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Insgesamt 4300 Züge rollen täglich durch das Schienennetz in Berlin und Brandenburg. Allein Berlin hat 588 Kilometer Gleise mit 133 Bahnstationen.

©  Fredrik von Erichsen/dpa

Berliner Nahverkehr: Ein Besuch in der Pankower DB-Zentrale

In Heinersdorf werden täglich tausende Züge überwacht, ständig ertönen Alarmsignale. Spannungsabfälle sind Routine; hektisch wird es bei Fehlercode 25.

Die Bahn kommt, doch die Flugzeuge lassen auf sich warten. Ginge es nach den zuständigen Zugkoordinatoren, hätte der BER schon seit dem 30. Oktober 2011 eröffnet sein können. Seit diesem Tag sitzt ein Team in der DB-Zentrale des Regionalbereichs Ost in Heinersdorf im Erdgeschoss eines anonymen Bürogebäudes in der Granitzstraße, nur einen Steinwurf vom Rundlokschuppen Pankow entfernt. Siebeneinhalb Jahre. Keine Passagiere. Kein Zwischenhalt. Hier muss sich niemand über Fahrplanabweichungen ärgern. Die Züge fahren nur, um die Infrastruktur in Stand zu halten.

Oliver Konowalzyk ist seit 1986 bei der Bahn, hat das geteilte Schienennetz noch erlebt. Nur ein DDR-Reichsbahnplakat im Flur der Zentrale erinnert noch daran: „Der Fahrplan ist Gesetz. Eisenbahner! Duldet keine Abweichung – erzwingt die unbedingte Pünktlichkeit!“

Wie die Einlösung der Versprechen des Sozialismus im Osten bleibt auch die unbedingte Pünktlichkeit bei der gesamtdeutschen Bahn eine Utopie. Große Ziele hatte man sich vorgenommen für 2017. Mindestens 80 Prozent der Fernzüge im Jahr 2017 sollten rechtzeitig ankommen. Doch bereits im November musste das Unternehmen zugeben, dass das ehrgeizige Ziel nicht einzuhalten sei.

Stolz warb man bei der Bahn einst mit dem Slogan „Alle reden vom Wetter, wir nicht“. Damals sagten die Menschen auch noch „Pünktlich wie die Eisenbahn“ – ohne Ironie. Das war 1966, lange vor Konowalzyks Geburt. Heute ist er Chef der Transportleitung. Akkurat sitzendes, weißes Hemd, gestreifte Krawatte. Noch immer reden alle vom Wetter. Doch vor allem bei der Bahn.

Und vor allem im vergangenen Jahr, das geprägt war von schweren Sturmschäden. Immerhin: An diesem Morgen verkündet ein Monitor an der Wand, dass 95,5 Prozent aller Züge im Regionalbereich Ost pünktlich sind. Und das, obwohl sich die Temperaturen gefährlich nahe am Gefrierpunkt bewegen. Dass Eis und Schnee die schlimmsten Feinde des Fahrplans sind, bewies die vergangene Woche hinlänglich.

Kurz nach der Wende, erinnert sich Konowalzyk, war alles noch entspannt. Damals gingen von Berlin aus täglich drei D-Züge nach Erfurt. Morgens. Mittags. Abends. Heute müssen die Fahrgäste nicht einmal mehr auf den Fahrplan schauen, wenn sie von Berlin nach Erfurt reisen. Alle 30 Minuten können sie auf die Verbindung zurückgreifen.

Alarmtöne im Minutentakt

4300 Züge rollen täglich in Berlin und Brandenburg durch das Streckennetz. 1600 davon werden von Heinersdorf aus überwacht. Dazu wechseln sich 45 Angestellte im Schichtbetrieb rund um die Uhr ab. Sie sind die Dirigenten des komplexen Schienenkonzerts, koordinieren das Orchester, geben Einsätze und Tempi vor.

Welche Züge müssen umgeleitet werden? Welche haben Vorrang? Und welche müssen warten? Freilich bekommen sie von ihrer Sinfonie recht wenig mit. Schienen sehen sie im Arbeitsalltag ebenso wenig wie Züge. Weichen und Signale werden per Mausklick gesteuert. Nur abstrakte, geometrische Formen und bunte Farbe flackern über ihre Bildschirme. Und manchmal klingelt das Telefon – meist mit schlechten Nachrichten.

Heute ist es der Lokführer einer Regionalbahn, die vor dem Biesdorfer Kreuz im Osten Berlins ein Reh erfasst hat. „Das ist Routine, da gerät hier niemand in Aufregung“, erklärt Zugkoordinator Uwe Strauß. Wildunfälle häufen sich in der dunklen Jahreszeit. Trotzdem muss ein Störungsprotokoll angelegt und die Strecke gesperrt, müssen nachfahrende Züge gewarnt werden.

Berlin hat 588 Kilometer Gleise mit 133 Bahnstationen. Auf jedem Abschnitt sind unzählige Lichtsignale sowie Leit- und Sicherungstechnik verbaut. Und irgendwas zickt immer. Beinahe im Minutentakt ertönen in der Zentrale Alarmtöne. Von den hier Arbeitenden offensichtlich kaum noch wahrgenommen. „Bloß Spannungsabfälle an den Oberleitungen“, sagt Strauß.

Wenn jedoch Fehlercode 25 eintritt, läuft die Maschinerie an. Dann werden die Fahrgäste über einen „Technischen Defekt“ informiert. Im schlimmsten Falle droht der Gang zum Notfallmanager. Das bedeutet dann: Die Passagiere müssen aus dem Zug geholt werden.

