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Alle Seiten gleich. Oswald Mathias Ungers hat dem Gebäude von 1995 das Quadrat zum Leitmotiv gemacht. Die Richter richten nicht von oben, nur eine Schwelle markiert ihre besondere Stellung.

© Mike Wolff

Berliner Familiengericht: Wo die Kinderrechte täglich verteidigt werden

Väter gegen Mütter, die Kinder dazwischen: Das Familiengericht Tempelhof-Kreuzberg hilft den Schwächsten, wo Liebe zu Hass wurde.

Erst mit der Zeit geraten im Mittendrin des Familiengerichts, zwischen Anwälten und Richterinnen, zwischen Aktenwägelchen, Gutachtern und sich zankenden Eltern, die Kinder in den Blick, um die sich hier doch fast alles dreht: schlafend im Kinderwagen die glücklichsten, die noch gar nichts von alldem rundherum begreifen. Hibbelig anhänglich andere, zwischen den Eltern hin- und herflitzend wie Boten ohne Nachricht. Betont zutraulich ein Zehnjähriger, der auf einer Bank den Kopf auf den Schoß seiner Mutter legt. Fahrig, angespannt ein Mädchen, das auf die Anhörung durch einen Richter wartet.

„Ich will nicht eure Stromleitung sein“, sagt eine Tochter zu ihren Eltern. Vielleicht ist das ja das Kerngeschäft eines Familiengerichts: eine paragrafengestützte Überstromschutzeinrichtung zu sein, ein Versuch des Spannungsabbaus mit den Mitteln des BGB.

Das größte Familiengericht in Deutschland

Das Familiengericht Tempelhof-Kreuzberg am Berliner Landwehrkanal, Hallesches Ufer, ist Deutschlands größtes Familiengericht. Um die 20 000 Fälle werden hier pro Jahr verhandelt: Sorgerechtsstreitigkeiten, Umgangssachen, Scheidungen, Adoptionen. Auseinandersetzungen um Partnerschaft, Vaterschaft, Elternschaft, kurz: darum, was es heißt, hier und heute eine Familie zu sein.

Das einzige Gericht Berlins mit einem Haushaltsposten für Kinderspielzeug und Bastelmaterial steht da wie ein Riese aus weißem Muschelkalk, der das kleine rote „Kinderhaus“ an der Hand hält. Hier, nur durch einen schmalen Steg mit dem Hauptgebäude verbunden, können die Kinder außen vor bleiben, spielen, lesen, basteln, während sich die Eltern oben im Gerichtssaal sortieren oder in die Haare kriegen.

Strenge Linien, rechte Winkel überall

Das Gerichtsgebäude, 1995 fertiggestellt, ist durch und durch quadratisch, kubisch, rechtwinklig: Oswald Mathias Ungers, der Architekt, hat es von der Fassade über die Fenster, Säle, Bodenfliesen bis hinunter zu Heizkörperverkleidungen und Kleiderständern aus dem Quadrat und dem Kubus heraus entwickelt und geformt. Schachbrettmuster also, rechte Winkel überall. Dabei sind doch von den Menschen hier die allermeisten gar nicht geometrisch gerade, sondern ganz im Gegenteil „aus so krummem Holze gemacht“, woraus „nichts ganz Gerades gezimmert werden“ kann, wie Kant das beschrieben hat.

Abgetrennt und rot wie ein Herz steht das Kinderhaus. Darin spielen die, um die es geht, während die Eltern drinnen mit Paragraphen ringen.
Abgetrennt und rot wie ein Herz steht das Kinderhaus. Darin spielen die, um die es geht, während die Eltern drinnen mit Paragraphen ringen.

© Mike Wolff

Die Menschen, um die es hier geht, drücken morgens ihre nervös halbgerauchten letzten Zigaretten in den quadratischen Aschenbecher vor der Einlasstür am Halleschen Ufer, dann raffen sie sich auf, nesteln ihre Ladungen hervor und passieren die Sicherheitskontrolle, bevor sie dem Familienrecht sehenden Auges entgegentreten. Manche sind schon nach Minuten zurück, andere nach mehreren Stunden, wenige erlöst, viele aufgelöst. Dann der erste Griff zum Handy, um empört oder erleichtert Verhandlungsergebnisse durchzugeben: „Er hat sich total zum Affen gemacht!“ Oder: „Gegen die Mütter hast du keine Chance!“ Oder, Idealfall: „Am Ende haben wir uns doch noch irgendwie zusammengerauft.“

Christian Kunz, seit 2010 Präsident des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg, zu dem das Familiengericht gehört, warnt vor dem ersten Besuch, man solle nicht allzu Unerhörtes erwarten. „Ich muss Sie enttäuschen“, sagt er, „die ganz aufregenden Fälle gibt es hier nicht, Baby im Kühlfach oder so.“

Stattdessen gibt es, kiloschwer auf die Aktenwägelchen gebündelt, die hier im Gerichtsgebäude über die Flure geschoben werden, das Klein-Klein des Familienrechts: jenes feingliedrig-verästelte Paragrafennetz, § 1297 - 1921 BGB, in dem sich die hier Auftretenden als Liebende, als Eheleute oder als Eltern verheddert haben.

