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Bericht aus dem Nachtleben: Berlin Calling: Was Touristen hier wollen

20 Millionen Übernachtungen 2010. Der Ansturm der Touristen bricht alle Rekorde. Viel zu viele, sagen manche in Berlin. Was suchen die Gäste hier – und was finden sie?

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Als die drei Mädchen aus Kalifornien zum ersten Mal vor Sebastians Tresen auftauchen, steht der junge Mann mit den kurzen schwarzen Locken und der eckigen Brille schon seit drei Stunden dahinter. Es ist 21 Uhr, er hat vier Gäste eingecheckt, jeweils zwei Föns und Handtücher verliehen und drei Maschinen Wäsche gewaschen, außerdem zwei junge Pärchen bei der Restaurantwahl beraten. Nun muss er zuhören.

Gestern seien sie zum Berghain gefahren, aber nicht reingelassen worden, sagen die drei. Also wollen sie es erneut versuchen, denn sie haben nur noch einen Tag, und weiterreisen, ohne ausgerechnet da gewesen zu sein, in dem Club, das gehe natürlich nicht. Das Berghain ist ein Muss, die Wegbeschreibung dorthin kommt Sebastian so selbstverständlich über die Lippen wie die Aufzählung des Bierangebots im East Seven Hostel, nahe der Schönhauser Allee, wo er seit zwei Jahren arbeitet, gerade 30 geworden, Nachtschicht zweimal die Woche, Verdienst: gering.

Es ist Samstagabend in Prenzlauer Berg. Alle Betten sind belegt. Sebastian reicht drei Bier über den Tresen. Für Chelsey, Kelly und Christine, die doch heute noch los wollen nach Friedrichshain-Kreuzberg, in den Kiez, in dem man sie eigentlich gerade gar nicht mehr will, die Touristen. Wo man sich der Toleranz und bunten Mischung rühmt, aber nun, genug ist genug, die Straßen doch lieber wieder für sich alleine hätte.

Auf Plakaten, die in den Straßen hängen, schreien die Kreuzberger Grünen um Hilfe. Gegen die Touristen, die das urbane Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen, die Landnahme als ewige Party zelebrieren. Ein Feind, laut, gefräßig, raumgreifend, mit vielen Zungen sprechend. Und die Ruhe, die an diesem Samstagabend rund ums Schlesische Tor herrscht, sie wirkt geradezu verdächtig.

Ein paar Franzosen lehnen an einem Stehtisch vor dem „Bagdad“ – orientalische Speisen, Backwaren, Linsensuppe. Sie bestellen Dürüm mit Schafskäse. Kein Fleisch, bitte. Der vermeintlich Feind der Kreuzberger, heute Nacht ist er Vegetarier, er dreht Zigaretten, er fällt nicht auf. In den Gesichtern der Franzosen liegt, kurz nach 22 Uhr, eher die Erschöpfung eines langen Tages als die Ankündigung einer langen Nacht. „Wir sind seit Stunden unterwegs“, sagt Thomas, ein Musiker mit grauem Hut – dabei sind sie erst 24 Stunden in Berlin. Aber Wochenenden im Sog der Metropole, in der getanzt wird, bis Dienstag ist, unterliegen eben anderen Maßstäben.

Wo fängt der Tourist an, wo hört der Berliner auf?

Den bisherigen Abend haben sie in einer Galerie verbracht. Für die nächsten Stunden werden sie „some drugs“ besorgen, wie Thomas noch sagt, bevor er gar nichts mehr sagt, weil es entweder schon zu spät ist oder noch zu früh, um viel zu sprechen. Er verabschiedet sich am Eingang der Champagneria in der Falckensteinstraße. In eine Nacht als Tourist, die sich vielleicht gar nicht groß unterscheidet von der mancher Berliner, die im Viertel leben. Drogen aus dem Görlitzer Park, Gin und Tonic zu Electrobeats, mehr Großstadtnormalität als Eskalationstourismus. Thomas geht. Zurück bleibt die Frage, wo eigentlich der Tourist aufhört und der Berliner beginnt.

