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Was von der Mauer übrig blieb, lässt sich in der East-Side-Gallery bestaunen.

© Mike Wolff, TSP

Berlin nach der Mauer: "Eine Erfahrung, die das Erzählen notwendig macht"

Ist die Mauer noch immer in den Köpfen? Nein, meinen die Schriftsteller Katja Lange-Müller und Ingo Schulze. Die Prägung aber bleibt an Menschen haften.

Katja Lange-Müller erinnert sich noch gut an den Bau der Mauer, obwohl sie damals erst zehn Jahre alt war. Sie verbrachte mit ihren Eltern die Sommerferien in Bulgarien, da hörte sie, dass „den Schiebereien und der Abwanderung in den Westen ein Riegel vorgeschoben werden sollte“, so jedenfalls versucht sie heute die damalige halboffizielle Sprachregelung wiederzugeben. Die Schriftstellerin sitzt an einem trüben Januarnachmittag in ihrer Wohnung in Wedding, unweit vom Leopoldplatz.

Hier wohnt sie schon länger, so wie sie überhaupt seit ihrer Ausreise 1984 in den Westen fast immer in Wedding gewohnt hat. Beschäftigt jedoch hat sie der Mauerbau in Bulgarien zunächst nicht groß. Wichtiger seien ihr dort die schwarzen Oliven gewesen, die sie so lecker gefunden und dort erstmals gegessen habe, „allerdings in dem Glauben, es seien Backpflaumen“.

Richtig zu Bewusstsein kam ihr der historische Einschnitt erst, als die Sommerferien zu Ende waren und sie in ihre Schule am Bersarinplatz in Friedrichshain zurückkehrte: „Von meiner Klasse fehlte die Hälfte, die war einfach nicht mehr da. Wir wurden mit der verhassten Parallelklasse zusammengelegt, was uns gar nicht in den Kram passte, aber da fehlte ja auch die Hälfte der Schüler.“

Deutsch-deutsche Literaten. Katja Lange-Müller musste 1984 in den Westen ausreisen. Ingo Schulze, elf Jahre jünger, war 27, als die Grenze geöffnet wurde. Ohne die Mauer hätten sie anders und anderes geschrieben, sagen beide.
Deutsch-deutsche Literaten. Katja Lange-Müller musste 1984 in den Westen ausreisen. Ingo Schulze, elf Jahre jünger, war 27, als die Grenze geöffnet wurde. Ohne die Mauer hätten sie anders und anderes geschrieben, sagen beide.

©  promo

Fragt man Lange-Müller, ob die Mauer allein als Bauwerk ständig präsent und zu sehen gewesen sei, verneint sie das: „Im Osten gelangte man gar nicht in Mauernähe, da gab es Sperrschilder und Grünstreifen, es folgten Panzersperren, ein Hundelaufweg, dann erst kam die Mauer."

Auch Lange-Müllers Schriftstellerkollege Ingo Schulze sagt, dass er die Mauer erst nach der Wende richtig gesehen habe: „Die Grenzanlagen waren ja gut gesichert und weit weg. Während des Studiums haben wir unter der Regie eines Kunstgeschichtsprofessors Exkursionen in den Harz gemacht. Da gab es schon im Zug nach Halberstadt Kontrollen. Und weil ich lange Haare hatte und ein Stirnband trug, gehörte ich einer besonders bevorzugten Zielgruppe an. Bei den Zugfahrten im Harz sprang der Professor schon immer auf, wenn die Kontrollen kamen und rief: Der gehört zu mir!“

Die Mauer als Paradoxon

Schulze ist elf Jahre jünger als Lange-Müller, er wurde 1962 in Dresden geboren. Weshalb er sein gewissermaßen physisches Verhältnis zur Mauer als „paradox“ empfindet: „Die Mauer war für mich im Grunde unsichtbar – es sei denn, ich fuhr nach Berlin und ging ans Brandenburger Tor.“ Um gleich anzuschließen: „Trotzdem hat sie alles bestimmt, absolut alles, würde ich sagen, weil ohne Mauer die DDR ein ganz anderes Land gewesen wäre. Die Mauer war im Grunde das ,Gesetz', nach dem wir lebten.“

Schulze war fast 27 Jahre alt, als die Mauer fiel. Dass sie einmal fallen könnte, zumindest sich die Freiräume in der DDR erhöhen könnten, gerade mit dem Amtsantritt Gorbatschows in der UDSSR, war für ihn zwar denkbar, „aber nicht so, wie es dann gekommen ist“. Kurz vor und nach der Wende war er im thüringischen Altenburg tätig, erst am Theater als Dramaturg, später als Herausgeber eines Anzeigenblattes und Geschäftsführer des Altenburger Verlages.

