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Nicht erschrecken! Kinder gruseln sich gerne - deshalb können Erwachsene ihnen unbesorgt Märchen vorlesen.

© promo

Berliner Märchentage 2018: „Märchen sind Mutgeschichten“

Gewalt, Rollenklischees, ein veraltetes Weltbild: Eltern sehen Märchen oft skeptisch. Silke Fischer von Märchenland erklärt, warum sie sie ihren Kindern trotzdem vorlesen sollten.

In „Hänsel und Gretel“ wird gemordet, in Rapunzel ein junges Mädchen in Geiselhaft genommen – und auch sonst wird in Märchen ständig gedroht, erpresst oder geprügelt. Können Sie verstehen, dass es manchen Eltern davor graut, ihren Kindern diese Geschichten vorzulesen?

Das kann ich nur bis zu einem bestimmten Grad nachvollziehen. Wer als Kind mit Märchen aufgewachsen ist, der erinnert sich an das Schöne, und nicht daran, dass die Märchen grausam waren. Warum sollte es den eigenen Kindern heute anders damit ergehen? Kinder denken nicht wie Erwachsene. Sie stehen mit einem Bein in ihrer magischen Welt, viele reden beim Spielen mit sich selbst oder haben imaginäre Freunde. In diese Welt passen Märchen genau rein.

Woran liegt es, dass Erwachsene dieselben Märchen, die sie als Kinder geliebt haben, plötzlich als grausam wahrnehmen?
Erwachsene reflektieren. Sie gucken auch hinter die Figuren und denken die ganze Zeit „Oh Gott, das darf man doch nicht machen“. Weil sie ein anderes Weltbild haben. Deshalb kommt es dann zu Forderungen wie der von Tierschützern, dass dem Wolf – von den sieben jungen Geißlein – der Bauch nicht mehr aufgeschnitten werden darf, er nur noch Gemüse frisst und ein guter Freund der Geißlein wird. Aber das wäre eben eine langweilige Geschichte - weil es dann keinen Konflikt mehr gäbe. Viele Erwachsene vergessen: Märchen sind nur Gleichnisse. Es sind Metaphern für bestimmte Umstände.

Was fasziniert Kinder an den Geschichten?
Märchen sind für Kinder interessant, weil sie sich darüber auch an unschöne Lebensthemen herantasten können. Mithilfe von Märchen können Kinder Probleme verarbeiten, die sie ihren Eltern gegenüber vielleicht noch gar nicht äußern können. Abgesehen davon, sind die Geschichten leicht zugänglich und Kinder gruseln sich auch gerne mal.

Warum ist es für Kinder wichtig, sich mit dem Bösen zu beschäftigen?
Weil das Leben auch manchmal ungerecht ist und es Kindern nicht weiterhilft, wenn man sie nur in Watte packt, sie dann aber in der Schule eine ganz andere Realität erleben müssen. Im Märchen lässt sich das Gute eindeutig von dem Bösen unterscheiden. Das ist im richtigen Leben wesentlich schwieriger. Wer Freund oder Feind ist, lässt sich später nicht auf Anhieb unterscheiden. Diese Last - zu differenzieren - haben die Kinder zum Glück noch gar nicht zu tragen.

Wieso verarbeiten Kinder das Grausame in den Geschichten so gut?
Für die Kinder ist es ganz wichtig zu erkennen, dass jedes Handeln Folgen hat. Dass das Böse mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird. Wenn das Böse weggewischt ist, dann ist auch alles wieder gut. Da wird nichts ethisch und moralisch abgewogen. Wenn die böse Königin bei Schneewittchen in den glühenden Pantoffeln tanzen muss, bis sie tot ist, dann hat sie es einfach verdient. Es wird nicht reflektiert, ob die Königin vielleicht eine schwierige Kindheit hatte. Das sind geradlinige Geschichten, die den Kindern guttun. Es wird ja auch nichts Grausames detailliert ausgeschmückt.

