zum Hauptinhalt
In einem Gebäude: Ein Bürgeramtschild, daneben ein Clown und eine Frau, die nicht lacht.

© Robert Schlesinger dpa

Berlin 2030 - Unsere Serie blickt in die Zukunft (6): Die Trutzburg wird zum Glaspalast

In der Zukunft haben selbstbewusste Bürger in einer transparenten Verwaltung mehr Möglichkeiten, aktiv mitzumachen. Noch sind die Dienstleistungen überschaubar, die von zu Hause aus erledigbar sind, doch es werden mehr.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Es war ein Ort des Schreckens, das rote Backsteingebäude in der Jüterboger Straße. Über Jahrzehnte wusste jeder Berliner, der die KFZ-Zulassungsstelle betrat, dass er frühestens nach vier Stunden die Kreuzberger Trutzburg verlassen würde. Aber selbst dort ist der Bürger, der ein Kennzeichen fürs Auto braucht, inzwischen ein schnell bedienter Kunde. „Die Lage hat sich sehr entkrampft“, sagt Udo Rienaß. Bevor der Abteilungsleiter in der Senatsinnenverwaltung kürzlich in den Ruhestand verabschiedet wurde, hat er sich über 48 Jahre um die Reform der Berliner Verwaltung gekümmert.

Ein Mann mit grauen Haaren und Brille und weißem Bart im schwarzen Anzug mit rosafarbener Krawatte.
"Die virtuelle Behörde, 24 Stunden erreichbar und transparent: Das ist die Zukunft", sagt Udo Rienaß, ehemaliger Abteilungsleiter in der Senatsinnenverwaltung.

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Er hat die Anfänge miterlebt von dem, was heute „Bürgerservice“ genannt wird. Die öffentliche Verwaltung nicht mehr als Selbstzweck, als Behausung für Beamte mit Ärmelschonern. Ende der sechziger Jahre wurden erstmals frühe Formen der elektronischen Datenverarbeitung getestet, mutige Pioniere probten ein einheitliches Dienstrecht und bildeten Mitarbeiter fort. Das Bezirksamt Wedding war Vorreiter beim Versuch, die Bürger als Menschen zu begreifen, die „vom Amt“ berechtigterweise etwas begehrten. Etwa einen neuen Personalausweis. Doch erst nach dem Mauerfall, als die Reform der Verwaltung durch den Vereinigungsprozess einen kräftigen Schub bekam, entstand das erste Bürgeramt. Als Pilotprojekt in Weißensee.

„Im Osten konnten wir neu aufbauen“, sagt Rienaß. Ohne allzu große Rücksicht auf tradierte Behördenkulturen. Daraus entstand ein flächendeckendes Netz von Bürgerämtern, onlinegestützt. Aber erst 2006 traute sich der Senat, den Begriff von der „Service-Stadt Berlin“ zu prägen. „Wesentlich darauf gerichtet, den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen für Bürger und Wirtschaft zu optimieren“, sagt Rienaß. „Ob das immer gelungen ist, da setzen wir mal ein Fragezeichen, aber der Weg ist grundsätzlich richtig.“ Das Bürgertelefon 115, als zentraler Zugang zu den Berliner Ämtern, hat sich etabliert. Für Unternehmer gibt es einen breit gefächerten Online-Gewerbeservice. Grundstückswerte und Melderegisterauskünfte sind via Internet zugänglich, viele Formulare lassen sich herunterladen.

Noch sind die Dienstleistungen überschaubar, die von zu Hause aus erledigbar sind, doch im Wettbewerb mit anderen Städten steht Berlin ganz gut da. Allein die Terminvergabe per PC oder Smartphone-App für einen Besuch im Bürgeramt macht Stadträte anderswo neidisch. Die virtuelle Behörde, rund um die Uhr erreichbar und transparent: Das sei, sagt Rienaß, die Zukunft der öffentlichen Verwaltung. Jenseits trister Warteräume in den Rathäusern. In seinem Büro hängt ein Plakat, mit vielen bunten Kästchen und Pfeilen und der Überschrift: „Verwaltung 2030“. Ein E-Government-Gesetz des Bundes soll ab 2014 die Basis für eine digitale, verschlüsselte Kommunikation zwischen Bürgern und Behörden sein, mit rechtssicherer Identifizierung des Absenders und elektronischem Bezahlsystem.

Ohne eine gute IT-Ausstattung der Ämter geht das nicht. Bei der Qualität und Einheitlichkeit, vor allem der normalen Büro-Software, die für alle Mitarbeiter jederzeit nutzbar sein und den Austausch zwischen den Dienststellen problemlos herstellen sollte, besteht Nachholbedarf. Auch die elektronische Aktenführung bleibe „eine Herausforderung“, so Rienaß. Das Ziel ist die „medienbruchfreie Kommunikation“, verwaltungsintern und mit den Bürgern: Vollelektronisch, ohne zwischendurch den Drucker und Scanner bemühen oder Briefe in den Postkasten werfen zu müssen.

Doch die Bürger sind nicht nur Kunden staatlicher Dienstleistungen. Viele wollen ihr Lebensumfeld aktiv mitgestalten – im Kiez und landesweit. Immerhin hatte schon Freiherr vom Stein in der Preußischen Städteordnung von 1808 die „wirksame Teilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens“ gefordert, um „Gemeinsinn zu erhalten und zu erregen“. Zwei Jahrhunderte später sind wir dem Ideal ein Stück nähergekommen. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es in Berlin eine in der Verfassung verankerte Volksgesetzgebung.

