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Am Forschen für die Wirtschaft: Einst war Berlin die größte Industriestadt Deutschlands, jetzt dominieren Dienstleistungen und Tourismus. Doch die Zeiten stehen auf Wandel: Berlin hat sich als Start-up-Metropole etabliert und zieht Kreative aus aller Welt an. Bis 2030 könnte die Stadt eine neue Industrialisierung schaffen - im Bereich neuer Technologien und einer auf Forschung basierenden Produktion in der Pharmaindustrie.

© dpa

Berlin 2030 - Unsere Serie blickt in die Zukunft (5): Freie Fahrt auf der Silicon Alley

Weltweit wird Berlin als Standort für Start-ups gefeiert. Damit daraus wirtschaftlicher Erfolg erwächst, braucht es eine neue Industrie. Heute dominieren noch Dienstleistung und Tourismus, doch die Zeichen stehen auf Wandel.

Die Zukunft der Stadt befindet sich in einem tristen Hinterhaus, dritte Etage. Gelegen im unentschlossenen Teil von Berlin-Mitte zwischen dem Naturkundemuseum, wo der Putz von der historischen Fassade bröckelt, und den sterilen Bürobunkern am Nordbahnhof. Ijad Madisch empfängt in einem kargen Besprechungsraum, weiße Pressspanmöbel, es riecht nach Lösungsmitteln.

All das wird zur Nebensache, wenn Madisch loslegt. Er spricht nicht, er sprüht. Vor Ideen, vor Energie, vor Revolutionslust. „Wir wollen die Art und Weise, in der Daten in der Wissenschaft veröffentlicht werden, revolutionieren“, sagt der 32-Jährige. Weltweit, versteht sich. Die Firma „Researchgate“, die der studierte Mediziner und zwei weitere Geschäftsführer in den vergangenen fünf Jahren aufgebaut haben, soll eine Art Facebook für Forscher werden. Nicht irgendein soziales Netzwerk, sondern das soziale Netzwerk, das alle nutzen, auf dem alle ihre Ergebnisse publizieren und diskutieren. „Wir sind auf dem besten Weg“, sagt Madisch. 2,8 Millionen Mitglieder haben sie schon, das ist rund ein Drittel aller Wissenschaftler der Welt. Hochrechnungen zufolge werden in zwei Jahren praktisch alle dabei sein. Konkurrenz? „Gibt es eigentlich keine mehr“, sagt er selbstbewusst.

Madisch ist einer von den Typen, die für einen neuen Wirtschaftszweig in der Stadt stehen, der bisher kaum auffiel. Start-ups. Gegründet von jungen Leuten mit pfiffigen Ideen, die Geldgeber und schließlich tausende oder gar Millionen Kunden begeistern. Rund 2500 Internetfirmen wurden hier in den letzten fünf Jahren gegründet.

"Wenn die Idee gut ist, bekommt man in Berlin auch das Geld von Investoren", sagt Ijad Madisch - Geschäftsführer und Gründer von "Researchgate".
"Wenn die Idee gut ist, bekommt man in Berlin auch das Geld von Investoren", sagt Ijad Madisch - Geschäftsführer und Gründer von "Researchgate".

© Mike Wolff/ TSP

Gewiss, nicht alle glückten. „Aber die Entwicklung geht gerade erst los“, sagt Madisch. „Berlin hat das Potenzial, die Gründerhauptstadt zu werden.“ Die Researchgate-Macher haben sich jedenfalls gegen San Francisco als Zentrale entschieden und für Berlin, wo mittlerweile 100 Leute aus den verschiedensten Nationen am Wissenschafts-Netzwerk arbeiten. Weil es hier so preiswert ist und zahlreiche kreative Leute aus aller Welt zu finden sind.

