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Im virtuellen Leben lässt es sich leicht gewinnen. Im realen Dasein weniger, da ist es oft mit Mühe und Arbeit und Frust verbunden. Viele Computerfans ziehen sich dann lieber auf das Spiele-Alter-Ego im Netz - und aus dem wahren Leben zurück.

© Caroline Seidel/dpa

Berliner Beratungsstelle "Lost in Space": Wenn Computer zur Sucht werden

Ohne Internet geht nichts mehr. Aber wann wird Konsum und Spielen zur Sucht? Das Hilfsprojekt „Lost in Space“ in Berlin berät Abhängige und Angehörige.

Die Mutter war glücklich. Endlich, so schien es, hatte sie es geschafft, dass der kleine Sohn weniger zockt. „Das Spiel, das er sich jetzt gekauft hat, geht nur über 18 Runden“, sagte sie dem Sozialarbeiter der Internetsucht-Beratungsstelle begeistert. Der guckte auf den Karton. Ja, da stand die 18. Aber sie bedeutete: Das Spiel ist für Jugendliche ab 18 Jahren empfohlen. Das Spiel geht garantiert über mehr als nur „18 Runden“ und ist für den Sohn eher nicht geeignet.

Es ist eine Szene aus dem täglichen Beratungsalltag, die Gordon Schmid vom Caritasverband wiedergibt. Sie zeigt, wie wenig Ahnung Erwachsene heute davon haben, was der Nachwuchs stundenlang im Internet treibt.

Kein Lebensbereich mehr ohne Computeranbindung: In der U-Bahn sitzen die Menschen schweigend über Smartphone und Tablet gebeugt. Beim Familienbesuch wendet die Jugend von heute teils den Blick nur beiläufig zum Gruße kurz vom Handy ab, während parallel noch der Fernseher läuft. Aber was ist „normal“ und wo fängt persönlichkeitsgestörtes Verhalten wegen übermäßiger Internetnutzung an?

Sie denken: Ich habe das im Griff

„Die Betroffenen selbst merken es sehr spät, sie denken, sie haben alles im Griff“, sagt Gordon Schmid, Leiter des „Café Beispiellos“ für Glücksspielsüchtige, aus dem sich das berlinweit tatsächlich beispiellose Hilfsprojekt „Lost in Space“ gegen digitale Süchte entwickelt hat. Zur Beratungsstelle in die Wartenburgstraße 8 in Kreuzberg kommen „Betroffene, darunter viele Studenten, die die letzten Jahre vor dem Rechner verbracht haben“.

Irgendwann „platzt die Bombe“, wie der Sozialarbeiter sagt, etwa wenn die Mutter fragt, wann denn die Uni-Abschlussfeier sei, und der Sohn eingesteht, dass er gar nicht mehr in die Uni geht. Zugenommen habe ungesundes Internetverhalten, weil jeder überall und immer online sein kann.

Ein neues Phänomen sei Sucht beim Streamen von Serien. „Da werden ganze Staffeln hintereinanderweg geguckt. Aber dann nicht abgeschaltet, mit dem Gefühl, das war jetzt klasse. Sondern: Jetzt guck ich mal, was es mit dem Schauspieler sonst noch so im Netz gibt.“ Und wieder ist eine Nacht durchwacht, die Party verpasst.

Im realen Leben keine Freunde mehr

„In unsere Beratung kommen zu 90 Prozent Männer, das Durchschnittsalter ist 29 Jahre, die meisten haben im realen Leben so gut wie keine sozialen Kontakte mehr, viele haben auch ihren Job verloren“, sagt Gordon Schmid. Die wenigen Frauen, die wegen Computer- oder Internetsucht Rat suchen, verhedderten sich eher in sozialen Netzwerken. Und merken dann, dass „Facebook“-Freunde oft keine echten Freunde sind. Oder sie kommen nicht von Echtzeitspielen los. Das sind zunächst eher harmlos wirkende Spiele wie „Sim City“ mit Gesellschaftssimulationen oder „Farm City“. Da muss man Felder beackern, Vieh versorgen und kann Gemüse ernten. Der Nachteil dieser Spiele sei, dass sie den Nutzer unter Druck setzen, weil sie weiterlaufen, obwohl der User abgemeldet ist.