Die erste Verhandlung des Tages

9.30 Uhr, Saal F 232, erste Verhandlung des Tages. Die Richterin knipst die rechteckige Leuchtschrift „Nicht öffentlich!“ über der Saaltür an, steckt den Kopf auf den Flur hinaus und ruft auf: „In der Sache Hoffmann?“

Herr Hoffmann (der eigentlich anders heißt), sitzt, in stillen Zorn gehüllt, neben seinem Anwalt auf der einen Seite des Tisches, die Mutter seiner Tochter, mit rosa Wollkäppi, auf der anderen. Wobei, „seine“ Tochter? Herr Hoffmann weiß ja sicher, dass er eigentlich gar nicht der Vater ist, dass er es nicht sein kann. Aber recht haben und recht bekommen – das alte Lied. Schließlich gilt § 1592 BGB, (2): „Vater eines Kindes ist der Mann, der die Vaterschaft anerkennt.“

Hoffmann war mit der Mutter seiner Tochter bis Januar 2013 zusammen: Über zehn Monate später, im November 2013, kam dann ein Kind auf die Welt. Trotzdem hat er die Vaterschaft noch vor der Geburt anerkannt, ist selbst zum Jugendamt, um zu unterschreiben. Jetzt sagt er, er sei getäuscht worden, die Wahrheit müsse ans Licht.

Die Richterin, schwarze Robe, weiße Perlenohrringe, heitere Augen und nüchterner Blick, kann ihn durchaus verstehen. Aber: Sie nimmt ihm nicht ab, dass er nicht von Anfang an wusste, dass er nicht der Vater ist, der leibliche zumindest, dass er der gar nicht sein kann. „Man kann bei erwachsenen Menschen davon ausgehen“, belehrt sie Hoffmann, „dass sie wissen, wie lange eine Schwangerschaft dauert.“ Dann diktiert sie ins Protokoll: „... hat selbst angegeben, in der gesetzlichen Empfängnisfrist keinen Geschlechtsverkehr mit der Mutter gehabt zu haben; es ist deshalb nicht erklärlich, warum er die Vaterschaft dennoch vor dem Jugendamt anerkannt hat.“

Es ist auch nicht wirklich erklärlich, warum Herr Hoffmann so spät dran ist: „Der Gesetzgeber“ räumt nämlich nur zwei Jahre Zeit für die Anfechtung der Vaterschaft ein, gerechnet ab dem Augenblick, in dem einem vermeintlichen Vater Dinge zu Ohren kommen, die Zweifel an seiner leiblichen Vaterschaft wecken.

Herr Hoffmann sagt, er habe Verantwortung übernehmen wollen. „Wenn die Ex-Freundin sagt, sie ist schwanger“, sagt er, „da freut man sich doch!“ Vielleicht, so klingt an, war die Anerkennung seiner Vaterschaft auch so etwas wie ein Freundschaftsdienst, wegen eines Aufenthaltstitels für die Mutter, die keine EU-Bürgerin ist.

Gerichtspräsident Christian Kunz warnt: „Die ganz aufregenden Fälle gibt’s hier nicht, Baby im Kühlfach oder so.“
Gerichtspräsident Christian Kunz warnt: „Die ganz aufregenden Fälle gibt’s hier nicht, Baby im Kühlfach oder so.“

© Mike Wolff

Überhaupt, fragt er die Richterin: „Wissen Sie denn etwa, mit wem Sie vor drei Jahren genau zu welchem Moment zusammen waren?“ Was ihm einen Blick einbringt, der nahelegt, dass die Richterin in dieser Frage eine ganz gute Übersicht hat.

Herr Hoffmann beharrt trotzdem darauf: Es sei nicht sein Kind. Und ein Kind solle doch wissen, wer sein Papa sei, schon wegen der Bindung. Ja, aber: „So ist nun mal das Gesetz“, bescheidet die Richterin. Herr Hoffmann versteht das nicht, er sitzt da, umwölkt von Groll, am Ende sagt er: „Ich glaube, die Wahrheit ist wichtiger als das Gesetz.“

Die Richterin kann ihm da nicht weiterhelfen: „Ich mache die Gesetze nicht“, sagt sie, „ich wende sie bloß an. Sie hätten sechs Monate eher kommen müssen, dann sähe die Sache anders aus.“ Und: „Irgendwann müssen Kinder Gewissheit haben, wer denn nun ihr Vater ist. Selbst mit einem Vaterschaftstest wäre es ja nicht anders.“

Herr Hoffmann – die Mutter sitzt während der ganzen Verhandlung bloß stumm daneben – zieht schließlich enttäuscht ab. Dann diktiert die Richterin noch zu Ende: „... der Kindesvater ... oh nee, das schreiben wir besser nicht, ich glaube, er kriegt die Krise, wenn da steht ‚der Kindesvater‘, weil das ist er ja gerade nicht...“

Oder doch. Die Vaterschaft jedenfalls nimmt das Gericht Herrn Hoffmann nicht mehr ab. Stattdessen legt man ihm noch die Pflicht zum Kindesunterhalt obendrauf, und ein Umgangsrecht, und die Möglichkeit, das Sorgerecht zu bekommen.

Kammerspielzimmer des Intimen

Man sieht es schon an der „Terminierung“, die draußen an der Saaltür hängt: Es gibt hier Unproblematisches, das im Schnellverfahren durchgewunken wird, und Vertracktestes, wo es trotz vierstündiger Verhandlung mit mehr als einem Dutzend Beteiligten nicht gelingt, am Ende eine tragfähige Lösung zu finden.