Junge Frau mit dunklen Haaren im grauen T-shirt.
"Liquid Democracy ist eine Ergänzung, kein Ersatz des repräsentativ demokratischen Systems", sagt Jennifer Paetsch, Mitbegründerin des Vereins.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Demokratieverständnis der DDR-Bürgerbewegung lieferte dafür nach der Wende starke Impulse. Nicht nur das Abgeordnetenhaus als repräsentative Vertretung, die alle fünf Jahre neu gewählt wird, sondern die wahlberechtigten Bürger selbst können seitdem jederzeit Landesgesetze per Volksbegehren beschließen, verändern oder abschaffen. Und auf bezirklicher Ebene können sie per Bürgerbegehren die Bezirksverordnetenversammlung ersetzen.

Das sagt sich leichter, als es getan ist. Das Verfahren ist aufwendig, langwierig und mit relativ hohen gesetzlichen Hürden versehen. Von den 23 abgeschlossenen Volksbegehren in Berlin scheiterten 18. Nur zwei wurden vom Parlament freiwillig übernommen (mehr Personal für Kitas, längere Öffnungszeiten für Schankvorgärten) und drei Begehren mündeten in einem Volksentscheid. Jetzt kommt mit der Forderung nach einer Rekommunalisierung des Stromnetzes ein vierter Entscheid hinzu. Erfolgreich war nur die Abstimmung über die Offenlegung der Verträge zur Privatisierung der Wasserbetriebe. In den Bezirken wurden bisher 32 Bürgerbegehren organisiert, von denen neun zur Abstimmung kamen. Direkte Wirkung zeigten nur zwei Bürgerentscheide: In Spandau gelang es, fast alle Jugendeinrichtungen vor Sparmaßnahmen zu retten. Und in Charlottenburg-Wilmersdorf wurde die Einrichtung neuer Parkzonen verhindert.

Seit 25 Jahren treibt der Verein „Mehr Demokratie“, mit seinem Hauptsitz im Berliner „Haus der Demokratie und Menschenrechte“ die Volksgesetzgebung voran. Auch in der Tradition der „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“, die schon 1971 vom Künstler Joseph Beuys gegründet wurde. Einiges wurde bewegt seitdem. Aber nicht genug, meint Jennifer Paetsch. Die Psychologin, die an der Humboldt-Uni über Sprachförderung für Kinder forscht, findet es „unbefriedigend, bei Volks- und Bürgerbegehren nur Ja oder Nein ankreuzen zu dürfen“.

Auch deshalb hat sie 2009 den Verein „Liquid Democracy“ mitgegründet. Zeitweise in Kooperation mit „Mehr Demokratie“ und den Piraten. „Aber wir sind überparteilich“, betont Paetsch. Ihr gemeinnütziger Verein will helfen, gesellschaftliche Teilhabe und Meinungsaustausch zu organisieren. Die Software „Adhocracy“, auf der gleichnamigen Internetplattform, ist gratis nutzbar. Orts- und Kreisverbände von Parteien, aber auch Kommunen von Lüdinghausen bis Regensburg probieren die neuen Formen „flüssiger Demokratie“ schon aus: Vorschläge machen, diskutieren, Anträge stellen und gemeinsam bearbeiten, Delegierte für Abstimmungen im Netz bestimmen. Bürgerbeteiligung als ständiger Prozess. „Eine Ergänzung, kein Ersatz des repräsentativ-demokratischen Systems“, sagt Paetsch.

„Liquid Democracy“ ist noch ein Experiment, wissenschaftlich seriös begleitet. In Berlin fanden sich bisher nur vereinzelt Interessenten. Etwa das Herder-Gymnasium, um schulische Aktionen anzustoßen. Größter Erfolg war bislang die Online-Bürgerbeteiligung als 18. Sachverständiger der Bundestags-Enquetekommission „Internet und Digitale Gesellschaft“. „Anfangs waren die Abgeordneten sehr skeptisch, am Ende wurden viele Vorschläge übernommen“, sagt Paetsch. Sie nennt das „direkten Parlamentarismus“. Politik und Verwaltung nicht mehr als Trutzburg, sondern als transparenter Glaspalast. Das könnte doch auch dem Berliner Abgeordnetenhaus und dem Senat einen Versuch wert sein.

Reformen überall: So machen es andere

Bürgerämter sind keine Berliner Erfindung. Die ersten Servicestellen mit dem Anspruch „Alles aus einer Hand“ entstanden in den achtziger Jahren in Unna und Bielefeld, Kassel und Heidelberg. Erst nach der Wende setzten sich Bürgerämter bundesweit durch. Auch andere Konzepte für eine moderne Verwaltung schauten sich Städte und Gemeinden gegenseitig ab. Wobei die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt), der Deutsche Städtetag und die Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer treibende Kräfte des Reformprozesses in Städten und Gemeinden sind.

Von der Kosten- und Leistungsrechnung über Personalentwicklung, Kundenorientierung bis zum digital funktionierenden Amt. Seit 2010 gibt es auch eine Nationale E-Government-Strategie, entwickelt vom IT-Planungsrat. Denn die Vernetzung von Administration, Politik und Bürgern lässt sich nicht mehr lokal oder regional planen und realisieren. Konkrete Ergebnisse sind beispielsweise die Behördennummer 115 und der Online-„Behördenfinder Deutschland“.

Die Hauptstadtregion, ihre Chancen, ihre Herausforderungen - Unsere Serie "Berlin 2030" blickt in die Zukunft.

Zur Startseite