Nachdem er 1993 nach Berlin gezogen war, wohnte er in Neukölln, später im Bötzowviertel in Prenzlauer Berg. Heute lebt er wieder im Westen der Stadt, in einer Wohnung in der Nähe des Stuttgarter Platzes mit Blick auf den Lietzensee. Hier sagt er nun, dass die Mauer „natürlich“ eine Einschränkung gewesen sei: „Doch ich habe all das mit der Zeit zunehmend anders herum gesehen, als etwas, das zu verändern ist. Der Freiraum dazu, so war zumindest meine Erfahrung, der wuchs spürbar.“

Flucht als einzige Option

Katja Lange-Müller sieht das im Rückblick anders, fast naturgemäß, muss man sagen. Schließlich wurde sie geradezu gezwungen, die DDR zu verlassen: „Ich flog aus der Schule, hatte eine Stasi-Akte seit meinem 14. Lebensjahr und wurde durch unmäßige Strafaktionen wegen Geringfügigkeiten eher mehr als weniger in Dissidentenkreise gedrängt. Ich bin gegangen, weil ich nicht mehr in der DDR bleiben konnte, nicht weil ich in den Westen wollte. Ich hatte keine Alternative.“

So erinnert sie sich auch, dass die Mauer, obwohl kaum zu sehen,  immer präsent gewesen sei, „allein bei jeder U-Bahn-Fahrt. Oder die Stadtpläne: West-Berlin war darauf  immer nur eine weiß-schraffierte Fläche, ein weißer gestrichelter Fleck. Nach Potsdam zu kommen, war natürlich eine Weltreise mit der S-Bahn. Es dauerte viermal so lange wie heute, weil man um den ganzen Westen herumfahren musste.“

Interessant ist, wie unterschiedlich die Erfahrungen beider mit dem Mauerfall und dem Leben ohne die Mauer sind. Was damit zu tun hat, dass Lange-Müller und Schulze zwei unterschiedlichen Generationen angehören, andere Lebensgeschichten haben.

Schulze kommt im Gespräch häufig auf das Privileg zurück, in der westlichen Welt zu leben. Er spricht zum Beispiel von einer Leerstelle, die die Mauer im öffentlich-offiziellen DDR-Leben gewesen sei, so wie er das gute Leben im Westen heutzutage ebenfalls als Leerstelle empfinde, „da andere, vornehmlich im Süden der Erdhalbkugel, so schlecht leben, weil wir so gut leben“.

Das Leben ohne Mauer sei für ihn dann „selbstverständlich" gewesen: „Nur habe ich mit der Zeit gelernt, wie unglaublich privilegiert wir sind, dass wir so reisen können. Viele müssen heute ihr Leben riskieren, um Grenzen zu überwinden.“

Eine deutsch-deutsche Autorin: Katja Lange-Müller.
Eine deutsch-deutsche Autorin: Katja Lange-Müller.

© picture alliance / Arno Burgi/dp

Katja Lange-Müller geht mit ihren Mauerfallerfahrungen und der Zeit danach, insbesondere mit sich selbst, schonungsloser ins Gericht und zitiert zunächst einen Satz aus ihrem 2007 veröffentlichten West-Berlin-Roman „Böse Schafe“, der seinerzeit von Ingo Schulze im „Spiegel“ rezensiert wurde, unter anderem so: „Man spürt eine Erfahrung, die das Erzählen notwendig macht.“ Lange-Müller reproduziert nun in ihrer Wohnung in Wedding eine dieser Erfahrungen: „Ich fühlte mich, als säße ich in einem Zug und sämtliche Bäume, an denen ich schon mal vorbei gefahren war, kommen mir wieder entgegen.“