Einvernehmliche Scheidungen, knapp 5 000 im Jahr, werden im Zehn-Minuten-Takt angesetzt: Gerade genug, um die Personalien der Anwesenden festzustellen, den Zeitpunkt der Trennung, den Versorgungsausgleich zu regeln und die Rentenentgeltpunkte Ost und West gegeneinander aufzurechnen. Und um dann – „Bitte erheben Sie sich“ – doch kurz feierlich zu werden, für den Komplementärmoment zu jener Stelle, an der es bei Trauungen feuchte Augen gibt: „Die am soundsovielten geschlossene Ehe wird hiermit geschieden.“

Andere Verfahren, darunter im Jahr 2016 6400 Sorge- und Umgangssachen, 598 Vaterschaftsfeststellungen und 158 Verfahren zur Unterbringung von Minderjährigen, meist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sind langwieriger und schwieriger zu entscheiden, die Anhörungen ziehen sich, die Akten werden dicker, um das Leben der Betroffenen auch nur auszugsweise zu begreifen.

Die Architektur: bewusst bescheiden

Das Gebäude des Familiengerichts sei, so erzählt es Gerichtspräsident Christian Kunz stolz, bewusst nicht wie manche Gerichte des 19. Jahrhunderts als „Einschüchterungsarchitektur“ gebaut worden: kein turmhohes Eingangsportal also wie etwa im Amtsgericht Tiergarten, unter dem sich der Eintretende als machtloser Winzling gegenüber dem Rechtsstaat fühlt. Stattdessen Architektur, die auf Einigung hinwirken will: die Gerichtssäle keine dramatischen Theaterbühnen mit Publikum wie im Strafgericht, sondern Kammerspielzimmer des Intimen für die sämtlich nicht-öffentlichen Familienverfahren, über die auch in diesem Text nur mit geänderten Namen und, auf Wunsch einiger Beteiligter, die einzeln ihr Einverständnis geben mussten, teilweise geänderten biografischen Details berichtet werden darf.

Die Gerichtssäle, eher bürogroßen Zimmern gleich, gehen von einem quadratisch gefliesten Atrium ab, in dem die Parteien nebeneinander auf den Aufruf warten, wie ein Forum, damit man sich noch einmal beraten und vielleicht ja eine gütliche Einigung ansteuern kann.

In den Gerichtssälen sitzt man sich eher gegenüber, als dass sich das Gericht vor einem aufbaut und von oben herab Recht spricht: Das sei Ausdruck des Respekts vor den Prozessbeteiligten, so Kunz, den man in diesem als Familiengericht exemplarisch gedachten Gebäude auch baulich ausdrücken wollte. Anfangs wurde das kontrovers aufgenommen: Soll denn etwa das Gericht, fragten sich manche, sollen die Richterinnen und Richter auf gleicher Ebene sitzen wie die Antragsteller und -gegner, wie um einen runden Tisch herum?

Heute trennt eine buchrückenhohe Holzbarriere die Tischseite der Richter von jener der „Verfahrensbeteiligten“, und eine Handbreit Höhenunterschied eines kaum sichtbaren Podests markiert, wo das Gesetz sitzt und wo die Sich-Streitenden.

Das spiegelt auch den Umstand wider, dass es hier keine Angeklagten gibt, nur Antragsteller und Antragsgegner, und dass es nicht um „schuldig“ oder „unschuldig“ geht. Das Gericht richtet nicht stur, sondern versucht vielmehr, das Verstrickte zu entwirren und das ganz Verfahrene in Richtung eines Auswegs, einer Lösung zu bewegen.

Die zweite Verhandlung

10 Uhr, Sitzungssaal F 235, aufgerufen wird die Familiensache Aktenzeichen 153 F 1791 V aus 16, Sorgerecht und Umgang. Der Antragsteller, Herr Vogel, mit graumeliertem Stoppelbart, erscheint ohne Anwalt und schon fünf Minuten vor der Zeit. Er ist von Zigarettenrauch durchdrungen und vom Wunsch, endlich seine Tochter wiederzusehen. Hat deswegen die gemeinsame elterliche Sorge und eine Umgangsregelung beantragt.

Die Kindesmutter, Frau Färber, schlank und blass, ist dagegen. Ihre Miene angespannt, die Jacke eng geschlossen. „Die Sache hat durch die jüngsten Anträge wohl noch zusätzlich Fahrt aufgenommen“, sagt die Richterin, wobei sie mit „der Sache“ den anschwellenden Elternzwist fast wieder auf ein alltägliches Maß herunterstuft.

Die, die aus Frau Färber und Herrn Vogel in der Anschauung des Gerichts erst eine Familie macht, ihre Tochter Ines, ist ebenfalls geladen und wartet unten im Kinderhaus auf ihre Anhörung. Dann wird die Verhandlung eröffnet. Zuerst ein bisschen Smalltalk der Richterin, um ein Gespräch zu beginnen, das Eis zu brechen: „Heute ist ja auch Nikolaus, aber das ließ sich leider nicht vermeiden ...“ Das sorgt, wenn nicht für Lacher, so doch für Bemühungen in Richtung eines Lächelns. Dann wird ein Bericht des Jugendamts verteilt, eine Art Bestandsaufnahme der familiären Zustände. Der Vater hat dazu schon eine Erwiderung geschrieben und will gleich Belege für seine Gesprächsbereitschaft hinterherreichen. „Das brauchen Sie erst mal nicht“, meint die Richterin, „wir werden das in Ruhe besprechen.“

Jetzt setzt sie aber erst einmal richtig an: „Worum geht es heute?“ Herr Vogel legt sofort los: „Es geht darum, dass ich meine Tochter ...“ Die Richterin fällt ihm ins Wort: „Entschuldigung, aber das war eine rhetorische Frage. Also, es geht um Ines, ihre Tochter, zehn Jahre alt ...“

Kein Abgrund, nirgends. Selbst, was Familien als persönlichen Abstieg empfinden, soll hier auf eine neue Ebene geführt werden.
Kein Abgrund, nirgends. Selbst, was Familien als persönlichen Abstieg empfinden, soll hier auf eine neue Ebene geführt werden.

