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Auf geht's: In diesem Zug konnten Reisende ein letztes Mal bis Nowosibirsk fahren ohne umzusteigen.

© Sabine Gudath

Berlin - Nowosibirsk: Ab in die Taiga – ein letztes Mal nonstop

Rentner und Menschen mit Flugangst liebten ihn. Jetzt hieß es Abschied nehmen vom Kurswagen nach Sibirien. Am Montag erreicht er die Wolga.

Von Sandra Dassler

Noch ist die alte Frau mit dem geblümten Kopftuch allein, aber das wird sich bald ändern. Obwohl es schon jetzt ziemlich eng ist im Abteil des Schlafwagens nach Nowosibirsk. Die alte Frau kann eigentlich nur seitlich darin stehen: vor ihr drei Betten übereinander, hinter ihr Sitzbank und Gepäckablage.

Der Schlafwagen nach Nowosibirsk ist der fünfte und letzte am Zug D 1249 von Berlin nach Saratow, der 17.24 Uhr am Bahnhof Zoo abfährt. Am vergangenen Sonnabend zum allerletzten Mal. Bis Mittwoch wird die alte Frau mit dem geblümten Kopftuch unterwegs sein. 5000 Kilometer ohne umzusteigen. Ihren Namen will sie lieber nicht sagen – nur, dass sie Russlanddeutsche ist und seit 13 Jahren im Berliner Umland wohnt. Allein, seit ihr Mann gestorben ist. Aber Weihnachten ist alles anders. Weihnachten fährt sie zum Sohn, der in Russland geblieben ist, in einem Dorf bei Nowosibirsk. Er hat Frau und Kinder, sogar schon einen Enkel. Eigentlich wollte sie viel später los, sagt die alte Frau – in Russland feiert man erst Anfang Januar Weihnachten – aber dann habe sie erfahren, dass ihr Zug am 7. Dezember zum letzten Mal fährt.

Der letzte Schlafwagen nach Sibirien ist voll mit alten Menschen

Es war ein Schock, denn sie ist immer in diesem Kurswagen nach Nowosibirsk gereist. Da musste sie nicht umsteigen – mit all dem Gepäck und ihren müden Knochen. Sie lächelt ein wenig verlegen: „Und vor dem Fliegen habe ich einfach zu viel Angst.“

So geht es den meisten ihrer Fahrgäste, sagt Tatjana und rückt das rote Käppi, das obligatorisch zur Uniform gehört, zurecht. Sie ist seit 20 Jahren Schlafwagenschaffnerin, seit vier Jahren fährt sie auch von Nowosibirsk nach Berlin – jetzt ist Schluss. Der Zug habe sich nicht mehr gelohnt, hatte die Russische Bahn die Einstellung der Verbindung Berlin-Saratow mit Kurswagen nach Tscheljabinsk und Nowosibirsk begründet. Man komme inzwischen schneller und preiswerter mit dem Flugzeug nach Sibirien.

Auch die Schaffnerin ist wehmütig

„An uns alte Leutchen denken die gar nicht“, schimpft Lidia Deskje. Die 79-Jährige hat ihre ebenfalls von Flugangst geplagte Schwester zum Zug gebracht, die zu den Kindern nach Sibirien fährt. „Eigentlich stammen wir ja aus Odessa“, erzählt sie. „Wir sind Schwarzmeerdeutsche, 1993 nach Berlin gekommen.“

Schlafwagenschaffnerin Tatjana kontrolliert die Fahrkarten ihrer Reisenden etwas wehmütig. „Ja, ich bin traurig“, sagt sie. Und erzählt, wie fasziniert sie war, als sie das erste Mal nach Berlin kam: „Alles, was ich in der Schule gelernt und in den Geschichtsbüchern gelesen hatte, war hier – Brandenburger Tor, Reichstag, Unter den Linden, der Treptower Park mit dem Sowjetischen Ehrenmal . . .“ Tatjana hat inzwischen alles gesehen. Der Zug erreichte Berlin stets am Sonnabendmorgen kurz nach acht Uhr, bis gegen 16 Uhr hatte sie dann Zeit. Nicht nur zum Sightseeing, sondern auch zum Einkaufen. Viele Kollegen in Russland hätten sie wegen der Tour nach Berlin beneidet, sagt sie – und oft schrieben sie lange Wunschlisten. „Diesmal musste ich vor allem Weihnachtsstollen mitbringen“, sagt sie. „Den gibt es bei uns nicht.“

