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Berlin: Behinderte Inklusion

Reform gelingt nur mit höherem Etat, sagen Lehrer. Viel mehr Schüler leiden an ADHS-Störungen.

Reformeuphorie sieht anders aus: Während die Politik auf die vollständige Integration der Kinder mit Behinderungen („Inklusion“) zusteuert, wachsen unter Eltern und Lehrern die Ängste vor den Folgen des möglicherweise unterfinanzierten Experimentes. Noch bevor am späten Dienstagabend der Inklusionsbeirat ein letztes Mal tagte, um seine Empfehlungen abzustimmen, rührte sich deshalb bereits Widerstand.

Ausgangspunkt der Befürchtungen ist die Diskussion um die angemessene personelle und räumliche Versorgung der Kinder. Wie berichtet, könnte es im Beirat eine Mehrheit für ein Modell geben, das von einer pauschalen Zuweisung an Unterstützungsstunden ausgeht. Falls dieses Modell umgesetzt würde, bekäme jede Klasse für rund drei Stunden pro Woche einen Sonderpädagogen. Er soll sich darum kümmern, dass Kinder mit Sprach- und Lernbehinderungen oder mit Verhaltensauffälligkeiten gezielt unterstützt werden.

Kritiker in den Schulen sagen, dass diese Pauschale viel zu niedrig angesetzt sei, weil es pro Klasse nicht nur ein oder zwei Schüler mit diesen Problemen gibt, sondern unter Umständen wesentlich mehr. Deren genaue Zahl wird aber nicht erhoben, weil der Beirat nicht möchte, dass die betreffenden Kinder auf die Dauer das Etikett „behindert“ bekommen. Deshalb wird der Beirat wohl empfehlen, dass es noch zusätzliche „Poolstunden“ geben soll, aus dem jene Schulen versorgt werden sollen, die besonders viele Kinder mit den genannten Problemen unterrichten.

Die Sorge, dass die Lehrer letztlich mit einer Vielzahl schwieriger Kinder allein gelassen werden, bekam am Dienstag neue Nahrung. Denn die Barmer Ersatzkasse gab bekannt, dass die Zahl der hyperaktiven Kinder in den vergangenen fünf Jahren um rund 40 Prozent gestiegen ist. Für Berlin bedeutet das, dass rund 15 000 der 330 000 Schüler unter dem so genannten Zappelphilipp-Syndrom (ADHS) leiden.

Als weiteres Problem kommt hinzu, dass die Lehrer noch nicht für den Umgang mit Förderkindern fortgebildet sind. Dies soll zwar in der reformierten Lehrerbildung verankert werden; die bereits in den Schulen tätigen Lehrern haben diese Vorkenntnisse aber noch nicht. Was dies bedeuten kann, beschreibt eine Konrektorin aus Marzahn-Hellersdorf: Ihre Grundschule sollte geistig behinderte Kinder integrieren, was aber nicht gelang, so dass die Kinder zurück an die Sonderschule mussten. „Sie brauchen geschützte Räume“, resümiert die Konrektorin ihre Erfahrungen. Zudem hätten die Lehrer derart viel mit den Kindern aus den massiv gestörten Familienverhältnissen in den Stadtrandsiedlungen zu tun, dass es einfach nicht möglich sei, zusätzlich auch noch den schwer behinderten Kindern gerecht zu werden.

Auch Inge Hirschmann vom Grundschulverband hat nach vielen Gesprächen mit Kolleginnen festgestellt, „dass die Aufbruchstimmung fehlt“. Nach der Vielzahl an unterfinanzierten Reformen der letzten Jahre gebe es keine Zuversicht mehr, dass in Sachen „Inklusion“ alles besser werde. Auch Hirschmann verweist auf die vielen Kinder, „die nicht Schritt halten können“, die mangels elterliche Förderung „verwahrlosen“.

Eine weitere Befürchtung der Eltern betrifft den Übergang auf die weiterführenden Schulen. Sie fordern einen Nachteilsausgleich für Kinder mit Behinderungen, damit auch diese Schüler eine Chance haben, auf eine der nachgefragten Schulen zu kommen. sve/svo

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