Frauen verheddern sich in sozialen Netzwerken

Man könne viel Geld lassen, etwa weil man „Bewässerungsanlagen“ oder sonstige Extras kaufen kann und soll. Das Muster, warum auch ein klar denkender Mensch solchen virtuellen Reizen erliegt, sei oft ähnlich. „Wenn ich mich in der Schule in Englisch verbessern will, muss ich pauken und lernen, mit Frust umzugehen“, sagt Schmid. Im Netz aber kann man mit seinem virtuellen Ego, dem „Avatar“, rasch erfolgreich Frauen erobern, reich und berühmt werden. Den eigenen Avatar später zu löschen, empfänden viele als „eine Art Suizid“. Oft würden sich Suchtverhalten und Depressionen gegenseitig begünstigen, gibt Gordon Schmid Erfahrungen wieder. Ein bis vier Prozent der Bevölkerung seien von Onlinesucht betroffen.

Jedes Jahr betreuen die drei Mitarbeiter von „Lost in Space“ gut 200 Klienten. Gäbe es mehr als gut eine Stelle, könnte mehr Bedürftigen geholfen werden. Die trauen sich erstmals in die Beratung, wenn Bekannte, Familie oder Nachbarn liebevoll, nicht wertend und nicht verurteilend, Sorge äußern. Eine Gruppe will völlig abstinent von Computerspielen leben, die anderen möchten einen kontrollierten Umgang lernen. Zum Beispiel dank Sicherheitssoftware, die nach gewisser Zeit alles herunterfährt. Aber auch Eltern werden beraten.

Die je rund ein Dutzend Teilnehmer einer Gruppen treffen sich auch in der Freizeit, um zusammen zu kochen, spazieren oder in einen Kletterpark zu gehen. „Das sind Highlights, von denen man die Leute aber erst überzeugen muss. Viele sagen: Der einzige Kontakt nach draußen ist der zu euch.“ Zum Finale der „League of Legends“-Spieleserie am kommenden Wochenende in Berlin würden alle sofort gehen. Aber sie haben jetzt auch Spaß beim Karaoke oder wollen mal zum Yoga.

Stundenlang Pornos gucken

Gordon Schmid hält nichts davon, Computerspiele zu verteufeln; so seien Ego-Shooter oft Teamplayer-Spiele, bei denen mehrere Jugendliche sich immerhin am Computer absprechen und Taktiken auswerten. „Wenn sich Ballerspiele tatsächlich auf das Verhalten von Jugendlichen auswirken würden, hätten wir viel mehr Vorfälle mit Amokläufern“, ist er überzeugt. Die meisten könnten zwischen Spiel und Realität unterscheiden.

Zu „Lost in Space“ kommen auch Männer, die „den ganzen Tag auf Pornoseiten surfen und dabei masturbieren. Und die davon träumen, im wirklichen Leben mal eine Frau zu küssen.“ Denen wird beispielsweise empfohlen, lieber ihre Fantasie spielen zu lassen. Freundinnen haben die meisten – noch – nicht.

Und wer hilft?

Die Gesamtzeit vorm Computer ist laut „Lost in Space“ nicht so entscheidend – sofern die Bereiche Schule/Uni, soziale Kontakte und Familie stimmen.
Eltern sollten Grenzen setzen, Konflikte aushalten, eigene Bequemlichkeit ablegen. Und Regeln aufstellen wie: Beim Essen kein Handy am Tisch! Viele Kinder argumentieren: Klassenkameraden dürfen das aber spielen! Ist das so? Andere Eltern fragen und absprechen. Wer sagt, um 20 Uhr ist Schluss, muss das auch durchziehen. Lassen Sie sich Spiele zeigen und erklären, was faszinierend ist. Geben Sie z.B. vor: Du hast täglich vier Stunden am Computer – inklusive Schularbeiten.
Hilfe gibt es bei „Lost in Space“, Wartenburgstraße 8, 10963 Berlin, Telefon 6 66 33-9 59 (Mo.-Do. 15 bis 18 Uhr), Fax: 6 66 33-9 58. E-Mail: lostinspace@caritas-berlin.de. Es gibt Angebote für Angehörige, für Schulen, für „Peer“-Patenprojekte. Weitere Infos: www.multiplikatoren.ins-netz-gehen.de, www.klicksafe.de

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