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© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Schuldschungel (2/2): So tricksen Eltern das Schulgesetz aus

Es gibt gefragte Oberschulen. Ob ein Kind dort angenommen wird, kann davon abhängen, wie lange sein Bus dorthin braucht. Begabung zählt bei der Platzvergabe auch nicht immer. Was tun Eltern dann? Sie fangen an zu tricksen.

Die Wahl war schwierig. Das komplette Jahr 2007 hatte sich Konstanze Kilian* den Kopf darüber zerbrochen, welche Schule für ihren zwölfjährigen Sohn die richtige sein könnte – einen recht begabten Jungen, der fantastisch Gitarre spielt. Warum nicht ein Gymnasium mit Musikprofil, fragte sich die Mutter schließlich und hatte auch bald eines ins Auge gefasst: guter Ruf, angenehme Schülerschaft, engagierte Orchesterarbeit.

Die Erleichterung über das gefundene Juwel währte nur kurz: Schon eine erste Nachfrage in der Schule ergab, dass Martin Kilian so gut wie chancenlos war – trotz Gymnasialempfehlung. Der Grund: Sein Fahrweg per Bus dauerte etwa 40 Minuten. In den Vorjahren waren wegen der großen Nachfrage an der Schule aber stets nur Kinder zum Zuge gekommen, die weniger als 30 Minuten für den Weg brauchten. Was also tun?

Diese Frage stellen sich Jahr für Jahr tausende Eltern, denn das Schulgesetz sieht vor, dass bei sehr gefragten Schulen die Bewerber nach bestimmten Kriterien ausgesiebt werden (siehe Kasten unten). Wenn dann noch immer zu viele Bewerber übrig sind, entscheidet laut Gesetz „die Erreichbarkeit von der Wohnung unter Berücksichtigung der Lage der Schule zu anderen Schulen mit demselben Bildungsgang“.

Was aber bedeutet „Erreichbarkeit“ konkret? Ist damit eine direkte Bus- oder U-Bahnverbindung gemeint? Oder gilt eine Schule noch als „erreichbar“, wenn man den Weg per Auto in 15 Minuten schaffen kann?, fragte sich Konstanze Kilian. Ein Anruf im zuständigen Schulamt ergab, dass dort die „fahrinfo online“ der BVG zugrunde gelegt wird. Um ihre Chancen abzuschätzen, müsse sie nur ihre Adresse und die der Schule eingeben und schon könne sie sich ihre Chancen ausrechnen, lautete die Auskunft. Damit war die Sache klar.

In Konstanze Kilian wuchs ein verwegener Gedanke: Warum sollte man nicht umziehen? Die Wohnung war seit dem Auszug der ältesten Tochter ohnehin etwas zu groß geworden. Also nichts wie los und rein in den Immobilienmarkt. Schließlich war erst Januar und bis zur Umschulung im Sommer müsste es doch locker möglich sein, eine Wohnung im Umkreis der Schule zu finden.

Schöner Plan, aber vollkommen sinnlos. Denn ein weiteres Gespräch mit dem auskunftsfreudigen Schulamtsmitarbeiter ergab, es spiele überhaupt keine Rolle, wo sie im Sommer wohnen werde. „Entscheidend ist, wo Sie zum Zeitpunkt der Anmeldung wohnen“, erfuhr die verdutzte Mutter. Da die Anmeldefrist am 29. Februar 2008 endete, blieb genau ein Monat, um einen Mietvertrag vorzulegen.

Während die Suche nach einer geeigneten Wohnung nun geradezu panische Züge annahm, gab es noch jede weitere Menge Gründe, sich zu ärgern: Von ihren Kolleginnen erfuhr Konstanze Kilian nämlich, dass nur sie so „blöde“ sei, sich eine neue Wohnung zu suchen. Andere Familien zogen es nämlich vor, sich mit Tricks vor den Folgen eines schlecht gemachten Schulgesetzparagrafen zu schützen. Mit anderen Worten: Sie hielten es für selbstverständlich, im Bürgeramt eine falsche Adresse als neuen Wohnsitz anzugeben und diese Meldebescheinigung dann bei der Schule abzuliefern. Sie erfuhr, dass sich Jahr für Jahr hunderte Ehepaare zum Schein trennen, um in den Besitz einer „besseren“ Adresse zu kommen.

Ein Weg, der umstritten ist, denn juristisch handelt es sich dabei um eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Euro geahndet werden kann (Paragraf 30 des Meldegesetzes). Die Gefahr aufzufliegen besteht, denn viele Schulämter geben sich mit den Meldebescheinigungen nicht zufrieden. Sie verlangen Mietverträge oder andere Belege wie Nebenkostenabrechnungen. Wenn man die nicht vorweisen kann, hat man schlechte Karten. So kann es passieren, dass das Schulamt einen ganz aus dem Bewerbungsverfahren ausschließt und man nicht einmal in jenes Losverfahren kommt, das es mitunter für Kinder mit ungünstigem Wohnsitz gibt.