Neun Millionen Touristen kamen im vergangenen Jahr nach Berlin, die meisten von ihnen aus dem Ausland. Im Februar gab es sogar einen neuen Rekord zu vermelden: 20 Millionen Übernachtungen im Jahr 2010. Das waren gleich zehn Prozent mehr als 2009. Längst ist der Tourismus einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Stadt, schafft 230 000 Arbeitsplätze, liefert rund neun Milliarden Euro Steuereinnahmen im Jahr.

In den elf Stunden, die der durchschnittliche Tourist angeblich täglich draußen verbringt, legt er laut Statistik knapp zehn Kilometer zurück. Und den Kreuzbergern scheint es nun, als liefe er allein durch ihr Viertel. Randalierend, Drogen nehmend, Schirmchencocktails trinkend, kotzend. Weswegen die Grünen dort Ende Februar zu einer Diskussionsveranstaltung luden: „Hilfe, die Touris kommen!“

Es werde ihnen zu viel, sagten die Anwohner, etwa 200 waren gekommen. Das sei nicht mehr ihr Kiez und, bitte, fort mit den Touristen. Da waren selbst die Grünen geschockt.

Einer, der das anders sieht, sagt: „Kreuzberg lebt von seiner Vielstimmigkeit.“ Es ist Jakob, der über die Dächer der Schlesischen Straße in Richtung Oberbaumbrücke blickt. Eine kalte Nacht, Minusgrade. Er bittet auf seinen Balkon, um zu zeigen, was es seiner Meinung nach nicht gibt. Ein Problem. Eine fortwährende Ruhestörung.

Jakob, geboren in der Nähe von Frankfurt, Student der Philosophie, lebt seit fast sechs Jahren in Berlin. Ein Zugezogener. Seine Freundin ist Spanierin. Der Furcht vor dem Bösen mit dem Backpack begegnet er mit Unverständnis. „Es heißt immer, es gebe hier zu viele Touristen. Aber die gehören einfach zu Kreuzberg.“ Er lehnt sich über das gusseiserne Balkongeländer und klopft die Asche von seiner Zigarette in die Tiefe, wo sich die Straße mittlerweile gefüllt hat. Lautes Lachen dringt nach oben, wird von den Häuserwänden zurückgeworfen. Ein Pärchen spielt Fangen zwischen den parkenden Autos. Jakob blickt ihnen nach, lächelt. „Vielleicht“, sagt er, „sollten die Kreuzberger einfach mehr reisen.“ Oder sich freuen, dass die Welt zu ihnen kommt.

So wie sie das mal getan haben, in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Beispiel, als die Berliner die vielen Fremden in ihrer Stadt – bei allen Beschwerden über volle Museen und steigende Kriminalität, die man auch damals schon hörte – eher mit Stolz zur Kenntnis nahmen. Sie waren dem Berliner ein sicheres Zeichen für den kosmopolitischen Charakter der Stadt – und keine andere wollte man sein, nur weg vom preußisch-provinziellen Mief. Man hoffte, vom internationalen Charakter der Stadt profitieren zu können. „Der Deutsche“, so heißt es in einer Schrift von damals, „wird hier auch in engste Beziehung zu den verschiedensten Ausländern gebracht, er bekommt Verständnis für fremdes Wesen, er wird vor krankhafter Entartung des berechtigten nationalen Selbstbewusstseins bewahrt, er wird Weltbürger.“

Sebastian, der Rezeptionist im Hostel, hat gelernt, die Leute einzuschätzen. Nicht alle, die ihn ansprechen, sind auf der Suche nach dem ultimativen Partyerlebnis. Es kommen auch Fragen nach kleinen Jazzbars oder der besten Verbindung zum Theater am Kurfürstendamm. Wen er wo hinschickt, überlegt er genau. Zwei junge Mädchen ins Berghain? Lieber nicht, zu wild. Sebastian ist die Person gewordene Gebrauchsanweisung für Berlin. Am nötigsten, meint er, brauchen ihn die Briten. Wenn sie Sebastian nachmittags nach dem Dresscode fragen, erklärt er, dass es den nicht gibt in Berlin, dass jeder geht, wie er sich wohlfühlt, in T-Shirt und Turnschuhen. Kommen sie dann um Mitternacht die Treppe herunter, tragen sie Zehn-Zentimeter-Absätze und Miniröcke.