© Mike Wolff

Um die geht es. Ines’ Vater, mit randloser, etwas schief sitzender Brille, Salz-und-Pfeffer-Sakko und braun-bequemen Mephisto-Lederschuhen, die Berichte, Ladungen, Stellungnahmen in einer Jutetasche neben sich auf einem Stuhl, möchte die gemeinsame elterliche Sorge, damit, wenn etwas passiert, er auch als Vater handeln kann, § 1626 BGB, (1): „Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge).“ Dem kann auch die Richterin erstmal einiges abgewinnen, die gemeinsame Sorge ist ja auch als Ziel „vom Gesetzgeber“ so vorgesehen, und für Ines wäre sie wahrscheinlich auch grundsätzlich das Beste.

„Aber“, und das ist das Aber, weswegen sie alle heute hier sitzen, weswegen Frau Färber und Herr Vogel ihr Familienleben jetzt vor der Richterin ausbreiten, „aber dazu ist es notwendig, dass Sie lernen, besser zu kommunizieren und Ines aus Ihren Auseinandersetzungen rauszuhalten. In letzter Zeit ist da ja einiges aus dem Ruder gelaufen.“

Aus dem Ruder gelaufen, das heißt ja, wörtlich, dass das Familienschiff nicht mehr mit seinem Ruder steuerbar ist, dass es gefährlich schaukelt und schlingert, dass der familiengerichtliche Schiffbruch droht: Kontaktabbruch, Umgangsausschluss, Entziehung des Sorgerechts.

„Herr Vogel, Sie, zum Beispiel, wollen nicht mit Frau Färber sprechen? Haben Ihre Nummer blockiert?“ Herr Vogel bestreitet das: „Hier, eine Aufstellung meiner Briefe, aber die hat ja nicht geantwortet.“ Frau Färbers Anwältin versucht, sachlich zu bleiben: „Nun, es war nicht immer einfach, bisher, in Kommunikation zu treten, zum Beispiel wenn Sie verlangen, dass Frau Färber Sie siezt.“ Der Vater nickt nur. „Das Du bleibt Freunden vorbehalten“, sagt er. Und: „An mir liegt’s nicht.“ Was wohl als Zeichen dafür gelten kann, dass „es“ zumindest auch an ihm liegen könnte.

Die Mutter berichtet nun, der Vater sei nun mal eine „hochproblematische“ Persönlichkeit. Und ihre Tochter Ines habe gesagt: „Ich will nicht mehr eure Stromleitung sein!“ Die Verfahrensbeiständin, die hier als „Anwältin“ der Tochter sitzt, hat ebenfalls mit Ines gesprochen und kann bestätigen, dass diese derzeit keinen Umgang mit dem Vater will. Aber das sei vorübergehend: „Wenn Sie jetzt ein bisschen Zeit verstreichen lassen, dann vergisst sie die schlechten Dinge, erinnert sich an die guten und fasst Vertrauen für einen Neubeginn.“ Worauf die Mutter einhakt: „Und dann kommt gleich die nächste Verletzung.“ Herr Vogel brummt: „Das ist der O-Ton Mutter.“

Der O-Ton Vater hingegen sei es, so Frau Färber, Ines über WhatsApp zu schreiben: „Du lügst genau so wie deine Sch***mutter.“ Da hakt auch die Richterin ein: „Haben Sie das wirklich geschrieben?“ Der Vater versucht immerhin, da irgendwie rauszukommen: „Ja, aber ich dachte an ,schöne‘ Mutter ...“ Dann sagt er: „Sie müssen sich in meine emotionale Lage versetzen. Ich habe ja auch Fotos, Videos. Aber lassen wir das.“

Was kann ein Gericht für Ines und für Herrn Vogel und Frau Färber überhaupt tun? Wie kann das Familienschiff wieder auf Kurs gebracht werden? Fast immer versucht das Gericht als Erstes, die Eltern beraten zu lassen, in „Elterngesprächen“, zuerst einzeln, dann zu zweit, bei Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Damit der eine den anderen wieder hört, destruktive Schleifen zu vermeiden lernt und nicht sofort bei allem böse Absicht unterstellt.

Herr Vogel kann dem nicht viel abgewinnen: „Wir sind zehn Jahre ohne Psychologen ausgekommen“, murrt er, „dann brauchen wir das jetzt auch nicht.“ Und fragt, was er denn sonst noch machen könne, um wieder Kontakt zu bekommen.

