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Berlin: Bei Anruf Stromstoß

Eine Lesebühne bestraft miese Texte mit Elektroschocks. Die Zuhörer können per Handy abstimmen

Zuerst spürt man nur Kribbeln und Ziepen. Ab sieben Milliampere fühlt es sich an wie kleine Stecknadeln. „Zwischen zehn und elf gibt es ein intensives Brennen“, grinst Sascha Lobo. „Und ab 15 fühlt es sich an wie eine kleine glühende Drahtpeitsche aus Stacheldraht.“ Der Mann im Arztkittel hat am Mittwochabend in der Kulturbrauerei nichts zu befürchten – er sitzt am richtigen Ende der Maschine.

„Onkel Milgrams Open Mike“ heißt die Veranstaltung des Künstlerkollektivs „Zentrale Intelligenz Agentur“. Eine Art Lesebühne, nur dass die Zuhörer mit ihrem Handy abstimmen können, wie ihnen der vorgetragene Text gefällt. Die Minuswertung auf der Skala wird eins zu eins in Milliampere Strom umgesetzt. „Wir wollten ausprobieren, wie das so ist, wenn der Autor auch mal physisch spüren kann, wie er beim Publikum ankommt“, erklärt Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig das Konzept des Literaturwettbewerbs. Die Idee sei ihnen nach einer dieser Lesungen gekommen, bei denen das Publikum unnötig gequält worden sei. „Manche Autoren scheinen wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben.“

Der Name des Wettbewerbs spielt auf das berühmt gewordene Experiment des US-Forschers Stanley Milgram an. Er testete die Bereitschaft von Versuchspersonen, andere durch Stromschläge zu bestrafen, wenn sie Fehler bei Denkaufgaben machten. Im Gegensatz zu Milgrams Versuch handelt es sich bei dem Lese-Experiment allerdings um echten Strom.

Ganz so ernst darf man das aber wohl nicht nehmen. Die Stromstöße werden zwar irgendwann unangenehm, doch gefährlich sind sie nicht. Auch für Anja Koemstedt hat das Ganze viel mehr „Eventcharakter“. „Die Show will sich durch die Stromschläge wohl selbst ad absurdum führen.“ Die Autorin liest den vermutlich einzigen ernsthaft gemeinten Text des Abends, eine abstrakte Abhandlung, in der jeder Satz dreimal das Wort „Loch“ enthält. Kurz vorher hätte sie beinahe doch noch abgesagt. Nicht aus Angst vor den Stromstößen, sondern weil sie befürchtete, der Text passe nicht in die Show.

Die meisten Teilnehmer machen sich einen Spaß daraus, mit der Wahl ihrer Texte das Publikum zu möglichst schlechten Wertungen anzufeuern. Marius Meller, inoffizieller Mitarbeiter der Zentralen Intelligenz Agentur, hält mit seinem Jugendwerk „Unser Turnverein“ am längsten durch: bis 18 Milliampere. „Ich hab gelesen, um dem Publikum seine sadistische Ader vor Augen zu führen.“ Ob das funktioniert hat, bleibt offen. Ob der Sieger Klaus Caesar seinen gewonnenen Gutschein für ein Branding einlösen wird – wohl auch.

Sandra Stalinski

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