Weltweit wird Berlin als eine der angesagtesten Städte für Start-ups gefeiert. Die „New York Times“ bezeichnete die Stadt bereits als Silicon Alley – und nahm unverhohlen Bezug auf das Silicon Valley. Dem Land von Facebook, Twitter und Ebay. Erfolgreiche Firmen, deren Geldgeber aus früheren Jahren heute zum Teil auch Berliner Gründer unterstützen. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Microsoft-Gründer Bill Gates in Researchgate investiert. Darum fällt es Madisch vielleicht auch besonders leicht, zu sagen: „Manchmal werden auf Podiumsdiskussionen Forderungen gestellt, nach Kapital, Büros, und weiß der Kuckuck was. Das ist Mumpitz. Wenn die Idee gut ist, bekommt man auch das Geld von Investoren.“ Die Politik solle sich nicht ins operative Geschäft einmischen, meint der Gründer. Dafür aber mehr Werbung für die Internetszene der Stadt machen und sich nicht nur als „Kunst- und Wissenschaftsstandort“ präsentieren.

Peter Seeberger ist ein völlig anderer Typ. Nicht so aufgekratzt, ruhig und überlegt, er schafft es weitaus besser, Sätze ohne Businessenglisch zu bilden, obwohl auch er jahrelang in Boston gelebt hat. Der 46-Jährige war dort Chemieprofessor am renommierten Massachusetts Institute of Technology und kam nach einer Station an der ETH Zürich in die Region Berlin-Brandenburg – „das ist für mich alles eins“ –, wo er Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung und Professor in Potsdam ist sowie Leiter einer Arbeitsgruppe an der Freien Universität in Berlin-Dahlem. Und Gründer von mittlerweile vier Firmen, die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in kommerzielle Anwendung bringen. Aktuell geht es um ein neues Verfahren, das die Herstellung von Malariamedikamenten deutlich preiswerter machen soll.

„Madisch hat recht“, sagt Seeberger. „Öffentliches Geld ist für junge Firmen genug vorhanden, da ist die Lage hier in Deutschland sogar noch besser als in den USA.“ Die Probleme liegen eher woanders. „Privates Kapital ist hier ebenfalls da, aber es gibt noch nicht diese Tradition, in junge Firmen zu investieren“, sagt er. Im Gegensatz zu Internetfirmen brauche es in der Chemie auch größere Summen. Je nachdem, wie aufwendig die Apparate sind und welche Räume benötigt werden, stünden unterm Geschäftsplan schnell ein paar Millionen Euro.

"Wir werden in Zukunft nur noch wenige große Firmen haben und viele kleine, innovative Firmen, die neue Ideen voranbringen."

Investitionen, die sich oftmals lohnen und die dringend nötig sind, wie Seeberger findet. „Gerade in der Pharma- und Biotechnologiebranche hat die Region ein unglaubliches Potenzial, das noch nicht genügend genutzt wird“, sagt er. In der gesamten westlichen Welt lasse sich beobachten, dass die Pharmaindustrie in einer Krise stecke, Arbeitsplätze verliere, auch hier in Berlin. „Wir werden in Zukunft nur noch wenige große Firmen haben und viele kleine, innovative Firmen, die neue Ideen voranbringen.“ Berlin biete hervorragende Bedingungen für diese quirligen Technologietreiber, sagt Seeberger: eine sehr gute Forschungslandschaft an den Unis sowie außeruniversitären Einrichtungen wie etwa den Max-Planck-Instituten. „Das betrifft die Grundlagenforschung, aber auch die klinische, gerade mit der Charité stehen wir sehr gut da.“

"Es gibt unglaublich gute Forschung hier, aber viel zu wenig wird in marktfähige Produktion überführt", sagt Peter Seeberger - Professor, Gründer und Direktor eines Max-Planck-Instituts.
"Es gibt unglaublich gute Forschung hier, aber viel zu wenig wird in marktfähige Produktion überführt", sagt Peter Seeberger - Professor, Gründer und Direktor eines Max-Planck-Instituts.