Die Richterin versucht, die Karotte „Umgang“ einzusetzen, damit der Vater auch den Weg dorthin sieht, und warnt zugleich: „Wenn Sie weitermachen wie bisher, wird Ihre Tochter auf jeden Fall leiden.“ Denn: Es gebe offensichtlich noch unbewältigte Konflikte auf der Paarebene. „Sie müssen auf die Elternebene kommen“, sagt sie, „Sie sind kein Paar mehr, aber Sie sind Eltern und werden auch Eltern bleiben. Was Sie lernen müssen, ist, Ihr Kind da rauszuhalten.“ Wobei das, woraus Ines rausgehalten werden sollte, bei Frau Färber und Herrn Vogel nicht körperliche Gewalt ist, sondern gegenseitige Anschuldigungen, Beschimpfungen, Unterstellungen, die Nachwehen ihrer Beziehung und deren Umschlagen in Streit, das Gezerre um Ines. Es gehe dabei nicht um Psychologie, sagt die Richterin noch, sondern darum, wieder ins Gespräch zu kommen. Also gut, sagt der Vater, wenn es der Sache diene, wolle er sich nicht verwehren. Dann geht die Richterin ins Kinderhaus, um Ines anzuhören.

In der Unterbrechung – eine kurze Zigarette oben auf dem Dach des Gerichts ist drin – meint der Vater: „Gegen die Mütter sind Sie machtlos, ich kenne das Spiel. Die Tochter ist von der Mutter abhängig, na klar, und wird von ihr instrumentalisiert. Die Mutter hat einen Neuen und will den als Papa installieren. Was soll das Gericht da tun? Gespräche, Beratung, mehr fällt ihnen nicht ein.“

Die Mutter hingegen, sie sitzt in einer der Beratungsecken, die zwischen den Gerichtssälen liegen, denkt, der Vater mache jetzt gute Miene zum bösen Spiel. „Ich gebe ihm zwei Monate, dann rastet er wieder aus.“

Dann kommt die Richterin zurück und findet erst einmal: „Sie haben ein wirklich sehr, sehr nettes Kind! Sie hat gerade mit einer Ritterburg gespielt und Sterne gebastelt.“

Kind-im-Blick-Kurs

Warten. Vor einem Saal des Familiengerichts.
Warten. Vor einem Saal des Familiengerichts.

© Mike Wolff

Dann berichtet sie, was die Zehnjährige ihr erzählt hat: „Also, Ines will Taucherin werden, ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, ans Meer zu fahren und eiszulaufen. Sie will auch irgendwann den Papa gerne sehen. Aber der Papa sagt Sachen wie, dass die Mutter ,eine bescheuerte Mutter‘ ist, eine ,Scheißmutter‘. Und er schreit. Selbst hat Ines das allerdings nicht erlebt. Ich habe ihr gesagt, dass der Papa jetzt in eine Elternschule gehen wird.“

Und sie habe Ines noch eine Frage gestellt: „Stell dir vor, ich bin eine gute Fee, und du hast drei Wünsche frei. Was würdest du dir wünschen?“ Ines’ Antwort: „Erstens, dass die Oma wieder lebendig wird. Zweitens, dass ich am Meer bin, ohne Stress. Und drittens, dass die Eltern wieder zusammen sind und der Papa sich ändert.“

„Das“, sagt die Richterin, „ist der Auftrag Ihrer Tochter an Sie. Die Dinge zu verbessern.“ Herr Vogel muss tief schnaufen. Das hat gesessen.

Schließlich stimmen beide Elternteile zu, zunächst getrennte Eltern-Beratungsgespräche zu führen und an einem „Kind-im-Blick-Kurs“ teilzunehmen, wie es die Richterin ins Protokoll diktiert. Dort steht auch noch: „Wir sind uns einig, dass das Ziel der Gespräche die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge sein soll.“

Gewiss hätten das die Eltern alleine so nicht gesagt und so nicht hingekriegt. Und vielleicht ist auch noch gar nichts gelöst, vielleicht ist der „Schuss vor den Bug“, den die Richterin abfeuern wollte, weitgehend ungehört verhallt.

Am Ende fragt Herr Vogel: „Und wann kann ich jetzt mein Kind wiedersehen?“ Da setzt die Richterin gleich die nächste Verhandlung an, nach einer ersten Runde von Elterngesprächen, für den Februar. „Zum Beispiel am 14.? Aber da ist ja Valentinstag, vielleicht ist das nicht so geeignet ... Also dann, lieber die Woche drauf?“

"Ich habe dich lieb, was auch immer passiert."

Das kleine „Kinderhaus“, in dem Ines auf ihre Eltern wartet, ist dem Haupthaus an die Seite gestellt, und – wie ein Anhängsel – nur durch einen dünnen Steg mit ihm verbunden. Hier liegt vielleicht die eigentliche Mitte des Gerichts: Die Kinderzeichnungen an den Wänden hier sind das einzig Runde, Kritzelige, Kugelige im ganzen quadratisch-rechtwinkligen Gebäude, bunte Zeugnisse des Wartens, des Zeitvertreibs, des Bastelns und Spielens mit Frau Drogi, die sich als Erzieherin um die Kinder kümmert.

Jeder Tag ist im Kinderhaus anders, das findet Frau Drogi „spannend“: Es kann stundenlang keiner kommen und dann kommen auf einen Schlag drei Kinder unter Strom. Blitzschnell muss sie sich auf einen Neuzugang einstellen, spüren, wie es „dem kleinen Menschen“ geht, was er braucht.

Und Frau Drogi strahlt eine Herzensruhe aus, bei der man denkt: Selbst wenn es ganz arg kommt, kann man sich auf sie verlassen. Die Eltern sind ja oft ziemlich durch den Wind, wenn sie hier vor ihrem Verhandlungstermin ankommen: Auf der Ladung steht, sie sollen das Kind mitbringen, hier abgeben, sonst droht „Zwangsgeld“, da wird vielen gleich bang.

