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Buntes Ost-Berlin. Rund 1000 Abbildungen aus dem Bestand der Bildagentur Picture Alliance enthält der im Elsengold-Verlag herausgebrachte Fotoband über die Hauptstadt der DDR.

© Repro: Mike Wolff

Berlin-Bücher: Ein Fotoband über den Alltag im sozialistischen Ost-Berlin

Für viele sind Narva-Glühlampen, der Kulturpark Plänterwald, HO und FDJ-Fanfarenzug unvergessen. Ein dickleibiger Fotoband dokumentiert den Alltag im sozialistischen Ost-Berlin.

Irgendwie ist ja alles schon mal da gewesen. Auf Seite 119 stoßen wir auf ein Foto mit einer Baustelle. Die große Grube ist ausgehoben, im Hintergrund hockt der Berliner Dom, links daneben würdevoll das Alte Museum. Das Bild entstand 1973: ein Blick auf die Baustelle des Palasts der Republik. Heute könnte man die gleiche Szenerie ablichten: Tiefbau für ein Schloss als neuerlichen Protzbau in Berlins Mitte. Wie sich die Bilder gleichen!

In den vergangenen 40 Jahren ist in Berlin viel passiert, es gab eine kleine Revolution, die die Stadt radikal veränderte, vor allem den Ost-Teil. Der war 41 Jahre lang die Hauptstadt eines seit 1990 verschwundenen Staates. Doch vieles, was sich bis zum Mauerfall in diesem Teil Berlins ereignete, im sogenannten Demokratischen oder Russischen oder Sowjetischen oder Ost-Sektor, also der Hauptstadt der DDR, ist allen Beteiligten noch ziemlich geläufig. Es bedarf nur mehr einschlägiger Witze, Erzählungen, eigener Erinnerungen oder unvergilbter Fotos, damit es klingklangklong macht: Weißt du noch? Das hat nichts mit Nostalgie zu tun, sondern mit einem kurzen Blick zurück beim Spazieren auf neuen Wegen. Da fragt man sich doch manchmal: Wo kommen wir her? Was haben wir erlebt? Was war schön, was nicht?

So ähnlich glüht die Erinnerung beim Blättern in dem kiloschweren Wälzer, der jetzt von dem neuen Elsengold-Verlag (Elsengold = Goldelse!) in die Buchhandlungen kommt: Die Fülle des Materials (über 1000 Bilder) ist so aufbereitet, dass auch alle anderen Deutschen, die nicht mit ihrer Hausgemeinschaft bei Rotkäppchen-Sekt auf Ost-Berliner Balkons saßen, etwas davon haben – einen Blick in dieses seltsame Land, das nicht Deutschland sein sollte, aber doch immer irgendwie blieb. Die Fotos sind keine zusammengewürfelten Amateurknipsereien, sondern zumeist Produkte von Profis, teils bislang unveröffentlichte Dokumente dafür, dass sich der gute Fotoreporter auch in der DDR den Blick für das besondere Detail und den gewissen Moment bewahrt hat. Picture Alliance, der Herausgeber, ist eine Tochter der Deutschen Presseagentur und hat ein Archiv mit fast 30 Millionen Grafiken, Videos und Fotos, darunter jenen von „Zentralbild“, der Bildagentur der DDR. Im Mittelpunkt der acht Kapitel stehen die Ost-Berliner: ihr Aufbauwerk, Kunst, Arbeit, Freizeit und Politik. Wie in einem privaten Album entblättert sich das Leben. Das geht manchmal wild und beliebig durcheinander, Stichworte illustrieren den fotografierten Sachverhalt, auf S. 173 zum Beispiel „Kinder auf einem Spielplatz“, „Vorlesen“ (Mann mit Kind und Buch), „Kunstunterricht“ oder „Jugendweihe“. Es wird viel gelächelt, gesungen und getanzt, „unsere Menschen“ sind ganz schön auf Zack – der Publizist Jens Kegel schreibt, warum und wieso es nicht ganz so rosig war, wie es scheint.

Es beginnt mit der Stunde null: Wie unsere Eltern, vor allem die Mütter, den Trümmerhaufen Berlin, diese „Radierung Churchills nach einer Idee Hitlers“ (Brecht), beiseitegeräumt haben. Diese Stadt hat nie resigniert. Sie hat aus Niederlagen Kraft bezogen. Gegen die Mauer kam freilich nur die freche Berliner Lästerzunge an, mehr nicht. Das Leben ging seinen sozialistischen Gang – bis die abgebauten Mauerteile auf der Straße lagen und das große Schreddern kam.

Mit diesem letzten Bild endet das Kompendium, ein Bilder- und ein Märchenbuch, von allem etwas, ein Kessel Buntes aus dem Fotoalbum des DDR-Lebens. Und ein Beleg dafür, was Berlin abhandengekommen ist: der Kulturpark Plänterwald, Narva-Glühlampen, das Sport- und Erholungszentrum, VEB Treffmodelle, HO, Kisch-Café Unter den Linden, Nante-Eck, Tanztee im Lindencorso, Granit-Lenin, FDJ-Fanfarenzug und so weiter. Nun könnte der nächste Band folgen: Leben in Berlin ab 1990. Dann aber bitte mit einem schickeren Titelbild. Denn so dröge wie die Szene von 1966 Unter den Linden war der Alltag im Osten ja nun auch wieder nicht!

Jens Kegel: Leben in Ost-Berlin. Alltag in Bildern 1945–1990. Elsengold-Verlag, Berlin. 480 Seiten, rund 1000 Abbildungen, 49,95 Euro. Erhältlich auch im Tagesspiegel-Shop, Askanischer Platz 3, Mo – Fr, 9 bis 18 Uhr

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