Inwiefern helfen die Geschichten den Kindern, mit eigenen Ängsten oder Problemen umzugehen?
Märchen sind Mutgeschichten, die von der glücklichen Überwindung von Widerständen erzählen. Kinder fühlen sich oft machtlos und klein und können sich mit vielen Märchenfiguren, wie zum Beispiel dem „Dummling“, der verlacht wird, identifizieren. Besonders in den Grimm'schen Märchen gibt es viele Kinder, die plötzlich alleine dastehen, von den Eltern verstoßen werden oder eine Stiefmutter haben. Für die Kinder ist das der „Worst Case“. Eine Urangst. Und so können sie sich – in einem geschützten Rahmen – an unangenehme Themen herantasten, gemeinsam mit der vertrauten Person, die die Geschichte vorliest oder erzählt.

Macht es denn einen Unterschied, ob Kinder ein Märchen vorgelesen bekommen oder es im Fernsehen sehen?
Vorlesen oder erzählen ist besser. Kinder können sich dann alles so vorstellen, wie sie es am besten aushalten. Bei filmischen Darstellungen gibt es häufig Bilder, die die Kinder überfordern. Außerdem ist die Bildsprache viel mächtiger als der Text. Alles an Phantasie, was im Kopf gebildet wird, wird von Bildern weggewischt. Wenn Kinder in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, dass man sich etwas vorstellen kann, sondern immer ein Bild brauchen, um sich einen Drachen oder Prinzen vorzustellen, dann wird die Kreativität nicht besonders ausgebildet.

Gibt es sonst etwas, worauf man beim Vorlesen achten sollte?
Das Kind äußert sich eigentlich ziemlich klar: Was will es hören – oder was möchte es gerade nicht hören. Für welche Geschichten sich ein Kind interessiert, lässt auch darauf schließen, welche Themen gerade wichtig im Leben des Kindes sind. Märchen eignen sich auch gut als emotionaler Türöffner für Alltagsprobleme. Sie helfen, Pfade zu den schlechten Geheimnissen, die das Kind bedrücken, zu finden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Geschichte vom Hasen und Igel ist zum Beispiel eine Geschichte über Mobbing, die man einem Kind vorlesen könnte, das nicht gerne in die Schule geht. Es lernt daraus, dass der Igel sich nicht vom Hasen unterkriegen lässt. Er benutzt sein Köpfchen, um den Hasen zu besiegen.

In Märchen tauchen häufig sehr veraltete Rollenklischees auf. Dornröschen und andere Prinzessinnen warten stets auf den richtigen Prinzen. Als wäre das das einzige Ziel im Leben. Gibt es auch emanzipierte Märchenfiguren, die Sie empfehlen können?
Ich verwahre mich dagegen, dass die Frauen im Märchen immer die sind, die passiv warten, bis etwas passiert oder sie erlöst werden. Dazu gibt es genug Gegenbeispiele. Das fängt schon mit dem ersten Grimm’schen Märchen an: In „Der Froschkönig“ widersetzt sich die Prinzessin gegen ihren Vater. Sie will den Frosch nicht mit ins Bett nehmen und schmeißt ihn an die Wand. Sie ist ihres Glückes Schmied. Dann „Hänsel und Gretel“. Was wäre Hänsel ohne seine beherzte Schwester, die die Hexe austrickst und in den Ofen schmeißt? Die Prinzessin auf der Erbse zieht alleine los, um sich einen Mann zu suchen – und auch Aschenputtel widersetzt sich ihrer Stiefmutter.

Sind Sie jemand, der eher stark am Original festhält oder gefallen Ihnen auch viele umgedichtete Versionen oder moderne Weiterentwicklungen von Märchen?
Wir von Märchenland freuen uns über alles, was sich mit Märchen beschäftigt und finden gut, wenn Märchen kreativ umgesetzt werden. Die Märchen, die wir lesen, haben ohnehin schon eine jahrtausendealte Wanderung hinter sich. Es wurden schon sehr viele Ecken und Kanten abgeschliffen oder etwas Neues dazugesetzt. Es gibt meiner Meinung nach allerdings kaum moderne Märchen, die es mit den alten aufnehmen können. Ein gutes Märchen braucht eine stringente Form. Gibt es zu viele Verästelungen, lassen sich die Geschichten schlecht einprägen.