Viele wussten nicht, dass der Zug heute zum letzten Mal fährt

Schlafwagenschaffnerin Natalja findet es schade, dass der Zug zwischen Berlin und Saratow mit Kurswagen nach Nowosibirsk und Tscheljabinsk nicht mehr fährt.
Schlafwagenschaffnerin Natalja findet es schade, dass der Zug zwischen Berlin und Saratow mit Kurswagen nach Nowosibirsk und Tscheljabinsk nicht mehr fährt.

© Sandra Dassler

Auch ihre Kolleginnen in den anderen vier Schlafwagen sind traurig. „Wir lieben Berlin“, sagt Natalja vom Kurswagen nach Tscheljabinsk und deutet auf das Lichtermeer der Weihnachtsmärkte am Zoo und am Alex, die ihr Zug nun zum letzten Mal passiert. Zwar kommen sie durch andere Großstädte wie Warschau oder Minsk, aber bald danach beginnen die endlosen russischen Weiten.

Die bieten wenig Zerstreuung, und so kommen die Reisenden zwangsläufig nicht nur untereinander, sondern auch mit den Schlafwagenschaffnerinnen ins Gespräch. „Wir kennen die meisten“, sagt Natalja, „auch ihre Familien, Schicksale, Geschichten.“ Ihre Kollegin kichert. „Weißt du noch, der Verliebte?“, fragt sie. Und erzählt von dem Deutschen, der in Minsk eine Braut gefunden hatte und es auf der Fahrt zu ihr vor lauter Glück kaum aushielt. Der Zug sei an einem 9. Mai in der weißrussischen Hauptstadt angekommen, dem Feiertag anlässlich des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland. Als der Mann die vielen Fahnen und geschmückten Häuser sah, habe er immer wieder fröhlich gerufen: „Hitler kaputt“.

In fünf Tagen bis Nowosibirsk

Das sei aber bisher die einzige politische Demonstration gewesen, sagen die Schaffnerinnen, als zu ihrem Erstaunen ein paar junge Männer am Hauptbahnhof Fahnen und ein Transparent hochhalten, um auf die Diskriminierung der Schwulen und Lesben in Russland aufmerksam zu machen.

Dann ist der Zug am Ostbahnhof und die Schlafwagen sind inzwischen gut belegt. 70 Prozent, schätzt Tatjana: „Viele wussten nicht, dass der Zug heute zum letzten Mal fährt, sonst wären es mehr.“ In Zeiten, wo Entschleunigung in aller Munde ist, stellen sich manche tagelange Zugfahrten romantisch vor. Doch angesichts der kargen Ausstattung – jeder Wagen, hergestellt in der DDR, hat zehn schmale Abteile für je drei Reisende, ein Dienstabteil, wo auch Tee gekocht wird, und zwei Toiletten mit Waschbecken – kommen einem schon Zweifel. Könnte man ein Abteil auch allein belegen? Natürlich sagt Natalja: „Da müssen Sie einfach nur drei Fahrkarten kaufen.“

Am Ostbahnhof hat die alte Frau mit dem geblümten Kopftuch sich schon mit einer jüngeren Mitreisenden angefreundet. Gemeinsam richten sie die Betten her. Warschau durchfahren sie nach Mitternacht, Minsk am Sonntagmittag. Am Montag um 18 Uhr erreichen sie Saratow an der Wolga. Dann wird ihr Kurswagen an einen anderen Zug gehängt. Nur noch eineinhalb Tage bis Nowosibirsk.

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