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Märchenonkel. Rainer-Mathias Beck hat in 20 Berufsjahren als Arzt im Bereitschaftsdienst hunderte Berliner in allen Bezirken besucht. Was er dort vorgefunden hat, nennt er das „Wurzelgeflecht der Stadt“ – und hat daraus nun Kurzgeschichten gemacht.

© Georg Moritz

"Berlin liest" beim Internationalen Literaturfestival: Schaurige Geschichten vom Märchenonkel

Zum Start des Literaturfestivals tragen am Mittwoch in der ganzen Stadt Berliner aus ihren Texten vor. Auch ein Arzt in Rente ist dabei. Seine Geschichten sind recht gruselig.

Man könnte ihn glatt für einen Märchenonkel halten. Und ein bisschen will er das ja auch sein. Rainer-Mathias Beck erscheint im weißen Leinenjackett, rotem Polo-Shirt und brauner Cordhose. Und dann ist da dieser weiße Rauschebart. Doch sein Buch, aus dem der 70-jährige Schöneberger im Rahmen der Lesereihe „Berlin liest“ des Internationalen Literaturfestivals Berlin vorlesen wird, handelt von etwas ganz anderem. Beck nennt es „das Wurzelgeflecht der Stadt Berlin“ oder „eine Schattenwelt“.

In 20 Berufsjahren als Arzt im Bereitschaftsdienst hat Rainer-Mathias Beck Hunderte Berliner Wohnungen in sämtlichen Bezirken besucht und dort die unterschiedlichsten Patienten vorgefunden. Als er dieses Jahr in den Ruhestand ging, hat er sofort angefangen, seine Geschichten zusammenzutragen. 45 sind es insgesamt geworden – mit teils recht schaurigem Inhalt. Im Oktober veröffentlicht er sie im Selbstverlag.

Zuvor schon hat Rainer-Mathias Beck Gelegenheit, ausgewählte Passagen einem Berliner Publikum vorzutragen. Zum diesjährigen 14. Berliner Literaturfestival gibt es zum Auftakt am 10. September wieder die Vorlesereihe „Berlin liest“. Jeder Berliner kann 15 Minuten lang aus einem selbst gewählten Text an einem selbst gewählten Ort vorlesen – ob am Alexanderplatz, im Park, an einem Denkmal oder im eigenen Vorgarten. Zentrale Lesestation ist die Bibliothek Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt Universität in Mitte, wo auch Beck Auszüge aus seinem Buch „Krankheit schläft nicht“ vortragen wird.

Erlaubt sind alle Sprachen bei „Berlin liest“

Wurde er zum Einsatz als Bereitschaftsarzt gerufen, erfuhr er zunächst nur Name und Wohnort. Alles andere offenbarte sich erst vor Ort. „Ich war schon immer neugierig, was sich hinter all den verschlossenen Berliner Wohnungstüren so abspielt“, sagt er. Welche Geschichten er erzählt, hat er noch nicht entschieden. Es könnte etwa die aus der Kreuzberger Wohnung sein, deren Mieter seine zwei Dobermänner auf Beck jagte. Der hatte dem Patienten nicht die gewünschten Schmerzmittel verschrieben. Oder die Geschichte des an einer Grippe erkrankten Mannes, der sich aus Angst vor einer Aspirinspritze unter dem Bett versteckte.

Auch Feride Funda Gençaslan ist noch am Überlegen, für welche Erzählung sie sich entscheiden wird. Die Mitarbeiterin des Neuköllner Sufi-Zentrums wird ebenfalls im Grimm-Zentrum lesen, aus dem Erzählband „Vogelgespräche“ des persischen Dichters Fariduddin Attar. Ob sie auf Deutsch lesen wird oder abwechselnd auf Deutsch und Türkisch, weiß sie auch noch nicht – erlaubt sind alle Sprachen bei „Berlin liest“. Eins ist ihr jedoch klar: Mit ihrem Einsatz möchte sie Menschen dazu anregen, mal wieder ein Buch in die Hand zu nehmen. „Weil es das innere Sehen und das innere Hören anregt“, sagt sie. „Das stumpft in letzter Zeit ja zunehmend ab.“

