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Behandlungsfehler im Krankenhaus: Der Ich-Gefangene

Sie lächelt ihn an. Er lacht. Diesmal ist es ein echtes Lachen. Georg Claus leidet am Locked-in-Syndrom. Er ist bei vollem Bewusstsein gelähmt, im eigenen Körper eingesperrt. Folge eines Arztfehlers, glaubt er. Und er begann einen ungleichen Kampf.

Als Georg Claus aufwacht, kann er nur noch seine Augen bewegen. Die Pupillen nach links, rechts, oben, unten. Die Lider auf und zu. Das ist alles. Sonst kann er nichts mehr. Es ist April 2004.

Acht Jahre später sitzt er in einem elektrischen Rollstuhl im Hausflur, festgegurtet an der Hüfte, damit er nicht vornüberkippt, den Blick starr geradeaus gerichtet. Ein junger Mann taucht neben ihm auf, und Georg Claus reißt die Augen auf. „Haben wir etwas vergessen?“, fragt der junge Mann, sein Assistent. Claus schlägt die Augenlider nieder, lässt den Kopf auf die Brust sacken. Er blickt jetzt auf seine Knie, auf denen eine Tafel liegt mit Buchstaben und Smileys. Auch der junge Mann sieht auf die Tafel. Ein roter Lichtpunkt blinkt auf dem E. Dann rast der Punkt über die Tafel, bleibt Sekundenbruchteile auf Buchstaben stehen.

E - I - N - K - A - U - F - Z - E - T - T - E - L.

Der Assistent starrt auf die Tafel. „Ah, der Einkaufszettel“, sagt er. „Wo ist der?“, fragt er ohne aufzublicken und fügt dann die Buchstaben, über die der rote Punkt jetzt rast, zusammen zu „im Drucker“.

Der Assistent geht zurück in die Wohnung. Als er mit dem Papier in der Hand zurückkommt, blickt er sofort wieder auf die Buchstabentafel, über die Claus immer noch gebeugt ist. Der Lichtpunkt leuchtet jetzt auf dem Smiley. Erst jetzt sieht der Pfleger Georg Claus wieder an. Er blickt in ein unbewegtes Gesicht. Dann nimmt er den Einkaufstrolley und öffnet die Haustür.

Georg Claus drückt mit dem Zeigefingerknöchel seiner linken Hand auf einen Knopf in der Armlehne des Rollstuhls, fährt hinaus auf einen Bürgersteig im Berliner Ortsteil Rummelsburg, biegt links ab, überquert eine Straße. Der junge Mann muss schnell gehen, um zu folgen, meist liegen zwischen ihm und Claus zehn Meter. Erst an einer roten Ampel stoppt der Rollstuhl. Als der Pfleger ihn einholt, blickt er Claus an. Der starrt geradeaus. Das bedeutet: Es ist alles in Ordnung. Die Kommunikation mit Georg Claus beschränkt sich auf Probleme.

Er ist eingesperrt in seinem eigenen Körper. Er spürt, wenn es juckt, aber er kann sich nicht kratzen. Er kann nicht sprechen, auch wenn er viele Sätze im Kopf hat. Kann nicht gestikulieren, auch wenn er aufgewühlt ist. Kann nicht lächeln, auch wenn er sich freut. Um zu kommunizieren, braucht er die Buchstabentafel mit dem ABC und den Smileys und ein Brillengestell, an dem ein blickempfindlicher Laserpointer angeschlossen ist. Jeder Satz ist Arbeit. Georg Claus hat seit acht Jahren, was man das Locked-in-Syndrom nennt. Und trotzdem ist seine Geschichte auch die Geschichte eines Wunders.

In Deutschland gibt es rund tausend Locked-in-Patienten. Vier von fünf sterben nach kurzer Zeit. Diejenigen, die überleben, können oft jahrelang nur die Augen bewegen. Claus aber kann wieder den Kopf bewegen, zum Teil das Gesicht, ein wenig seinen linken Arm und den linken Zeigefingerknöchel. Sein Mund kann Worte formen, die seine Kehle nicht aussprechen kann, die seine Lebensgefährtin aber oft erkennt.