Es ist 22 Uhr. Aus der Küche des Hostels, gleich neben dem Gemeinschaftsraum, schallt lautes Stimmengewirr. Es riecht nach Kohl, zwei Französinnen kochen Eintopf. Eine Italienerin kaut an einem Stück Spinatpizza, ein junger Mann aus Chicago sucht im Kühlschrank nach Scheiblettenkäse und findet ihn hinter einer überdimensionierten Flasche Sangria. Wer im Kühlschrank oder Regal Lebensmittel deponieren möchte, muss sie mit Namensschildchen versehen, damit sie nach der Abreise von den Mitarbeitern entsorgt werden und gewährleistet ist, dass nichts vor sich hin gammelt. Das System hat noch einen anderen Hintergrund: An der Wand über dem Vorratsregal hängt ein Ausdruck mit der Aufschrift „Communism is easy – unlabled food is free food.“

Noch drei Mal hat Sebastian den Kalifornierinnen Bier über den Tresen gereicht, beim dritten Mal auf ausdrücklichen Wunsch „das mit dem höchsten Alkoholgehalt“ und zwei Jägermeister. Auch mehrere Tassen Kaffee hat er gekocht, für eine Gruppe von Spaniern, die auf keinen Fall müde werden wollen, bevor sie losgehen. Inzwischen aber haben die drei jungen Männer auch schon mehrere Lagerbier intus, sitzen im Gemeinschaftsraum, den sie Lounge nennen, zurückgelehnt auf den braunen Ledersofas und verfolgen aufmerksam, wie die Kalifornierinnen zu Rihanna, Lady Gaga und Haddaway von ihrem iPod sowohl die langen goldenen Kettchen mit ihren Anfangsbuchstaben als auch ihre Brüste wippen lassen.

Sebastian erzählt, wie mal einer im Rausch den im Bett unter ihm bepinkelt hat. Der nahm das mit Humor. Erstaunlich, meint Sebastian.

Hostelling ist eine Geisteshaltung

Vielleicht aber auch nicht. Die Gäste sind eine WG auf Zeit – und auf quasi internationalem Boden. Hostelling ist eine Geisteshaltung. Und der Geist reist mit. Durch Barcelona, London, Paris, durch Kreuzberg auch. Dort fährt er U-Bahn, Linie eins, Kleinkunstbühne, Speeddatingbörse, Schienenbahn durch das Kreuzberger Eurodisneyland, deren Bahnhöfe, als zentrale Rangierstationen des Nachtlebens, immer auch Schaukästen der Befindlichkeiten des Bezirks sind.

Wo eine mögliche Touristenphobie am Kottbusser Tor, zwei Dutzend Stufen unter der Erde, am Samstagabend nach Mitternacht weggetanzt wird. „Polkageist“, vier Berliner mit Kontrabass, Akkordeon und Trompete, entfachen einen Wodka-Wirbel im Viervierteltakt. Holländer in Federkostümen lassen Konfetti aus Plastiktüten regnen. Die Kinder vom Kotti haben die Gäste aus Spanien untergehakt. „Dit is Berlin, wa“, sagt einer, der den U-Bahnhof seine Heimat nennt, ehe sein zahnloses Grinsen in der Menge verschwindet.

Im Hostel schaltet Sebastian das Radio aus. Es ist ruhig geworden am Empfang, um zwei Uhr huschen die Kalifornierinnen giggelnd an ihm vorbei in Richtung Ausgang. Um kurz vor drei beschließt Sebastian, sich hinzulegen. Im ersten Stock gibt es einen Raum für die Angestellten.

Um sieben Uhr steht er wieder unten am Empfang, um neun Uhr endet seine Schicht. Während der ist die Tür 39 Mal auf- und zugegangen, er hat drei Kisten Bier verkauft, zweimal Aspirin und einmal Oropax über den Tresen geschoben. Die Kalifornierinnen wird er erst am Abend wieder sehen, sie kehren um zehn Uhr morgens heim und verschlafen den Tag. „We sleep when we are dead“, lautet ein Eintrag im Gästebuch. Oder: „Berlin happened. Bis spater.“

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