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Auf den Barrikaden. Tausende Polizisten waren im Einsatz, als am 13. November die Mainzer Straße geräumt werden sollte. Die Gewalt eskalierte, auf beiden Seiten gab es zahlreiche Verletzte. 352 Hausbesetzer und Sympatisanten wurden in der Nacht festgenommen. Der Regierende Bürgermeister bezeichnete diese am nächsten tag als „Mörderbande“.

© Stefan Noack

Berliner Geschichte: "Herr Momper, Ihre Stadt brennt"

Vor 20 Jahren erlebte Berlin die schlimmste Straßenschlacht der Nachkriegszeit. Tausende Polizisten räumten die von Hausbesetzern abgeriegelte Mainzer Straße, an dem Einsatz zerbrach der rot-grüne Senat. Vier Zeitzeugen, die auf unterschiedlichen Seiten standen, erinnern sich.

DER BESETZER: FREKE OVER

Die Begeisterung ist Freke Over bis heute anzumerken, wenn er von seiner Zeit in der Mainzer Straße spricht. „Das war der kurze Sommer der Anarchie“, sagt der 42-Jährige, der zu den Besetzern der Mainzer Straße 7 gehörte, dem sogenannten „Sponti-Haus“. Over, der zuvor auf einer Landkommune in Westdeutschland gelebt hatte und 1989 nach Berlin kam, gehörte zu den Sprechern der damals besetzten Häuser. Seine stärksten Erinnerungen an jene Zeit sind schön: „Das waren sechs Monate selbstbestimmtes Leben in einer großen Gruppe“, sagt er. Und spricht davon, wie viel Solidarität man auch von den Nachbarn und Unterstützern erhalten habe, die Kleider und Möbel für das Experiment Mainzer Straße spendeten.

„Die Mainzer“, wie die Straße damals genannt wurde, war in jenem Sommer und Herbst vor 20 Jahren zum politischen Symbol geworden: Rund 300 meist jüngere und größtenteils aus dem Westen stammende Menschen lebten in einer Reihe ehemals leerstehender und nun besetzter Gebäude in einem weitgehend rechtsfreien Raum. Sie träumten in den aufregenden Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung vom selbstbestimmten, linksalternativen Leben. Zwischenzeitlich gab es hier und in anderen Teilen Ost-Berlins 150 besetzte Häuser – eine Utopie schien Wirklichkeit geworden zu sein, mit der Mainzer Straße als Zentrum der Bewegung.

Der Traum endete für Freke Over und seine Mitstreiter abrupt. Nachdem Verhandlungen über eine Legalisierung der Besetzungen Anfang November gescheitert waren, wurden in der Nähe der Mainzer Straße einige Häuser von der Polizei geräumt. Das provozierte militante Gegenreaktionen der Besetzerszene – und zwischen dem 12. und dem 14. November 1990 die wohl härtesten Straßenschlachten Berlins seit der Nachkriegszeit. „Das war das Schlimmste, was ich je an Gewalt erlebt habe“, sagt Over. Mit Gewalt meint er vor allem die der Polizei, die ihn und seine Mitstreiter in jenen Tagen mit Gummigeschossen, Gasgranaten und Blendschockgranaten attackierten. Den Vorwurf, auch Protestler hätten sich unverhältnismäßig gewalttätig verhalten, kontert er damit, dass die Bewohner der Mainzer angegriffen worden seien; man habe sich nur verteidigt. Und die Gehwegplatten, die auf Polizisten geworfen wurden? Ein Gerücht, winkt Over ab. Um die Besetzer zu diskreditieren.

Nach der Mainzer zog Over von Hausprojekt zu Hausprojekt – bis schließlich alle geräumt waren. Die Mainzer Straße aber verwandelte sich für ihn schon damals zum „Fremdkörper im Kiez“. Um die Häuser vor künftigen Besetzungen zu schützen, rückten bald nach der Krawallnacht die Bauarbeiter an und verwandelten die Mainzer in die erste sanierte Straße Friedrichshains nach der Wende. „Inzwischen ist das nur noch eine ganz normale Straße.“ Auch in Overs Leben kehrte allmählich Ruhe ein: Bis 2006 saß er drei Legislaturperioden für die PDS als direkt in Friedrichshain gewählter Politiker im Abgeordnetenhaus. Heute betreibt er mit seiner Frau und Familie in Brandenburg die Kinder- und Familien-Erholungsstätte „Ferienland Luhme“. In Rheinsberg macht er als Stadtverordneter der Linken Kommunalpolitik.