Und präzisiert dann: „Mit meinen Freunden aus dem Osten holte mich 1989 wieder ein Kapitel meiner unabgeschlossenen Ost-Vergangenheit ein. Ich hatte nicht gedacht, dieses Fass noch einmal aufmachen zu müssen, ich wollte das auch gar nicht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass die Menschen im Osten quasi geschenkt bekamen, wofür ich einen hohen Preis bezahlen musste, nämlich quasi aus dem Nichts anzufangen. Plötzlich profitierten auch die, die nicht demonstriert hatten, die Mitläufer, die Mitmacher.“

Das Misstrauen gegen Ämter ist geblieben

Trotzdem versteht sie den Bruch bei vielen DDRlern als existentiell, gerade aus ihrer Generation. Bezüglich der Erfahrung einer plötzlich einsetzenden Arbeitslosigkeit, aber auch wegen des „Verlustes von Identität, von Selbstwertgefühl. Das macht was mit den Menschen.“ Die Frage nach der Mauer in ihr, ob es die noch gäbe, relativiert sie: „Die Mauer vielleicht nicht, die DDR aber sehr.“ Einer der Hauptgründe: „Ich habe bis heute einen Widerwillen gegen Ämter und staatliche Organe.

Das sind Momente, in denen ich leicht unter Druck gerate und mich gestresst fühle. Die Ämterphobie wird man nicht los. Da ist immer das Gefühl, auf Gedeih und Verderb einer gewissen Willkür ausgesetzt zu sein.“ Die Formel von der „Mauer in den Köpfen“, die es womöglich noch gibt, hält sie für Quatsch: „Es gibt in den Köpfen der Menschen Erfahrungen, die sie gemacht haben, auch mit Mauern. Diese Erfahrungen prägen, und zwar mehr als alles Gelesene, Gesagte, historisch Verbürgte.“

Auch Ingo Schulze hält, wie er da in der Küche seiner Wohnung sitzt und fast versonnen auf den Lietzensee schaut, wenig von der „Mauer in den Köpfen“: „Das ist vor allem ein ungewollt komisches Bild. Es verhindert zudem eine Differenzierung: Was ist Ressentiment, was ist eine Beschreibung der Situation? Wobei es ja immer schwierig ist, unterschiedliche Erfahrungen miteinander in einen lebendigen Zusammenhang zu bringen.“

"Kein literarischer Gegenstand mehr"

Man bezeichnet Lange-Müller und Schulze wegen ihrer Herkunft gern als „deutsch-deutsche Schriftsteller“ – und weil viel davon in ihr Romanwerk eingeflossen ist. Schulze hat mit „Peter Holtz“ gerade einen Roman geschrieben über einen Schelm, einen modernen Simplicissimus, der in beiden Systemen eine gute Figur macht, einen Wenderoman der anderen, gleichermaßen sarkastischen wie tiefer gründelnden Art. Er gesteht, sein Leben in der DDR nicht verleugnen zu können. Es gebe Spuren davon auch in den Büchern von ihm, die vordergründig mit seiner Herkunft nichts zu tun haben, so in dem hauptsächlich in Italien angesiedelten Erzählband „Orangen und Engel“.

Auch Lange-Müller sagt, dass sie das eine oder andere Buch ohne die Mauer anders geschrieben, andere Stoffe aufbereitet hätte. Die Mauer sei jedoch schon lange „kein literarischer Gegenstand mehr“ für sie: „Da halte ich es mit Heiner Müller: ‚Nur über die DDR schreiben ist auch Zeitverschwendung’.“

Dass die DDR, die Mauer trotzdem einen immer wieder einholen, diese Erfahrung allerdings muss Ingo Schulze gerade wieder machen. Kurz nach unserem Gespräch begab er sich auf den Weg zu einer dreimonatigen Gastprofessur nach Boulder, Colorado. Gleich bei seiner Ankunft, nach zwei, drei Tagen, registrierte er das rege Interesse der Amerikaner an den Deutschen, die aus dem Osten kommen, wie er in einer Mail schreibt: „Ich staune, wie viele Amerikaner als Wehrdienstleistende in der Bundesrepublik gewesen sind. Ein Nachbar, der mich zum Bier einlud und dem ich sagte, wo ich geboren und aufgewachsen bin, rief: Oh, sorry, we were enemies. Er erzählte mir dann von dem Glück, während seiner Wehrdienstzeit nicht nach Vietnam geschickt worden zu sein. Und ich erzählte  ihm von der Angst während meiner Armeezeit, Anfang der achtziger Jahre, nach Polen geschickt zu werden."                 

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