Seine Geschichte bleibt aber auch die einer Katastrophe. Die beginnt an einem Dienstag im März 2004, als Georg Claus plötzlich hämmernde Kopfschmerzen bekommt. Sie hören nicht mehr auf. Er kann sich nicht mehr konzentrieren, nicht schlafen. Eine Hausärztin diagnostiziert die Viruserkrankung Gürtelrose, ausgebrochen am Kopf, und überweist ihn sofort ins Krankenhaus. Die Krankheit hat da bereits zu einer Hirnhautentzündung geführt. Nach zwei Wochen in der Klinik wird er entlassen. Zwei Monate später soll er zur Nachkontrolle erscheinen. Doch am zweiten Tag zu Hause bricht Georg Claus zusammen. Als er das Bewusstsein wiedererlangt, ist seine linke Körperhälfte gelähmt. Er ruft ein Taxi, lässt sich ins Krankenhaus bringen.

Die Diagnose: Stammhirninfarkt. Ausgelöst vermutlich durch eine Gehirngefäßentzündung. Die Behandlung: erst mal keine. Der Chefarzt erklärt, er sei sich bei der Diagnose nicht sicher, es sei ein komplizierter Fall. Er müsse sich übers Wochenende einlesen, um sich für eine Behandlung zu entscheiden.

Die Freundin von Georg Claus, Sabine Schleppy, ist auch im Krankenhaus. Sie stellt sich vor, wie der Arzt am Wochenende ein Medizinbuch durchblättert, vielleicht ein Glas Rotwein in der Hand, während ihr Freund in Lebensgefahr schwebt. Sie recherchiert, dass die Todesrate bei unbehandelten Stammhirninfarkten bei 70 Prozent liegt. Immer wieder fragt sie sich: Wieso braucht der Chefarzt so viel Zeit? Kann er nicht bei Kollegen nachfragen?

Am nächsten Tages hält sie es nicht mehr aus. Sie ruft im Berliner Universitätskrankenhaus Charité an und fragt, ob ihr Freund dort behandelt werden kann. Er kann. Schleppy und Claus rufen ein Taxi, fahren in die Charité. Der Arzt, der sie empfängt, bestätigt die Diagnose Stammhirninfarkt. Als Georg Claus erklärt, er habe zuvor eine Gehirnhautentzündung gehabt, bekommt er ein Antivirenmittel, außerdem Cortison, damit die Gehirngefäßentzündung abklingt.

"Vor dem Schlaganfall hatte ich ein erfülltes Leben"

Zwei Wochen lang sieht es so aus, als würde Georg Claus sich erholen. Dann ein zweiter Stammhirninfarkt und weitere Schlaganfälle. Als der letzte Infarkt vorüber ist, ist sein ganzer Körper gelähmt. Weil er nicht mehr selbstständig atmen kann, wird er ins künstliche Koma versetzt. Nach zwei Wochen wird Georg Claus aufgeweckt.

Claus und sein Assistent sind vom Einkaufen zurückgekehrt. Claus hat den Rollstuhl mit dem Knöchel seines linken Zeigefingers über die Rummelsburger Straßen gelenkt, hat gewartet, bis sein Assistent die Haustür aufmacht, und ist dann gleich zum Computer gerollt.

Die meiste Zeit seiner Tage verbringt er am Schreibtisch. Der Computer ist sein wichtigster Helfer, das Internet sein Tor zur Welt. Wenn er E-Mails schreibt, in Foren diskutiert, existiert seine Krankheit nicht. Gerade arbeitet er einen Power-Point-Vortrag um, den er vor Neuropsychologie-Studenten gehalten hat. Wenn er vor Publikum von seinem Leben berichtet, benutzt er immer den Sprachcomputer, der knatternd ausspricht, was Claus ihm vorschreibt. Und schreiben kann er dank des Laserpointers an dem Brillengestell und dank einer laserempfindlichen Tastatur. Seit Jahren hat er auch eine Website, auf der er Tipps für den Alltag mit einer fast vollständigen Lähmung zusammenträgt. Er schreibt dort, welche Therapien und welche Hilfsmittel es gibt, und welche Kneipen mit dem Rollstuhl zu erreichen sind. Claus ist bekannt unter Menschen, die am Locked- in-Syndrom leiden oder querschnittsgelähmt sind. Oft wird er eingeladen, Vorträge zu halten, an Universitäten, bei Selbsthilfegruppen und in Vereinen.