Bei manchen, da merkt Frau Drogi schon, wenn sie sich verabschieden („Ich hab dich lieb, was auch immer passiert ...“), dass sie das Kind vielleicht so schnell nicht wiedersehen werden. Eine Inobhutnahme, der Schiffbruch für die Eltern und für die Kinder, gibt es jedes Jahr mehrere Male: Die Eltern geben ihre Kinder ab, drücken sie zum Abschied und dann entscheidet jenseits des Stegs ein Richter über die Zukunft der Familie und gibt im Kinderhaus Bescheid, wenn der Nachwuchs nicht mehr herausgegeben werden darf.

„Da gibt’s immer Tränen“, sagt Frau Drogi, deren Arbeit es ist, eben diese zu trocknen. Nur wenn die Eltern sich gar nicht mehr unter Kontrolle haben, muss auch mal ein Justizwachtmeister ins Kinderhaus gerufen werden.

Manche Kinder sieht Frau Drogi wieder, zweimal, dreimal, öfter, sie nennt sie „meine Wiederholungstäter“: Auch im Ausnahmezustand kann eine Form von Routine einkehren. „Die freuen sich“, sagt sie, „wenn sie wiederkommen dürfen.“

Gut gelaufen ist ein Tag für Frau Drogi immer dann, wenn die Kinder bei der Abholung sagen: „Oh nee, ist es schon Zeit?“

Die dritte Verhandlung

Im Saal F 231, es ist 11.20 Uhr, stößt das Familiengericht an seine Grenze. Diese Grenze heißt Matthias, ist 15 und will den Vater schon seit fünf Jahren nicht mehr sehen. Eine psychologische Gutachterin, die über Matthias und seine Eltern berichtet, sagt: „Egal, was Sie hier beschließen, Matthias wird es nicht tun.“

Matthias’ Vater, Herr Ziegler, mit dicker Brille und Spiegelglatze, sieht selbst ein, dass ein Umgang mit dem Sohn nicht zu erzwingen ist. Eine Zeit lang hatte er sogar überlegt, ihn zur Adoption freizugeben, weil er weiß, dass das Ringen den Sohn immer weiter belastet.

Aber dann hat er es mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der der Sohn ihn ablehnt, doch weiter versucht: einen neuen Antrag gestellt, ein neues Verfahren angestrengt, mit der Mutter, heute im Strickpullover und mit langen grauen Haaren, noch einmal neue Beratungsgespräche versucht, obwohl die Gutachterin zwischen ihnen „unüberbrückbare Gräben“ ausgemacht hat. Weil, und dazu bekennen sich alle im Saal, es für Matthias gut wäre, seinen Widerstand zu überwinden. Und weil es dafür eine Annäherung, eine Entspannung zwischen den Eltern bräuchte.

Kindswohl. Im Spielzimmer werden die Kinder zuweilen von den Richtern aufgesucht, um angehört zu werden.
Kindswohl. Im Spielzimmer werden die Kinder zuweilen von den Richtern aufgesucht, um angehört zu werden.

© Mike Wolff

Matthias sei ein besonderes Kind, sagt die Gutachterin: Ins Gespräch komme man mit ihm überhaupt nur, wenn man seinen Widerstand gegen die Begutachtung anspreche. Gerichtlich sei in diesem Fall nichts zu erreichen. Jedes neue Verfahren, jeder neue Zwang könnte Matthias’ Abwehrhaltung noch weiter verstärken.

In Matthias’ Alter, mit 15, sagt die Richterin, gelte es, den „Kindeswillen“ zu beachten, der sei klar, auch wenn er vielleicht in den Augen des Vaters nicht zu Matthias’ Bestem sei. Und: Sie könne Herrn Ziegler durchaus verstehen. „Ich weiß, wie frustrierend das sein muss!“ Worauf dieser entgegnet: „Ich brauche Ihr Mitleid nicht!“

Ziegler findet vielmehr: „Man kann doch nicht sagen: Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und da lassen wir es jetzt.“ Man müsse doch das Ursache-Wirkungs-Verhältnis sehen und die Ursache für alles sei ja wohl immer noch, dass auch 100 Stunden Elterngespräche die Einstellung der Mutter nicht geändert hätten: ihren Unwillen, Umgang zuzulassen, auch wenn sie andere „Lippenbekenntnisse“ abgebe.

Matthias ist bei einem Kinderpsychiater in Behandlung, aber den findet Herr Ziegler voreingenommen: Er sei überzeugt, dass er, der Vater, Matthias geschlagen habe, aber das stimme nicht! Und die Gutachterin habe auch bestätigt, dass es nicht stimme! „Ich schwöre!“, sagt Herr Ziegler, worauf er aus einer mitgeführten Plastiktüte zwei sich lasch biegende, selbst gebastelte Kartonschwerter zieht: „Nur damit haben wir einmal gekämpft! Wie es alle Väter mit ihren Söhnen tun...“

"Wie sich die Leute verbeißen", sagt die Richterin.

Warum macht Herr Ziegler das alles? Sechs Jahre Rechtsstreit, warum tut er sich, seiner Ex-Frau, seinem Sohn das an? Aus der Überzeugung, sagt er, dass sein Sohn später einmal sehen werde, „dass ich für ihn gekämpft habe“. Auch wenn dieses Kämpfen bisher die Entfernung zum Sohn nur noch vergrößert hat.