Anja Chrzanowski kennt diese Problematik nur zu gut. Ihre Schüler haben sich schon während der Ferien freiwillig auf ihre Vorträge im Grimm-Zentrum vorbereitet. Sie lesen aus Heinrich Heines Gedicht „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und „Peterchens Mondfahrt“ von Gerdt von Bassewitz.

Zukunft als Märchenonkel

Seit sechs Jahren leitet die 44-jährige Deutschlehrerin vom Buckower Campus Efeuweg einen Literaturklub an der Schule, zu dem inzwischen mehr als 30 Schüler gehören. In Zweiergruppen lesen sie einmal pro Woche in einer sozialen Einrichtung vor: im Krankenhaus, im Seniorenheim, im Kindergarten – und haben damit schon jede Menge Auszeichnungen wie den Deutschen Vorlesepreis bekommen. Chrzanowski sagt: „Viele meiner Schüler wussten ja gar nicht, wie viele Bücher es eigentlich gibt. Die haben teilweise nicht mal ein einziges Buch zu Hause.“ Anfangs hätten die Jugendlichen bei ihrer Frage, wer Lessing kenne, noch gefragt: „Schmeckt das?“ Inzwischen begeistern sich die Siebt- bis Zehntklässler sogar für Shakespeare. „Durch das Lesen erhalten die Schüler einen ganz anderen Horizont“, sagt sie. Sätze wie „ich geh Turnhalle“ höre sie immer seltener.

Auch der Bereitschaftsarzt im Ruhestand, Rainer-Mathias Beck, hat sich schon immer um die Erzähltradition gekümmert – beim Spazierengehen mit den beiden Zwillingstöchtern. „Ich musste mir immer Geschichten ausdenken, damit sie weitergehen“, erzählt er grinsend. Jetzt sind die beiden über 30 Jahre alt. Doch gerade ist Beck zum ersten Mal Opa geworden. Damit hat er trotz des Hangs zu seinen teils recht gruseligen Krankheitsgeschichten wohl doch noch eine Zukunft als Märchenonkel.

Das Internationale Literaturfestival Berlin findet vom 10. bis 20. September statt. Die große Leseperformance am 10. September beginnt um 6 Uhr und endet um 17.30 Uhr – eine halbe Stunde vor der Eröffnung des ilb im Haus der Berliner Festspiele. Weitere Infos unter www.literaturfestival.com

Lesen für Snowden

Unter dem Titel „Freiheit und Anerkennung für Edward Snowden“ hatte das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) für Montagabend dazu aufgerufen, Lesungen für den US-amerikanischen Whistleblower zu veranstalten. Bürgerinnen und Bürger sollten sich schon vor dem Start des eigentlichen Festivals „für einen Mann beteiligen, der der Menschheit einen großen Dienst erwiesen hat“, begründete das ilb seinen Aufruf. Vorgelesen werden sollten Texte zum Thema Überwachung. Für Berlin waren acht Veranstaltungen zu dem Thema geplant.

Unter anderem beteiligte sich der SPD-Abgeordnete Daniel Buchholz in seinem Bürgerbüro in Siemensstadt. „Der Saal war voll“, sagte Buchholz. Nach der Lesung sei angeregt diskutiert worden. Auch im Zehlendorfer Nachbarschaftsverein Papageiensiedlung war eine Lesung geplant. Im Event-Café „Touch-Your-Soul“ in der Paul-Schneider-Straße 22 in Lankwitz sollten Auszüge aus Interviews mit Edward Snowden, Texte aus seinem Manifest und weiteres Material zu den Aufdeckungen des Whistleblowers gelesen werden – ins Deutsche übersetzt.

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