„Vor dem Schlaganfall hatte ich ein erfülltes Leben“, scheppert es aus der Computerbox. „Ich arbeitete als Creative Director bei Sony. Werbern, Regisseuren und Produzenten bot ich für Filme und Arrangements Lieder an, unter anderem von den Beatles, Bob Dylan und den Doors.“ Auf dem Bildschirm sind Fotos zu sehen. Georg Claus zusammen mit seiner Freundin Sabine Schleppy. Sie stehen auf einer Wiese, umarmen sich und lachen. „Ohne meine Lebensgefährtin hätte ich es nicht geschafft, weiterzumachen“, knattert es. Pause. „Eins der schlimmsten Dinge, die meine Krankheit mir gebracht hat, ist, dass ich meine Freundin nicht mehr richtig streicheln und umarmen kann“, sagt die Computerstimme betonungslos. Georg Claus beginnt zu lachen. Einige Gesichtsmuskeln kann er wieder bewegen. Er kann ein lachendes Gesicht machen. Nur das. Das macht er jetzt und guckt dabei traurig.

Claus drückt mit dem Knöchel der linken Hand auf eine Taste an der Armlehne seines Rollstuhls. Die knatternde Stimme verstummt, die Bilder stoppen. Nur das Surren des Computers ist zu hören. Auf der Tastatur erscheint wieder der rote Lichtpunkt. Ein weißes Textdokument öffnet sich auf dem Bildschirm. Dann tauchen darauf Wörter auf, ganz langsam: „Besonders schlimm ist auch“ – Pause – „dass es vermeidbar gewesen wäre.“ Er kopiert den Satz und fügt ihn in den Power-Point-Vortrag ein.

Georg Claus ist sicher, dass ein grober Behandlungsfehler schuld an seinem Zustand ist. Seit sieben Jahren kämpft er darum, dass ein Gericht das anerkennt. Das ist eine seiner wichtigsten Beschäftigungen. Ein Richterspruch könnte Georg Claus wenigstens aus einem Gefängnis befreien. Denn er ist nicht nur abhängig von technischen Hilfsmitteln und Pflegern, sondern auch vom Sozialamt.

Rund 5000 Euro kostet die Pflege von Georg Claus jeden Monat. Die Pflegeversicherung übernimmt 1900 Euro. Das ist der Höchstsatz für so genannte Härtefälle. Den Rest zahlt das Sozialamt. Unter einer Bedingung: Georg Claus und seine Lebensgefährtin dürfen zusammen nie mehr als 3200 Euro auf dem Konto haben. Einmal im Jahr müssen sie beim Amt die Kontoauszüge der vergangenen drei Monate vorlegen. In der übrigen Zeit kann es Stichproben geben.

Georg Claus und seine Freundin können nicht sparen, nicht für einen Urlaub, nicht für ein neues Auto, nicht für die Altersvorsorge. Hätten sie Kinder, müssten auch die ihre Ersparnisse und einen großen Teil des Einkommens in die Pflege des Vaters stecken.

Der Kampf vor den Gerichten

Wenn ein Gericht anerkennt, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein Ärztefehler Georg Claus zu einem Locked-in-Patienten gemacht hat, dann müsste die Versicherung des Krankenhauses die Pflege bezahlen. Bedingungslos, bis Georg Claus stirbt.