Ziegler ist kein Anwalt, hat auch keinen Anwalt dabei, aber er zitiert Paragrafen, stellt Anträge, besteht auf seinem Recht, trägt „sorgerechtsrelevante“ Zusammenhänge vor. Es scheint, als habe er keine Arbeit, keine andere Beschäftigung als diesen Rechtsstreit, zu dem er sich immer neues Wissen im Internet anliest, in Foren für Menschen, die am Familienrecht zerbrochen sind, beim „Väternotruf“ etwa, dessen Mitglieder sich in einem Unrechtsstaat wähnen, in dem Väterrechte beschnitten werden.

Aber man kann ein Seil nicht schieben und das Gericht kann Matthias nicht zwingen, seinen Vater zu treffen, wenn er das nicht will. Die Richterin bescheidet Herrn Vogel am Ende, diesmal ohne Mitleid: „Sie können Ihre Anträge stellen, aber ohne Aussicht auf Erfolg.“ Denn: „Schulbesuch können Sie erzwingen, Liebe nicht.“

Die Klientel, so schätzt ein Richter, sei zu 70 Prozent auf Hartz IV angewiesen. Zwischen dem Gericht und denen, deren Angelegenheiten hier ausgebreitet werden, klafft ein sozialer Unterschied. Hier die herauswachsende Tönung, vier Zentimeter grau, danach rötlich, auf der anderen Seite die Perlenohrringe, es treffen sich zwei Lebenswelten, was das Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen auf die Probe stellen kann.

Kinder haben sowohl die Richter als auch die streitenden Eltern. Das hilft manchmal, und trennt zugleich. Etwa, wenn eine Richterin einen augenscheinlich desinteressierten Vater anspornen will, er solle sich doch für seinen Sohn mehr einsetzen: „Wenn meiner in der Schule gemobbt wird“, sagt sie, „da schleppe ich doch gleich meinen Mann zur Schulleitung und dann wird Tacheles geredet!“ Es könnte aber auch sein, dass man sie dort anders empfängt als den Herrn mit Arbeitshose und Ohrring, der vor ihr sitzt.

Später sagt sie: „Wie sich die Leute verbeißen, ich hab das ja erst verstanden, als Freunde von uns, beide Ärzte, sich genau so verrannt haben.“

Die vierte Verhandlung

Manchmal – im Saal F 234 ist die Verhand. lung auf 11.30 Uhr mit offenem Ende angesetzt – muss aber auch das ganz große Besteck auf den Tisch: Inobhutnahme, Sozialdienste, Notfalleinrichtungen, das ganze Farbspektrum des staatlichen Eingreifens ins familiär Entgleiste. Nicht erst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, sondern eher, um es noch im letzten Augenblick an der Hand zu fassen.

Ismail, sieben Jahre alt, hat man schon halb im Fall noch erwischt und wegen des Verdachts auf körperliche Misshandlung durch die Mutter in Fremdunterbringung gegeben. Fast eineinhalb Jahre hat er seitdem in einer Notfalleinrichtung verbracht, in der eigentlich ein sechswöchiger Aufenthalt die Höchstdauer sein sollte.

Zur Verhandlung erscheinen seine Mutter, sein Vater, jeweils mit Anwälten, ein psychologischer Gutachter, eine Vertreterin des Jugendamts, eine Verfahrenspflegerin, der Leiter der Noteinrichtung, Ismails Großmutter, die selbst eine Anwältin hat, und eine Übersetzerin: 15 Leute füllen den Saal für die vierte Verhandlung in zwei Jahren, auf den Tischen liegen Gutachten auf Gegengutachten, Einlassungen und Erwiderungen, Anträge und Gegenanträge.

Der Vater, Herr Hakim, spricht Dänisch, eigentlich ist er Iraner, die Mutter, Frau Aswad, ist Deutsche mit irakischer Familie. Alle sind sie Berliner, trotzdem macht die Weltpolitik das Verfahren zumindest nicht einfacher.

6500 Sorge- und Umgangssachen im Jahr.
6500 Sorge- und Umgangssachen im Jahr.

© Mike Wolff

Herr Hakim, augenscheinlich Geschäftsmann, im blauen Anzug, mit aufgeknöpftem Hemd und gepflegt gestutztem Bart, leidet mit seinem Sohn, er möchte sich kümmern, ihn zurückhaben, ihn vor der Mutter in Schutz nehmen. Er selbst, sagt er, könne einen Wettbewerb mitmachen, wer der beste Papa der Welt sei, auch wenn er seinen Sohn in den letzten Monaten nur selten besucht habe – ein Verwandter sei bei einem Anschlag in Bagdad verletzt worden, erklärt er.

Der Vater neigt zur großen Geste. „Ich bitte Sie alle“, sagt er, satzweise durch die Übersetzerin verdeutscht, „Ismail nicht in diese Hölle zurückzuschicken!“ Die Mutter habe Ismail versprochen, ihn nicht mehr zu schlagen. „Aber Sie brauchen sich ja nur die Polizeiberichte anzugucken, was da alles passiert!“ Tatsächlich gab es einige Vorfälle, vor allem zwischen der Mutter und ihrem neuen Partner, das letzte Mal musste die Polizei im September vorbeischauen.