Das ist nicht mein Ding, sagte sich Konstanze Kilian nach kurzer Bedenkzeit. Also intensivierte sie ihre Immobiliensuche und wurde fündig: Eine – unrenovierte – Wohnung, von der aus ihr Kind es in 15 Minuten mit dem Bus zur Schule schaffte. Der Mietvertrag kam gerade noch rechtzeitig zustande, der Schulamtsmitarbeiter nickte optimistisch mit dem Kopf und tatsächlich wurde Martin aufseiner Traumschule angenommen.

Nicht immer geht die Sache vergleichsweise gut aus. So glauben sich viele Eltern auf der sicheren Seite, weil sie eine ihrer Meinung nach gut erreichbare Schule als erste Wahl angekreuzt haben. Völlig überrascht sind sie dann, wenn ihrem Antrag nicht entsprochen wird. Sie haben zwar die Möglichkeit, neben ihrer Wunschschule noch zwei weitere Schulen nachgeordnet anzugeben, jedoch können sie nicht davon ausgehen, dass dieser Zweit- oder Drittwunsch erfüllt wird. Wenn die beiden betreffenden Schulen nämlich ebenfalls mehr Anmeldungen als Plätze haben, werden zunächst einmal die Kinder genommen, die die Schule als Erstwunsch angegeben haben. Deshalb geben viele Eltern erst gar nicht die Lieblingsschule an, wenn sie dort der BVG-Verbindung wegen ohnehin keine Chancen hätten. Weil ihnen in diesem Fall der sprichwörtliche Spatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach, schreiben sie in das Bewerbungsformular dann lieber den Zweitwunsch an die erste Stelle.

Wie können Eltern in Berlin auf Nummer sicher gehen? Nur, indem sie nah an der Wunschschule wohnen. „In einem Jahr kommt das Kind noch bei 35 Minuten Fahrweg unter. Wenn aber im nächsten Jahr mehr Bewerber da sind, hat man schon mit 28 Minuten keine Chance mehr“, verrät ein Schulleiter.

Mitunter entstehen geradezu groteske Situationen: So scheiterte eine Schülerin aus Neukölln letztlich an einer Minute Fahrtweg, und auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht konnte daran nichts ändern. Das Gericht zeichnete in seiner Begründung den Entscheidungsweg nach. Demnach bekamen all jene Schüler einen sicheren Platz, die laut BVG-Onlineportal bis zu 30 Minuten Fahrweg hatten. Es blieben noch 17 Plätze für 20 Bewerber übrig, die 31 bis 35 Minuten brauchten. Zwischen ihnen wurde gelost. Das Gericht stellte fest: „Die Antragstellerin mit einer im BVG-Programm ausgewiesenen Schulwegdauer von 36 Minuten wurde nicht in das Losverfahren einbezogen.“ Das lasse „keinen Rechtsfehler“ erkennen.

Konstanze Kilian sieht eine gewisse Willkür durch die Gesetzeslage. Zum Beispiel seien die musikalische Begabung und der jahrelange Gitarrenunterricht ihres Sohnes bei der Entscheidung des Schulamtes überhaupt nicht berücksichtigt worden – und das, obwohl die Wunschschule ein Musikprofil hatte. Stattdessen wurden weit entfernt wohnende Kinder aufgenommen, weil sie aus einer musikbetonten Grundschule kamen. Dies entspricht zwar der Gesetzeslage, wird aber von Pädagogen und Eltern kritisiert, weil der Besuch einer musikbetonten Grundschule wenig über das Kind aussagt: Die Aufnahme an diesen Schulen ist nicht an eine spezielle Begabung gebunden.

Obwohl die Leiter der weiterführenden Schulen dies wissen, sind ihnen die Hände gebunden: Sie können die Schüler nicht dem Schulprofil entsprechend aussuchen, obwohl sie gesetzlich verpflichtet sind, ihrer Schule ein eigenes Profil zu geben. Schulleitervereinigungen fordern seit langem eine rasche Änderung der Gesetzespassage. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hat zugegeben, dass die Regelung „grundsätzlich überarbeitungsbedürftig ist“. Eine Änderung sei aber nicht vor 2010/11 möglich.

*Name von der Redaktion geändert

Folge 2:

MIT TRICKS ZUR 

WUNSCHSCHULE

Die anderen Themen

Klasse 5 oder 7: Lieber eher aufs Gymnasium? (13. 1.)

Hauptsache exotisch: Die Qual der richtigen Sprachwahl (20. 1.)

Sonderschule: Wann ist sie richtig für mein Kind? (22. 1.)

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