig. Auch ist, wer mit dem ersten Schritt auf die Straße bereits im Westen ist, auf Westgeld angewiesen, zumindest seelisch.

Trotzdem, weg wollten sie nie. Nicht einmal, als der Onkel aus Tangermünde in den Westen floh, mit ihrer Wohnung als Fluchtquartier. Sie brachten seine Möbel auf der einen Seite hinein, tranken noch gemeinsam Kaffee, und brachten sie auf der anderen wieder hinaus.

Die damals 16-jährige Elke hat ihre ersten Monate unter der Erde am Arkonaplatz verbracht. Ein Bunkerkind wie so viele. Vielleicht deshalb war die Ansichtskartensammlung ihres Onkels, der in den zwanziger Jahren mit der Hamburg-Amerika-Linie gefahren war und der Familie Postkarten von den abenteuerlichsten Orten schickte, das Kostbarste, was sie besaß. Die Niagarafälle im Winter, Hahnenkämpfe auf den Philippinnen. Ferne! Weite! Vielleicht darum gefiel Elke Rosin auch ihr blaues FDJ-Hemd mit der aufgehenden Sonne auf dem Arm. Und dass diese Freie Deutsche Jugend nur einem Stern folgen wollte: der Freiheit.

Welchen Sternen Eltern folgen, ist Kindern oft nur schwer verständlich. Am Mittwoch, dem 16. August, erklärt Elkes Mutter ihren Töchtern, dass dies der Tag sei – heute und nur heute –, um neue Wintermäntel zu kaufen. Es ist drückend heiß, aber Mütter sind vernünftigen Argumenten schwer zugänglich, also stehen sie schließlich im Konfektionsgeschäft in der Brunnenstraße und schwitzen mit jedem Wintermantel, den sie anprobieren, noch mehr. Sie kaufen gleich mehrere.

Am Donnerstag ist es kaum kühler am Mittagstisch, doch sie dürfen nicht aufstehen. Der Vater will noch etwas sagen. Er spricht nicht mit seiner Alltagsstimme, sondern in der Tonlage, die den Dingen mit weit reichenden, wenn nicht gar unabsehbaren Konsequenzen vorbehalten ist. Aber im Grunde sagt er nur: Kinder, wir gehen gleich über die Straße!

Elke Mathern heißt heute Elke Rosin. Sie weiß nicht mehr, was sie zuerst dachte: Hurra, wir brauchen nicht abwaschen! Und nicht mal abräumen. Oder: Was nehme ich mit? Auf jeden Fall die Postkarten und den Kanarienvogel. Oder denkt sie zuerst an ihre beste Freundin, der sie nicht mehr Bescheid sagen kann, die in der Schule vergeblich auf sie warten wird?

Elke Mathern geht stumm zu ihrem Schrank. Sie nimmt die Postkartensammlung heraus und das FDJ-Hemd. Das FDJ-Hemd hängt sie außen an den Schrank – eine blaue Lüge mit Sonnenaufgang – Begrüßung für die, die es finden werden. Dann zieht sie den Wintermantel an – die DDR wird sie noch lange wärmen, und ihr Ostgeld sind sie auch los – greift Album, Koffer und Kanarienvogel und geht mit Mutter, Schwester und Großmutter Lina zum letzten Mal durch die Tür im Erdgeschoss der Bernauer Straße 11. Dass sie die Letzten sind, die in der Bernauer Straße, ja in ganz Ost-Berlin, das Land, das System wechseln, indem sie durch eine Tür gehen, gar durch ihre eigene, wissen sie noch nicht.

Vater Mathern schließt die Tür von innen ab. Es hat doch Vorteile, ganz unten zu wohnen. Er reicht nun alles, was sie noch mitnehmen wollen, durchs Fenster, auch eine Schale Obst. Was soll das denn?, fragt seine Frau. Ihr Mann stellt das Obst entschuldigend zurück auf den Tisch, Fliehen macht nervös.

Das Fliehen ist in diesen Tagen in der Bernauer Straße eine öffentliche Angelegenheit. Der Westen schaut aus dem Fenster. Und alle, die im Osten noch da sind, sowieso. Plötzlich ruft jemand von oben: „Beeilen Sie sich! Die Vopos kommen!“ Ganz ruhig, sagt sich Vater Mathern und hält die letzten Stücke nach draußen. Zwei West-Berliner Bauarbeiter helfen. Dann klettert er aus seinem Fenster. Unmittelbar nach ihm kommt die Polizei und sichert die Grenze, also Elke Matherns Wohnung und alle anderen im Erdgeschoss.

Ihr neues Leben heißt Pfungstadt. Klingt groß, ist aber ganz klein und liegt bei Darmstadt, wo auch ein Onkel wohnt. Pfungstadt muss ein Irrtum sein, denkt die Großstädterin auf dem Lande. Ich fühle mich so, so … unfrei? Im nächsten Sommer nimmt sie die erste italienische Gastarbeiterfamilie Pfungstadts mit nach Hause, nach Syrakus, und im übernächsten Sommer kauft sich Elke Mathern von ihrem ersten selbst verdienten Geld ein Flugticket nach Toronto, ganz allein. Das ist die Pfungstadt-Amerika-Linie. 50 Dollar trägt sie bei sich. Erst nach fast drei Jahren kommt das Bunkerkind vom Arkonaplatz zurück nach Hause. Nach Pfungstadt? Nein, dann lieber gleich weiter nach Berlin, West-Berlin. Es ist 1968 und sie ist so jung wie die Zeit, die nun beginnt.

Dass auch sie fotografiert wurden, merkten sie nicht einmal. Verwandte in Australien haben das Bild dort in einer Zeitung entdeckt und ihnen zugeschickt: Seid das nicht ihr? Elke Rosin betrachtet 50 Jahre später das Foto. In ihrem vom Fluchtwind weit geöffneten Wintermantel ist ein großer Flicken mit Knopf zu sehen. Vielleicht war auch noch das Preisschild dran.

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