Mit dabei. Nach der Räumung kündigte Renate Künast (r.) die rot-grüne Koalition mit Bürgermeister Walter Momper auf.
Mit dabei. Nach der Räumung kündigte Renate Künast (r.) die rot-grüne Koalition mit Bürgermeister Walter Momper auf.

© Mrotzkowski

DER SENATSCHEF: WALTER MOMPER

„Mörderbande!“ So nennt Walter Momper bis heute diejenigen, die mit Pflastersteinen und Gullydeckeln auf Polizisten warfen oder unter den Dächern große Glasballons mit Benzin und Öl lagerten, aus denen Molotowcocktails hätten werden können. Wenn er etwas bereue, so der ehemalige Regierende Bürgermeister und heutige Präsident des Abgeordnetenhauses, dann die Tatsache, dass der Staat nicht schon eher eingeschritten sei. Den Einsatz an der Mainzer Straße, der wegen des folgenden Streits mit den Grünen seine Zeit als Regierungschef beendete, verteidigt Momper bis heute – wenngleich er sich ärgert, dass er selbst immer als Hauptverantwortlicher benannt wird. „Ich war damals ja gar nicht in der Stadt, ich war in Moskau“, sagt Momper. Am 13. November 1990 kam der deutsche Botschafter auf ihn zu und sagte: „Ihre Stadt steht in Flammen.“ Als Momper nach Berlin zurückkehrte, am Abend vor der Räumung, da hätten andere Verantwortliche wie der Innenstadtrat Thomas Krüger und Tino Schwierzina, der letzte Oberbürgermeister von Ost-Berlin, die Räumung schon längst politisch in die Wege geleitet.

Dass die Grünen unter ihrer Abgeordnetenhaus-Fraktionschefin Renate Künast tags darauf die Koalition für gescheitert erklärten, hält Momper weniger für eine zwangsläufige Folge der Räumung der Mainzer Straße. Er ist sicher, dass die Grünen sich damals verkalkulierten. Bundespolitiker wie Christian Ströbele hätten sich durch den Koalitionsbruch einen Zugewinn bei den bevorstehenden Wahlen erhofft – vergeblich allerdings. Dass Künast, die den Bruch mit der SPD verkündete, jetzt für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin kandidiert, sieht Momper mit einem Schmunzeln: „Ich hoffe, sie ist klüger geworden und wiederholt nicht ihre Fehler von damals“, sagt er. „Aber ich rechne immer mit der Besserungsfähigkeit der Menschen.“

DER SYMPATHISANT: HARALD WOLF

Nein, einen Koffer in der Mainzer Straße hat Harald Wolf nie gehabt. Vor 20 Jahren lebte der Politiker in Kreuzberg. Er hatte gerade den Vorstand des Grünen-Vorläufers Alternative Liste verlassen und wollte für die nächste Abgeordnetenhauswahl als PDS-Kandidat antreten. Aber Wolf trieb sich nach der Wende oft in Friedrichshain herum, um für die besetzten Häuser „Solidaritätsarbeit“ zu leisten, wie er es nennt. So erklärt sich, dass der heutige Wirtschaftssenator nach der Straßenschlacht um die Mainzer unter den 352 Festgenommenen war.

Wolf gehörte damals zu jenen, die versuchten, die Räumung durch Gespräche zwischen Bezirk, Senat und Besetzern noch abzuwenden. Als die Verhandlungen scheiterten, besuchte der damals 34-Jährige mit seinen politischen Weggefährten – darunter auch die Bürgerrechtler Bärbel Bohley und Reinhart Schult – ein besetztes Haus, um gegen die Senatslinie und den „massiven militärischen Einsatz“ zu demonstrieren.

