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Berliner Lebensandern (16): Thusnelda-Allee: Dramen von trinkfreudigen Damen

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir Berliner Lebensadern. Die Thusnelda-Allee in Moabit ist eine sehr kurze Prachtstraße.

Die Thusnelda-Allee hat eine Länge von 50 Metern. Das wären, wenn man sie – toupiertes Haupt an High Heels – hintereinanderlegen würde, ungefähr 27 Tussen oder auch 500 germanische Bierkrüge oder ein halber Kirchturm. Jedenfalls wenn er so hoch ist wie der an der Heilandskirche, dem einzigen Gebäude der Straße. Er ragt 90 Meter auf, das bedeutet, dass er im Falle eines spontanen Falls durch ein punktuelles Erdbeben weit bis in die Turmstraße hineinstürzte. Aber er wird schon nicht abknicken, er steht bereits seit 1892, so alt ist auch die Straße. Seit 1998 ist sie nur noch die zweitkürzeste Straße Berlins. Die wieder eröffnete Eiergasse im Nikolaiviertel ist 34 Meter kürzer. Aber wen interessieren schon überteuerte Touristenfallen?

In die Thusnelda-Allee verirren sich glücklicherweise nie Touristen. Höchstens mal zufällig als Durchreisende per Bus. Ab und an wälzt sich der fixe TXL-Bus hindurch, an der Ampel hält er nur ganz kurz– eine eigene Bushaltestelle würde den Rahmen sprengen, auch wenn sich bestimmt einige Menschen fänden, die gern den neuen Fahrplanstop für die Bandansage vorlesen würden. Ein Scherzkeks aus dem Berliner Verkehrsbereich ist ohnehin bereits Fan der Allee. Unter einem der beiden Straßenschilder – eins an der Ecke zur Turmstraße, das andere zu Alt-Moabit – hängt großspurig die Zahl „310“, unter dem anderen „542“. Der zuständige Beamte muss die Hausnummernhinweise aus dem Lager geschmuggelt haben und kichert jetzt immer noch über seinen Coup. Vielleicht sind diese irritierenden Nummern auch für die durchschnittlich drei Fahrradunfälle im Jahr verantwortlich, die laut Polizeibericht (Abschnitt 33) an einer der Ecken stattfinden. Jemand radelt in das Alleechen, stockt beim Anblick der Nummer „542“, sucht die anderen 541 Häuser und, schwupps, ist er einem durchfahrenden TXL-Bus vor die Schnauze gefahren. Ein Glück, dass er seinen hässlichen, aber praktischen Helm aufhatte.

Gemeinhin sind Alleen an den Rändern mit Bäumen, vor allem Linden bewachsene, lange Prachtstraßen, in der Stadt auch gerne gesäumt von Stadtvillen, in denen Juristen und Doktoren residieren und nachmittags auf der Terrasse mit Champagnerflöten auf einen gewonnenen Fall oder Nobelpreis anstoßen. Viele der europäischen Alleen hat Napoleon anlegen lassen, damit seine Soldaten beim Marschieren nicht so stark von der Sonne geblendet würden. Die Champs Elysées besingen Menschen mit einem Faible für Retro-Schlager immer noch, „Sonnä scheint, Rägen riennt, ganz egal, wirr beide sind so froh, wenn wieruns wiedersähn, oh Champs Elysées!“.