© Doris Spieckermann-Klaas

Aus seiner Sicht müsste an der Schnittstelle zwischen den Instituten und der freien Wirtschaft noch mehr passieren. „So ist es in den USA üblich, dass Hochschullehrer eigene Firmen ausgründen, hier gibt es noch viele Berührungsängste.“ Den Vorwurf, öffentlich geförderte Forschung werde zum Eigennutz vermarktet, lässt Seeberger nicht gelten. „In anderen Ländern werden die Unis an Patenten oder Firmen beteiligt, sie verdienen langfristig ebenfalls mit. Und zwar mehr, als wenn sie die Kommerzialisierung von Forschungsergebnissen verhindert hätten.“ Vorausgesetzt, ein Erfinder an der Hochschule weiß überhaupt, wie nützlich seine Idee ist. Vielleicht hat sie eher ideellen Wert, vielleicht kann sie auch viel Geld einbringen. Dafür seien Agenturen nötig, die die Wissenschaftler beraten und sehr kompetente, also teure, Patentanwälte, die sich darum kümmern, das geistige Eigentum zu schützen. „So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht“, kritisiert der Forscher und Gründer. „An manchen Fakultäten sind für diesen Technologietransfer gerade zwei Leute da – das können die gar nicht in der erforderlichen Qualität leisten.“

Aus Seebergers Sicht hat die Wissenschaftsstadt noch einiges vor sich. „Es gibt unglaublich gute Forschung mit unglaublich guten Ergebnissen hier, aber viel zu wenig wird in marktfähige Produkte überführt.“ Gerade für seine Branche kann er sich gut vorstellen, dass Hightech-Chemie wieder eine Zukunft in der Stadt hat und die Konkurrenz in Fernost nicht zu scheuen braucht.

Dazu müsste die Stadt aber auch bereit sein. Und daran haben Seeberger wie Madisch manchmal ihre Zweifel. Ihre Mitarbeiter aus vielen Ländern sind nicht nur wegen des Jobs hier, haben sie festgestellt, sondern auch weil die Stadt ein toller Lebensmittelpunkt ist. „Günstige Mieten, Kunst, Kultur, alle erdenklichen Sportarten“, sagt Madisch. „Man ist nie gesättigt, immer wieder ist etwas Neues da. Das treibt gerade die Leute der Kreativbranche an.“

Und im Alltag könne man ganz gut mit Englisch durchkommen, sagen beide. Nur nicht bei Behörden. Da wird der Besuch beim Bürgeramt zur Tortur. Bei Researchgate übernimmt den jetzt eine „Feel Good Managerin“ für die Mitarbeiter. Auch an der Uni könnte es nicht schaden, mehr Englisch zu sprechen, findet Seeberger. „Und vor allem sollten wir mehr tun, um die talentierten Leute aus dem Ausland, die hier studieren, auch zu halten. Die lassen wir viel zu schnell gehen und merken dabei gar nicht, was uns entgeht.“

Dennoch sind sowohl Madisch als auch Seeberger überzeugt, dass Berlin in ihren jeweiligen Branchen den Sprung nach vorn bewältigen kann. „Bis 2030 sind noch 17 Jahre Zeit, das ist eine realistische Perspektive, um das zu schaffen“, sagt der Internet-Unternehmer und sieht die Stadt bereits zum zweiten San Francisco reifen. Auch Seeberger glaubt an Berlin. Er drückt das aber etwas anders aus: „Wir müssen die Hightechindustrie wieder hierherbringen. Nur noch Verwaltung und Forschungseinrichtungen, das sind an sich doch Zuschussgeschäfte. Wir brauchen eine Wertschöpfung, die auch wieder Steuergeld in das System bringt.“

Die Hauptstadtregion, ihre Chancen, ihre Herausforderungen - Unsere Serie "Berlin 2030" blickt in die Zukunft. Nächste Folge am Freitag, 14. Juni: Dann geht es um Bürger und Gesellschaft.

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