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Bitte kühlt euch doch mal alle ab.

© dpa

Beleidigungen, Schüsse, Wutanfälle: Berlin ist durchgedreht: Bitte kühlt euch ab!

Berlin diskutiert nicht, Berlin giftet, hasst, immer auf die Fresse. Woran das liegt? Hoffentlich am Wetter! Bernd Matthies zur Lage der Stadt - und dem fehlenden Bürgersinn der Berliner. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lars von Törne

Woher kommt all diese schlechte Laune? Warum giften sich auf den Berliner Straßen alle immer nur an, sehen sich als Gegner, denen der andere irgendetwas wegnehmen will? Radfahrer hassen Autofahrer hassen Fußgänger hassen Radfahrer und so weiter, und aus dem noch gar nicht so lange vergessenen „Entschuldigen Sie bitte“ sind „Arschloch!“ oder „Blöder Wichser!“ geworden, wenn nicht gar gleich Handgreiflichkeiten folgen, aus allerbanalstem Anlass, wie sich versteht.

Sogar die Ordnungshüter, die doch durch ihr Berufsethos verpflichtet und durch ihre Ausbildung befähigt sind, die Nerven zu behalten – selbst sie drehen mit am Rad. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass einer von ihnen einen Hund einfach über den Haufen schießt, der – die Details sind noch ungeklärt – doch wohl offenbar für niemanden eine akute Lebensgefahr bedeutete und mit Pfefferspray zielsicher hätte zur Räson gebracht werden können?

Jene von uns, die aus Alters- oder sonstigen Gründen keine körperliche Überlegenheit ausstrahlen, haben sich schon lange entschieden: Sie ducken sich weg. Einen aggressiven Radler anschreien, einem (jaja) rücksichtslosen Autofahrer den Vogel zeigen – das trauen sich die meisten schon gar nicht mehr, denn der Betreffende könnte ja stärker sein und bereit, zuzuschlagen, weil er sich in seiner persönlichen Freiheit beschränkt sieht oder dem, was er dafür hält. Wer in der Warteschlange im Supermarkt einen Drängler auf die Sachlage aufmerksam macht und dafür einen Schwall wüster Beleidigungen erntet, auch der wird beim nächsten Mal die Klappe halten, statt womöglich Schläge zu riskieren.

Und dann die Sache mit den Hunden, natürlich. Der Hundekrieg vom Schlachtensee hat überregionale Aufmerksamkeit erregt, nicht wegen seiner ungeheuerlichen Dimension, sondern weil er draußen auf dem Land als irgendwie beispielhaft gilt für die Art, in der die Berliner mit ihren Problemen umgehen, beziehungsweise: eben nicht.

Die Berliner haben den Kompromiss verlernt

Ob das tatsächlich so ist, sei dahingestellt; richtig ist aber sicher, dass es sich um ein gutes Beispiel dafür handelt, wie grundfalsches Behördenhandeln eine zwar latent problematische, aber keineswegs akut bedeutsame Situation eskalieren lassen kann. Aus mehr oder weniger beherrschtem Ärger wird plötzlich vermeintliches Recht, das ist das Prinzip. Man kann sich, Hundehalter oder nicht, nur grausen vor dem Moment, an dem in Berlin der mit allerhand Fußnoten gespickte allgemeine Leinenzwang in Kraft tritt und jeder glaubt, im Besitz der juristischen Wahrheit zu sein. Ob die Besitzer von unangeleinten Dackeln dann noch ihren Hundeführerschein vorzeigen dürfen oder gleich präventiv auf die Fresse kriegen?

Es fehlt gegenwärtig in Berlin der gesunde Bürgersinn, der auf Ausgleich und Akzeptanz bedacht ist, der weiß, dass Konflikte am besten durch Kompromissbereitschaft und Zuhören gelöst werden und nicht durch Vorschriften und Gesetze, die hinterher nicht durchgesetzt werden können und schon deshalb nach Selbstjustiz schmecken.

Über die Gründe dieser Entwicklung, die ja nicht nur in Berlin zu spüren ist, wurde schon viel räsoniert, es mag mit den Abstiegsängsten einer bedrohten Mittelschicht zu tun haben oder mit der Perspektivlosigkeit eines verlorenen Prekariats, es mag mit dem abwegigen, aber verbreiteten Eindruck zusammenhängen, dass die Welt als solche aus den Fugen gerate, alle Politiker Verbrecher seien und man selbst nur überleben könne, wenn man keine Schwäche zeigt – all das sind aber nur Bausteine.

Ein bisschen Facebook-Empörung steckt Zehntausende an

Und es mag andererseits auch sein, dass die sozialen Netze als Resonanzkörper eine ganz andere Wahrnehmung auslösen: Früher hätte der erschossene Hund eine lakonische Polizeimeldung und das eine oder andere gerichtliche Nachspiel ausgelöst; heute reicht ein bisschen Facebook-Empörung, um Zehntausende in die Angelegenheit hineinzuziehen, die sich dann in den Folgetagen auch untereinander in unzähligen Internet-Foren weiter bekriegen und so den Eindruck einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft suggerieren.

Vielleicht, so möchte man in diesen Tagen hinzufügen, ist es ja auch die Hitze und insofern womöglich der so schön abstrakte Klimawandel, der uns die Köpfe vernebelt. Es besteht deshalb die minimale Hoffnung, es könnte dem heißen Berliner Sommer ein auch stimmungsmäßig kühlerer Herbst folgen. Wir haben es, jeder für sich, in der Hand.

Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Sonja Álvarez und Alice Hasters über die Härte von Internetdebatten: "Woher kommt der Hass im Netz?"

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