Aber die Thusnelda-Allee? Immerhin, Bäume gibt es – auf der westlichen Straßenseite kündigt sich vorsichtig der Ottopark an, vor dem Eingang stehen etwas gammelige Bänke, auf denen etwas gammelige Männer mit etwas gammeligen Bierbüchsen sitzen. Jemand hat soeben an einem der wenigen Allee-Bäume ein Elektrogerät entsorgt. Auf der anderen Seite, in der alleeeigenen Kirche, vis-a-vis des Altars, hockt ein rundliches Wesen und verkauft fair gehandelte Schokoriegel und Honig von glücklichen Bienen. An den Wänden stellen „Die Kiezmaler“ das aus, was sie gerade umtreibt: „Im Moabiter Gefängnis“ heißt ein trauriges Bild, auf einem weiteren verläuft die gekonnt getuschte U-Bahn am Bahnhof Turmstraße mit der Wand. Das große Altarfenster der Heilandskirche, das 1960 von einem Kirchenbau-Verein gestiftet wurde, dealt überbordend mit den christentypischen Fantasy-Themata Sündenfall, Erlösung, Auferstehung, Lämmchen Gottes und macht das Licht in der Kirche angenehm bunt und schummerig. Wie in einem germanischen Wirtshaus.

Draußen, auf dem Kirchenvorplatz, stellen einmal wöchentlich Ökohändler ein paar Stände auf. Momentan wird die fast in Spuckweite, hinter dem Moabiter Rathaus gelegene Markthalle gerade generalüberholt, bald soll sie wieder ein kulinarischer Anziehungspunkt für den Kiez sein. Die in der Halle ansässige ehemalige „Drei Damen vom Grill“-Kulisse, eine funktionierende Würstchenbude voller beeindruckender, fettbespritzter Juhnke-, Pfitzmann- und Mira-Fotos, bleibt dabei natürlich erhalten.

Die Markthalle liegt an der Arminiusstraße, und Arminius heißt Hermann. Somit ist die unglückliche Allee-Namensgeberin dann doch noch für immer mit ihrem Gatten vereint. Und wer ihr übel nachredet, sie sei eine Tussi, der wird bald lernen, dass ihre Faust nach Friedhof riecht. Sie war das Gegenteil: Im Jahre 9 versuchte der römische Feldherr Publius Quinctilius Varus den Cheruskerfürsten Hermann und seine Truppen aufzumischen. Das klappte aber absolut nicht, Varus nahm sich soldatenehrenhaft noch während der Schlacht das Leben, und Hermann lud die Cherusker zum Siegesfrühstück ein. Angeblich kredenzte er Wild, westfälischen Schinken und „Bier soviel sie wollten trinken“, das meiste Bier schluckte Hermanns Frau Thusnelda. Sie „soff walkürenmäßig“ oder auch „als wie ein Hausknecht“.

So jedenfalls will es deutsches Liedgut aus dem 19. Jahrhundert, und so kennt es jeder Niedersachse, erst recht jede Niedersächsin: Frauen, die einen dermaßen unter den Holztisch saufen können, zollt man in der rauen Gegend zwischen Kreis Steinfurt und dem Landkreis Osnabrück gern bewundernden Respekt.

In Wirklichkeit wurde Thusnelda, die eigentlich einem anderen versprochen war, erst ein paar Jahre nach der Schlacht einvernehmlich von Hermann geraubt, denn die beiden hatten sich ineinander verliebt. Thusneldas Rabenvater war darüber nicht erfreut, raubte sie, die inzwischen von Hermann schwanger war, zurück, übergab sie später den Römern. Dort gingen Thusnelda und ihr Sohn irgendwann verschütt. Thusnelda war demnach eine trinkfeste, tragische Kriegerin. Dass man zimtzickigen, um ihr Äußeres sehr bemühten Damen „Tussi“ hinterherruft, hängt damit zusammen, dass sich Heinrich von Kleist in seinem 1860 uraufgeführten (und später jahrelang zu Propagandazwecken missbrauchten) Drama über die Hermannschlacht seine Thusnelda hübsch wie ein Model und hirnlos wie einen Einzeller ausdachte. Eifrige Alphamädchen und andere Postfeministinnen arbeiten darum auch schon heimlich an einer Umdeutung des Namens. Als Clubraum des ersten Tussitreffens böte sich die Küsterei Heilandskirche an. Thusnelda-Allee 1, Berlin-Moabit.

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