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Wer jenseits der bekannten Sehenswürdigkeiten in Berlin die Augen offen hält, entdeckt die wahren Schmückstücke der Stadt.

© Konstantin Pasko

Berlin aus der Sicht einer russischen Austauschstudentin: Die Stadt der versteckten Orte

Kaum eine Stadt in Europa zieht so viele Touristen an wie Berlin. Aber warum? Am besten kann diese Frage natürlich ein Ortsfremder beantworten: wie unsere aus Russland stammende Tagesspiegel-Praktikantin Indira Valeeva, die sich in die Stadt verliebt hat – wenn auch erst auf den zweiten Blick.

Auf den ersten Blick hat mich Berlin nicht begeistert. Es gibt weder eine echte Altstadt – und russische Touristen lieben europäische Altstädte –, noch gibt es Fachwerkhäuser oder Wolkenkratzer. Selbst schicke Riesen-Schlösser sind Mangelware.

Es gibt nicht einmal ein Stadtzentrum. Für Moskauer ist das unverständlich: unsere Stadt ist rund, und was rund ist, hat immer auch ein Zentrum. Alle Wege Russlands fangen am Roten Platz in Moskau an. Warum? Moskau ist in alle Bereichen die wichtigste Stadt des Landes. Berlin dominiert hingegen nur in zwei Bereichen – Armut und Sexualität.

Berlin ist einfach, minimalistisch. Statt einer prächtigen Metro, an die wir Moskauer gewöhnt sind, ist die Stadt von unauffälligen U- und S-Bahnen durchschlitzt. Wer in Moskau die Metro betritt, betritt eine andere Welt, irgendwo tief unten.

Berlin besteht aus unabhängigen, kleinen Welten – dem Hipster-Paradies Prenzlauerberg, dem grünen Weißensee, dem flotten Kreuzberg, dem multikulturellen Neukölln, dem alternativen Friedrichshain, dem sowjetischen Treptow, dem lärmenden Kurfürstendamm und ruhigem Zehlendorf. Jeder Kiez ist so einzigartig und ungewöhnlich, dass man nichts anderes zum Leben braucht. Moskau besteht hingegen nur aus zwei Stadtteilen: dem Zentrum und dem Drumherum. Letzteres wird auch der „Schlafbezirk“ genannt. Langweilig und monoton ist es dort. Man fährt abends hin und morgens wieder ins Zentrum. „Kiez“, dieses überaus nette Wort, werde ich, kaum dass ich wieder in Moskau bin, vermissen.

In Berlin gibt es einfach alles, sogar das, was in vielen anderen Städten verboten ist: Ein Flüchtlingszeltcamp etwa, Frauen in rosa Lackstiefeln am Straßenrand, Graffiti an jeder Ecke, Hunde in Cafés, Nudisten und natürlich Regenbogenfahnen, die in Russland mittlerweile verboten sind.

Die echten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt sind weder das Brandenburger Tor noch der Reichstag, der Deutsche Dom, die Museumsinsel oder der Fernsehturm. Das sind lediglich Orientierungspunkte. Die wahren Schätze Berlins verstecken sich in den engen Gässchen und kleinen Innenhöfen, von denen kein Reiseführer weiß. Wer das echte Berlin kennen lernen will, muss sich als Entdecker üben, wie ein Dichter durch die Parks dieser Stadt schlendern – allein, und trotzdem niemals einsam.

Indira Valeeva

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