Die Hauptverantwortung für die Eskalation zwischen Polizei und Demonstranten sieht Wolf bis heute bei der SPD, bei Innensenator Erich Pätzold und Regierungschef Momper, die eine „Panikreaktion“ einer vernünftigen Lösung des Problems vorgezogen hätten. Die Stimmung habe sich dann in den Tagen auf beiden Seiten hochgeschaukelt.

Dass mit der Räumung der Mainzer auch die rot-grüne Koalition zerbrach, war allerdings aus Wolfs Sicht „längst überfällig“. Er selbst habe schon ab dem Frühjahr 1990 dafür geworben, aus der Koalition auszusteigen. Das über viele grundlegende Fragen zerstrittene Regierungsbündnis von SPD und Grünen war zu dem Zeitpunkt faktisch bereits „tot“, sagt Wolf.

Polizeioberrat Thomas Goldack erlebte die Krawallnacht als junger Beamter.
Polizeioberrat Thomas Goldack erlebte die Krawallnacht als junger Beamter.

© Kitty kleist-Heinrich

DER POLIZIST: THOMAS GOLDACK

Am Anfang dachten Thomas Goldack und seine Kollegen von der Einsatzbereitschaft 13, es wäre nur eine Übung. Der junge Polizeihauptwachtmeister war am 12. November 1990 mit seiner Einheit im Trainingslager der Polizei am nordwestlichen Stadtrand. Gerade eben hatten sie die „gestaffelte Deckung“ trainiert, erinnert sich Goldack (41), der heute Polizeioberrat und Leiter der Pressestelle der Berliner Polizei ist. Dabei lernen Polizisten, wie sie sich mit erhobenen Schutzschilden gegen Angriffe von der Seite und aus der Luft schützen. Keiner ahnte beim Üben, dass sie das Gelernte schon kurz danach umsetzen würden. Auch als der Alarm ausgelöst wurde, dachten Goldack und seine Kollegen, die Fahrt in die Innenstadt sei noch Teil des Trainings. Erst als sie sich Friedrichshain näherten und über Funk die Hilferufe anderer Einheiten hörten, wussten sie: Jetzt wird es ernst.

„Es kam uns vor, als wären wir in einer anderen Stadt gelandet“, sagt Goldack. Die heruntergekommene Umgebung der Mainzer Straße, die von der Frankfurter Allee abgeht, war den meisten der aus dem Westteil stammenden Beamten fremd. Es war nass, kalt und düster. Dass sich in diesem Viertel in den vergangenen Monaten eines der Zentren der Hausbesetzerszene entwickelt hatte, wussten im Mannschaftswagen viele nur vom Hörensagen. Als Goldacks Einheit an der mit Barrikaden versperrten Mainzer Straße ankam, rissen die Besetzer gerade das Pflaster auf. Für Goldack war das nur ein Vorgeschmack: In den folgenden zwei Tagen wurden er und seine Kollegen mit Steinen und Molotowcocktails beworfen, von den Dächern flogen ganze Gehwegplatten und eine gekaperte Straßenbahn brannte lichterloh.

Wenn der Polizeisprecher heute auf seinen Dauereinsatz rund um die Mainzer Straße zurückblickt, kommt immer wieder ein Bild wie in Zeitlupe hoch: Ein Pflasterstein flog auf ihn zu, knallte gegen sein Knie. In diesem Moment spürte Goldack keinen Schmerz, erst nach dem Einsatz entdeckte er einen dicken Bluterguss am Bein. Dass in diesen Tagen niemand lebensgefährlich verletzt oder gar getötet wurde, halten viele, die dabei waren, für puren Zufall. Dass auch die Polizei hart zulangte, stellt Goldack nicht in Frage. „Gewaltexzesse“, wie sie manche Beobachter der Polizei vorwerfen, habe er aber nicht beobachtet. Tatsächlich fühlten sich die Polizisten in der Schlacht eher als die Unterlegenen, sagt Goldack.

Nach dem Einsatz war der Polizist noch oft in der Mainzer Straße. Privat. Seine Frau arbeitete einige Jahre lang in der Gegend. Immer wenn er sie abholte, machte er einen Umweg durch die Straße, staunte, wie sie sich veränderte, und erinnerte sich an jene alptraumhafte Nacht. „Das hat mich noch lange beschäftigt“, sagt er.

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