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Berlin-Neukölln: „Was soll’n das hier werden?“

Neue Chance für den Reuterkiez im Berliner Bezirk Neukölln: Lange war das Viertel abgeschrieben – jetzt zeigt das Quartiermanagement Wirkung. Statt nur Eckkneipen und Trödelläden, sprießen Galerien, Cafés und Boutiquen.

Ulli ist der misanthropische General des Reuterkiezes. Seine Uniform ist das Deutschlandtrikot, seine Waffe eine halbvolle Flasche Pilsator-Bier. Um Ullis Hals baumelt ein abgewetzter Plüsch-Elch. Im Sprühregen läuft er die Sanderstraße ab und mustert die Geschäfte links und rechts, als wären sie junge Rekruten. „Das da drüben bleibt keinen Monat hier“, sagt er und richtet sein Pils auf einen Laden für modernes Holzspielzeug. „Und das is’ auch bald weg“ — er kneift die Augen zusammen und zeigt auf eine kleine Galerie. Ulli ist schon lange aufgefallen, dass sich hier etwas verändert.

Früher standen zwischen den holzgetäfelten Eckkneipen noch jede Menge verlassene Geschäfte, jetzt arbeiten hier Menschen in Modeläden, Ateliers und Cafés. „Was soll’n das hier werden? Arm oder Reich oder was?“, murmelt Ulli. Er bleibt auf der Höhe eines Cafés mit Retro-Möbeln stehen. Adrette Mittzwanziger trinken Bionade und diskutieren über vor ihnen liegende Texte. Der General überlegt es sich noch einmal. „Naja. Die Studenten, die find ich ja jut. Die sollen von mir aus bleiben.“

Ein paar Straßen weiter in Richtung Hermannplatz arbeiten Maria Richarz und Stefanie Raab in ihrem Büro. Eine große Karte von Neukölln hängt dort an der Wand. Aus dem Gebiet des Reuterkiezes ragt ein kleiner Wald aus grünen und roten Fähnchen hervor. Vor zwei Jahren haben die Architektin Raab und die Stadtplanerin Richarz ihre Zwischennutzungsagentur gegründet. Seitdem beraten sie Künstler und Unternehmensgründer, die in den Kiez ziehen wollen, und vermitteln ihnen leer stehende Läden zu besonders günstigen Konditionen. Manche der Neuankömmlinge müssen im ersten Jahr nur die Nebenkosten zahlen. „Das Quartier wandelt sich, jetzt kommt wieder eine lokale Ökonomie zum Vorschein“, sagt Raab stolz. Die beiden haben bislang neue Mieter für über 50 Räume im Reuterkiez gefunden.

Der General Ulli kann die meisten Leute in seiner Nachbarschaft nicht leiden. Vor allem die Türken nicht. „Dann doch lieber Deutsche, die machen laut Party und sagen vorher Bescheid“, sagt er. Der Reuterkiez ist ein schweres Los für Ulli. Im Gebiet zwischen Maybachufer, Weichselstraße, Sonnenallee und Kottbusser Damm leben mehr als 18 500 Menschen. Fast ein Drittel von ihnen sind Migranten. Den Türkischen Kulturverein in der Sanderstraße hat Ulli keines Blickes gewürdigt. An der Tür steht „Eintritt nur für Mitglieder“. Im Inneren sitzen fünf türkische Männer um einen Tisch herum, trinken Tee und spielen Karten. Unter ihnen liegt ein kunstrasenartiger Teppich, von oben her fällt Neonlicht auf ihre Gesichter. Der Chef des Kulturvereins sieht aus, als würde er die Partie gerade verlieren. Schweißperlen rinnen ihm die Backe herunter. Er sagt: „Welche jungen Leute? Wir sind ein Sportverein. Hier sind immer die gleichen Leute. Hier drinnen ist wichtig. Die da draußen, das interessiert uns nicht.“

Die Zeitungsverkäuferin Frau Britzke ist im Grunde das genaue Gegenteil des Generals. Sie lebt und arbeitet schon lange im Reuterkiez. Sie ist optimistisch. Und wenn sie in Neukölln-Nord eines gelernt hat, dann Gelassenheit. Schließlich hat sie auch die richtig schlechten Zeiten erlebt. „Viele sind an den Stadtrand gezogen“, sagt sie und schiebt einem Stammkunden ein Päckchen Zigaretten über den Tresen. Hier wütete eine türkisch-arabische Straßengang, Sperrmüll türmte sich in den Rinnsteinen, ein Geschäft nach dem anderen machte dicht. Vor einigen Jahren aber begann der Wandel. Ein paar Studenten der Filmhochschule Babelsberg, die alle in der Gegend lebten, machten in der Friedelstraße die „Kinski-Bar“ auf, und der Reuterkiez hatte seine erste Szenekneipe. Sie war so etwas wie der Nukleus für den Aufschwung.

Frau Britzke gefallen die neuen Läden. Und die jungen Leute auch. „Es wird besser“, sagt sie. „Und das liegt auch an den beiden Frauen von der Zwischennutzungsagentur.“

Raab und Richarz haben den Künstlern Christof und Christiana vor zwei Jahren einen Eckladen in der Sanderstraße vermittelt. Nachdem der Vertrag ablief, sind die Künstler in ein paar Häuser weiter gezogen. Sie zahlen jetzt die volle Miete. Die beiden fertigen Installationen aus Plattenspielern und zerbrochenen Spiegeln und malen grelle Bilder im Stil Dalís. „Wir haben einfach gespürt, dass dieses Viertel im Aufbruch ist“, sagt Christiana. Ihr Laden „Klötze und Schinken“ ist eine Mischung aus Atelier, Gallerie, Bierausschank und Nippesdepot. Hier gibt es selbstgestrickte Fingerpuppen, Geldbeutel und Schlafmasken im Hippie-Design zu kaufen. Noch läuft das Geschäft nicht besonders. Nach Neukölln kommen einfach nicht so viele Touristen wie nach Berlin-Mitte. Doch sie lieben das Viertel, sie wohnen hier und sie haben eine Strategie. „Wir überlegen, zusätzlich eine Espressomaschine aufzustellen“, sagt Christof.

Auf der anderen Straßenseite sitzt die pakistanischstämmige Kioskverkäuferin Vinzens Najana in ihrem Geschäft und kichert. „Diese Künstler sollen sich erstmal den Kopf waschen“, sagt sie. Najana arbeitet seit den 80er Jahren im Reuterkiez. Prinzipiell mag sie die vielen neuen Läden in der Gegend . Es stört sie nur, dass einige Geschäfte so schnell wieder schließen. Nebenan zum Beispiel. Da war bis vor kurzer Zeit ein Schallplattenladen für eigenartige elektronische Musik aus Frankreich. Der habe sich keine zwei Jahre gehalten. Ihr neunzehnjähriger Sohn schleicht hinter den Tresen des Kiosks und grinst verstohlen. „Genau. Die Freaks machen Läden auf und dann gibt es da nichts zu kaufen“, sagt er.

Der General ist am Ende der Sanderstraße angelangt. Bevor er wieder umdreht, um frisches Bier zu holen, verschnauft er einen Moment. Auch wenn die meisten Anwohner ihr Viertel im Aufwind sehen, ist er anderer Meinung. „Es wird immer schlimmer“, sagt er bestimmt. Warum er dann nicht über den Kanal hinüberzieht nach Kreuzberg? „Ach hör mir uff“, sagt der General. „Ich will in Ruhe angeln. Da drüben kiffen doch alle und lassen ihre Kampfhunde laufen.“

Fabian Dietrich

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