Der Kampf vor Gericht ist für Claus auch ein Kampf um seine Würde. „Für die Gerichte bin ich ein Aktenzeichen“, tippt Claus jetzt mit der Laserbrille in das Text-Dokument. „Was der Behandlungsfehler mit mir und meinem Leben gemacht hat, interessiert niemanden.“

Er und seine Freundin sind nicht die Einzigen, die an den groben Behandlungsfehler glauben. Auch sein Anwalt Jörg Heynemann, zwei medizinische Gutachter und seine Krankenkasse glauben das. Sie unterstützen ihn im Prozess, auf eigene Kosten, denn Claus kann keine Honorare und keine Gerichtskosten zahlen.

„Es gab mehrere Momente im Krankheitsverlauf von Georg Claus, in dem die Ärzte unbedingt hätten anders handeln müssen“, sagt Anwalt Heynemann in seiner Kanzlei. Er hat auch Pharmazie studiert und sich auf Behandlungsfehler spezialisiert. Vor ihm liegen zwei dicke Ordner mit Unterlagen zum Fall Georg Claus. Es ist nur ein kleiner Teil der Akten. Die Ordner füllen mittlerweile eine ganze Wand der Kanzlei. Heynemann packt einen der Ordner und sagt: „Selten war ein Fall für mich so klar wie der von Georg Claus.“

In der ersten Instanz wurde der grobe Behandlungsfehler jedoch nicht anerkannt. Das tat im Februar 2012 in der zweiten Instanz das Berliner Kammergericht. Trotzdem ist der Kampf vor Gericht für Georg Claus noch nicht vorbei.

Es war ein dunkler Nachmittag, als bei Claus das Telefon klingelte. Die Nummer erschien wie bei jedem Anruf am Computerbildschirm, vor dem Georg Claus wie fast immer saß. Er schrieb eine SMS, die er übers Internet an Sabine Schleppy sendete. „Ruf Jörg Heynemann an.“ Eine Stunde später war Sabine Schleppy zu Hause. Georg Claus saß da immer noch am Computer. Sie legte den Arm um seine Schultern, sagte erst nichts, schüttelte dann den Kopf und flüsterte „extrem unwahrscheinlich.“ Das waren die entscheidenden Worte.

Das Kammergericht hatte zwar bestätigt, dass der Chefarzt im Krankenhaus bei Claus’ Behandlung einen groben Fehler begangen hatte, dass er ihm innerhalb eines Tages Medikamente hätte geben sollen. Doch das Kammergericht hatte auch geurteilt: Es sei „extrem unwahrscheinlich“, dass die Verzögerung der Medikamentengabe schuld an dem Locked-in-Syndrom sei. Das Kammergericht war dem Bericht der medizinischen Gutachterin des Gerichts gefolgt. Die hatte die Formulierung „extrem unwahrscheinlich“ gebraucht.

Auf dem Bildschirm von Georg Claus erscheinen jetzt zwei neue Wörter: „sehr unwahrscheinlich“. Und weiter: „Hätte das Gericht so geurteilt – das Krankenhaus hätte für den Fehler haften müssen, den Rest meines Lebens.“ Ein kleiner Unterschied mit sehr großer Wirkung. „Dieses Gerichtsverfahren macht mir immer wieder klar, wie hilflos ich bin, wie eine Figur bei Kafka.“ Georg Claus hat mit Anwalt Heynemann das Urteil des Berliner Kammergerichts vor dem Bundesgerichtshof angefochten. Der fordert, dass bei einem groben Behandlungsfehler „jeglicher Ursachenzusammenhang gänzlich unwahrscheinlich“ sein muss, um eine Haftung des Krankenhauses auszuschließen. Bis dessen Entscheidung vorliegt, können aber Jahre vergehen.

Als Sabine Schleppy an diesem Abend nach Hause kommt, setzt sie sich zu Georg Claus und blickt ihm ins Gesicht. „Was gibt es zu essen?“, fragt sie. „Ich habe echt Hunger.“ Sein Mund öffnet sich, formt stumm Wörter. „Mmh, Nudeln mit Tomatensauce.“ Sie lächelt, und Georg Claus lacht. Dieses Mal ist es ein echtes Lachen.

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