Der Staat ist trotzdem anderer Meinung als Herr Hakim, er hat eingegriffen, und er glaubt, dass der Eingriff gut war. Das Jugendamt findet, dass die Mutter an sich gearbeitet hat und sich bemüht, mit ihren Konflikten und Problemen offen umzugehen. Sie habe sich auch wieder mit ihren Eltern versöhnt, jetzt müsse eine Entscheidung her und eine „Rückführung“ Ismails zu seiner Mutter sei die beste Lösung. Diese Chance nicht zu nutzen, das wäre fahrlässig.

Da will der Vater alles hinwerfen und gehen, er macht Anstalten, aufzustehen.

Dann fragt er, an die Vertreterinnen des Jugendamts, die Verfahrenspflegerin, die Richterin gewandt: „Also wären Sie alle bereit, eine Garantie zu unterschreiben, dass mein Sohn nie mehr misshandelt wird?“ Und sagt, die Geste unvermindert groß: „Sie arbeiten mit Papier, aber es geht hier um das Leben meines Sohnes!“

Die Anwältin des Vaters nimmt dann den Gutachter in die Mangel, der zwar bei der Mutter ein „erzieherisches Fehlverhalten punktueller Art“ festgestellt hat – eine Ohrverletzung konnte nicht letztgültig zugeordnet werden–, aber eben auch dem Vater „Desinteresse“ an seinem Sohn bescheinigt und „fehlende Bindungstoleranz“ der Mutter gegenüber, das heißt mangelnde Bereitschaft, die Beziehung seines Sohnes zur Mutter zu respektieren und zu unterstützen.

Im Gutachten ist vom sozialen Vater die Rede, dem Stiefvater, was den leiblichen Vater irritiert: „Was bin ich denn dann?“, ruft er. „Der asoziale Vater?“ Die Mutter, mit langen schwarzen Haaren, geschminktem Schmollmund und schwarz lackierten Fingernägeln, versucht, sich zurückzuhalten. „Es hat ja keinen Zweck“, beruhigt sie auch ihr Anwalt, aber irgendwann kann sie nicht länger zuhören: „Hüte dich!“, warnt sie den Vater. „Ismail ist mein Sohn! Ich mache ’ne Therapie, ’ne zweite Therapie, was soll ich denn noch machen, um ihn zurückzubekommen? Du warst ja nie da!“

„Du warst da“, schießt der Vater zurück, „und hast ihn jahrelang misshandelt.“ Woran sich ein kürzeres Schreiduell anschließt. Die Richterin lässt das eine Weile zu. „Sie haben vielleicht ein anderes Temperament als Nordeuropäer“, sagt sie dann, „aber jetzt beruhigen wir uns alle wieder.“

Sie würde auf eine Anhörung Ismails verzichten. Nur wenn die Anwältin des Vaters darauf besteht, muss sie gemacht werden. Da fängt die Mutter an zu weinen. „Ismail geht kaputt“, schluchzt sie. „Er kann nicht mehr. Er wurde schon zweimal angehört, er wird einfach nicht kommen, eher wird eine Bombe platzen.“

Die Bombendrohung wird geflissentlich überhört. Dann schlägt der Vater vor, dass Ismail bei seiner Großmutter wohnt, da sei er behütet. Doch das will die Mutter nicht. Die Richterin versichert dem Vater, der Staat werde, weil Ismail schon einmal in Obhut war, mit „Argusaugen drauf schauen“, dass nicht noch einmal etwas passiert.

"Gebt acht!"

Nach fast drei Stunden zähen Ringens endet die Verhandlung, eher weil die Streitenden zunehmend ermatten, denn weil sie sich auf eine Lösung geeinigt hätten. Ismail wird wohl in den Haushalt der Mutter zurückkehren. Nicht weil sie einen Wettbewerb zur besten Mama gewonnen hätte, sondern weil es in der derzeitigen Lage wohl für ihn das Beste ist. Der Staat wird seine Argusaugen auf die Mutter gerichtet halten, mit dem Vater soll der Sohn Umgang haben, begleitet, damit dieser weder die Mutter noch ihren neuen Partner treffen muss. Am Ende wird noch der Umgang der Großmutter mit Ismail festgeschrieben, immer samstags, wenigstens hier sind sich alle einig: „Die Großmutter ist berechtigt und verpflichtet...“

Ismails Eltern stehen nach der Verhandlung noch eine Weile verloren draußen auf dem Gang. Weder können sie sich zum Gehen entschließen noch dazu, sich einander zuzuwenden. Um sie herum fügen sich die quadratischen Fliesen, Bänke, Treppen zusammen wie eine Kulisse aus rechten Winkeln, Karos, Schachbrettmustern, ein ganzes Gericht ist daraus gebaut, kubisch-geometrisch.

Ob der Architekt sein Quadratgericht als Antwort auf die Urform des Familiengerichts verstand, den Kreis? Jenen kaukasischen Kreidekreis, den Brecht seinen Richter Azdak auf den Boden zeichnen lässt, um unter zwei Müttern, die an einem Kind zerren, die falsche zu erkennen? Mutterliebe, so Azdaks Kalkül, zeige sich darin, dass die echte Mutter ihr Kind loslasse, um ihm kein Leid zu tun.

Hier, am Halleschen Ufer, wo die Quadratur des Kreidekreises Programm ist, sind die Eltern in aller Regel echt. Und doch lässt keiner los. Aber dieses Gericht sagt nicht wie Azdak: „Zieht!“ Sondern will vermitteln: „Gebt acht!“

Pepe Egger

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