In diesem Jahr beschäftigen Sie sich bei den Märchentagen insbesondere mit „dem Streben nach Macht und der Auseinandersetzung mit Macht“. Was lernen Kinder über Macht und Ohnmacht aus den Märchen?
Sie lernen, dass auch Macht ihre Grenzen hat. Dass wir Menschen den „Mächtigen“ etwas entgegensetzen können. Dass man durch Freundschaft, Liebe oder ein reines Herz vieles überwinden und sogar einen bösen Zauberer ohnmächtig werden lassen kann.

Haben Sie ein Lieblingsmärchen?
Beim „Froschkönig“ gefällt mir besonders der erste Satz: „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal ein König“. Diese alten Zeiten wünsche ich mir manchmal zurück. Bei „Hans im Glück“ gefällt mir besonders das Ende. Mit „leichtem Herzen und frei von aller Last“ läuft Hans zu seiner Mutter nach Hause. Hans ist frei und seine Mutter freut sich auch ohne Goldklumpen über seine Rückkehr nach sieben Jahren. Wer hat schon so ein Glück? Und wer kann schon von sich behaupten, wirklich frei zu sein?

Silke Fischer ist Geschäftsführerin von „Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur“. Der Verein organisiert jährlich europaweit 1500 Veranstaltungen – auch für Erwachsene. Das Interview führte Saara von Alten.

Zwischen dem 8. und 25. November können Märchenfans, ob klein oder schon groß, mehr als 600 Veranstaltungen in ganz Berlin besuchen. Das gesamte Programm findet man auf der Internetseite des Vereins Märchenland: www.märchenland.de.

BESONDERE ORTE
In 25 Botschaften – von Algerien bis Rumänien – können Besucher Volksmärchen der unterschiedlichen Länder lauschen. Am Freitag, dem 9. November, um 10 Uhr lädt zum Beispiel der algerische Botschafter Nor-Eddine Aouam zu einer Erzählstunde mit anschließender musikalischer Darbietung. Zeitgleich findet in den Botschaften der Republik Guatemala und El Salvador eine gemeinsame Veranstaltung statt, bei der unter anderem die salvadorianische Kinderbuchautorin Kirsten Shirley Meléndez Salvadoran lesen wird.

Am Freitag, dem 14. November, wird der dänische Botschafter Friis Arne Petersen das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ vorlesen und anschließend Fragen beantworten. Diverse Veranstaltungen gibt es auch in den Landesvertretungen sowie im Berliner Abgeordnetenhaus, in Schulen und Bibliotheken.

THEATERSTÜCKE
„Märchen auf großer Bühne“ mit verschiedenen Inszenierungen bekannter Stücke gibt es in der Deutschen Oper, im Deutschen Theater, im Theater an der Parkaue, in der Komischen Oper und im Wintergarten zu sehen. Außerdem beteiligen sich zahlreiche kleinere Theater wie das Galli Theater in Mitte (Heckmann-Höfe), wo das Märchen „Ali Baba & die 40 Räuber“ aufgeführt wird. Das Theater Jaro in Wilmersdorf (Schlangenbader Straße 30) zeigt für drei- bis achtjährige Kinder das Stück „Sei mutig, kleiner Apfel“. Und im Figurentheater Grashüpfer im Treptower Park kann man in der Märchenjurte am offenen Feuer an mehreren Tagen verschiedenen Erzählungen zuhören.

BESONDERE TERMINE
Höhepunkte der Berliner Märchentage sind die Verleihung der Goldenen Erbse 2018 am 13. November in der Botschaft der Volksrepublik China und die Lange Nacht der Märchenerzähler am 24. November sowie die Abschlussgala im Wintergarten am 25. November.

DIGITALE MÄRCHEN
Unter dem Motto „Märchenland goes digital“ finden sich im Programm unter anderem Workshops zu Computerspielen, außerdem gibt es drei Online-Märchen-Livestreams der bekannten You-Tuberin und Märchenerzählerin Marmeladenoma. Im Computerspielemuseum ist die Ausstellung „Tell me more! Tell me more! – Literatur und Computerspiel“ zu sehen (Karl-Marx-Allee 93a).

Das gesamte Programm (mit Suchfunktion) findet man auf der Internetseite des Vereins Märchenland: www.märchenland.de. saa

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