Schmetterlingseffekt auf der Schiene

Täglich dreht sich das Störungskarussell weiter: Böschungsbrände, Baustellen, Bremsprobleme, blockierte Gleise. Die Zuständigkeit für die Probleme endet zwar an den Ländergrenzen, nicht aber der Umgang mit den Folgen. Zwei auf den Schienen tollende, kaukasische Schäferhunde an der Friedrichstraße hätten einmal eine stundenlange Sperrung der Berliner Stadtbahn ausgelöst, berichtet Strauß. Selbst in München mussten Züge umdisponiert werden. Der Schmetterlingseffekt auf der Schiene.

Gerade noch wurde im Raum gefeixt, da verfinstern sich die Mienen. Von den Gleisen kommt eine Botschaft, über die hier niemand gerne spricht. Fahrgäste kennen die maximal bürokratischen, nüchternen Floskeln vom „Notarzteinsatz am Gleis“ oder „Personenschaden“. Sie umschreiben etwas, das jeden Tag durchschnittlich drei Mal in Deutschland passiert: der Schienensuizid.

Statistisch gesehen, erlebt es jeder Lokführer in seinen 40 Berufsjahren zwei bis drei Mal. Notärzte und Psychiater kümmern sich vor Ort um die Betroffenen. Doch hier in Heinersdorf, weit weg von den Gleisen und Geschehnissen, gibt es nur Bildschirme und Zahlen. Die Wiederaufnahme des Betriebs muss im Mittelpunkt stehen. Rettungssanitäter, Kriminalbeamte und Bestatter brauchen Zeit. 180 Minuten dauert ein solcher Vorfall in der Regel mindestens.

Wenn die Beschäftigten in der Granitzstraße über den 5. Oktober 2017 sprechen, spürt man aus ihren Worten noch immer die verheerende Wucht des Tages. Es ist wie das Raunen über einen, dessen Name nicht genannt werden darf. „Die schlimmste Schicht in meinem Leben“, sagt Strauß. Damals stattete ein besonders unfreundlicher Durchreisender der Region einen Besuch ab. „Xavier“ nannten die Meteorologen das Sturmtief. Zwei Millionen Bäume fielen allein in Brandenburg. Hunderte davon auf Schienen oder Bahnen.

Zugkoordinator Strauß telefonierte und schrie in dieser Nacht so viel durch die Zentrale, dass ihm bei der Übergabe am Morgen die Stimme versagte. Erst gegen 2.30 Uhr in der Nacht hatte die Führungsebene vor Ort eine erste Übersicht gewonnen. Sie saß im Lagezentrum, einem fensterlosen, langen Raum, an jedem Platz ein Telefon, das in den langen Stunden der Krisenbewältigung ununterbrochen klingelte.

Hier trat man jenes ausweglose Rückzugsgefecht gegen einen Gegner an, der auch mit modernster Technik nicht zu schlagen ist. Abgeknickte Masten, geborstene Frontscheiben, verbogene Fahrwerke. Ein verzweifelter Lokführer meldete, dass allein in Sichtweite 50 Bäume auf den Gleisen liegen. Ab 120 Minuten Verspätung haben Passagiere Anrecht auf Rückerstattung des halben Fahrpreises. In dieser Nacht mussten manche 14 Stunden ausharren, wurden in Schlafzügen notdürftig untergebracht. Noch acht Tage später standen Züge vor Zossen auf der Strecke.

"Eisenbahn ist so komplex, mit einfachen Schritten ist es hier nicht getan"

Seit Jahren entwickelt das Unternehmen Szenarien, die im Falle einer Streckensperrung sofort umgesetzt werden. Die Weitergabe einer Kennziffer reicht, damit alle Betroffenen wissen, wie verfahren wird. Wird Friedrichstraße gesperrt, erfolgt die Umleitung über Gesundbrunnen. Vor 20 Jahren hätte ein solcher Eingriff in den Fahrplan Stunden gedauert, heute braucht es dafür Sekunden.

Auf die wachsende Zahl von Extremwetterereignissen aber kann kein Szenario vorbereiten. Nur drei Wochen nach „Xavier“ fegte „Herwart“ über Europa, im Januar folgten „Burglind“ und „Friederike“. Gerade deswegen müsse das Unternehmen viel besser vorbereitet sein, sagt der Fahrgastverband Pro Bahn.

Kurz vor Weihnachten veröffentlichte dessen Landesverband Berlin-Brandenburg einen Katalog mit Kritikpunkten: Die mangelnde Beseitigung der Vegetation beiderseits der Gleise, wodurch Bäume jederzeit auf die Schienen zu fallen drohten. Zudem müssten Kunden im Krisenfall besser informiert werden, inklusive sinnvoller Verhaltensempfehlungen.

Transportleiter Oliver Konowalzyk schüttelt mit dem Kopf. „Eisenbahn ist so komplex, mit einfachen Schritten ist es hier nicht getan.“ Selbstverständlich kümmere sich die Bahn intensiv um die Pflege der Strecke, doch oft seien die anliegenden Grundstücke in Privatbesitz. Zudem verhindere der Naturschutz radikalere Eingriffe in den Bewuchs. Trotzdem kündigte das Unternehmen in dieser Woche an, mehr als eine halbe Milliarde Euro in den Rückschnitt zu investieren.

Doch die größte Lehre aus dem Chaos der letzten Monate lässt sich für Konowalzyk in einem Wort zusammenfassen: Transparenz. „Wir müssen den Kunden zeigen, wie die Lage auf den Gleisen ist. Denn sonst sehen sie nur, dass die Sonne scheint, der Zug aber trotzdem nicht kommt.“ Letztlich hätten doch alle, Kunden wie Bahnmitarbeiter, nur ein Ziel: „Die Räder sollen wieder rollen.“

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