zum Hauptinhalt

Berliner Schulen: Auf Schwänzer-Streife

Statt in den Unterricht gehen viele Jugendliche in Einkaufszentren. Sozialarbeiter Kleinert sucht sie - und oft auch ihre Eltern.

Jeden Morgen schwingt sich Paul Alfred Kleinert auf sein schwarzes Hollandrad und fährt durch Neukölln – durch die Karlsgartenstraße, entlang der Hermannstraße, hinüber zum Flughafen Tempelhof und durch die Hasenheide. Er besucht sein „Klientel“, wie er sagt. Der 47-Jährige ist Sozialpädagoge an der Kurt-Löwenstein-Hauptschule im Norden Neuköllns. Seine „Klienten“ sind Schüler, die finden, dass Abhängen in Einkaufszentren spannender sein kann als Mathe und Deutsch: Es sind Schulschwänzer. Kleinert nennt sie „Schuldistanzierte“.

Jugendrichter kündigten an, ab dem 1. Januar jugendliche Straftäter in Neukölln schneller zur Rechenschaft zu ziehen. Auch die vielen Dauerschwänzer in den Problemkiezen, so versprachen die Richter, werden ab sofort konsequenter verfolgt. Wer seltener schwänzt, so die These, rutscht nicht so leicht in die Kriminalität ab. Neuköllns Schulstadtrat Wolfgang Schimmang (SPD) findet solche Ideen gut. Im Jahr, so sagt Schimmang, werden in Neukölln rund 1000 Schulversäumnisanzeigen geschrieben, 30 bis 40 Mal rückt sogar die Polizei aus, um die Schwänzer einzusammeln. Damit es möglichst selten zum Polizeieinsatz kommt, bemüht sich Kleinert bereits seit vier Jahren Tag für Tag, die Schüler zurück zur Schule zu bringen. Die Stelle des Sozialarbeiters wird hauptsächlich durch Gelder des Europäischen Sozialfonds finanziert.

302 Schüler besuchen die Löwenstein-Schule, 45 von ihnen kommen unregelmäßig oder gar nicht mehr zum Unterricht. Wer zehn Mal im Halbjahr unentschuldigt fehlt und nicht auf Mahnungen der Lehrer reagiert, muss mit dem Besuch von Kleinert rechnen. Der bärtige Pädagoge überbringt einen Brief der Schule und versucht, mit den Eltern zu reden. Manchmal kommen Mitarbeiter des Jugendamts gleich mit.

Ein erster Stopp in der Hermannstraße: An vielen Häusern gibt es keine Klingelschilder, die Briefkästen sind aufgebrochen oder beschmiert. Manche Hausflure sind vermüllt und dreckig. Manchmal lassen ihn die Familien in ihre Wohnung, dann wirft Kleinert auch unauffällig einen Blick in Küche und Bad. Einmal zerrte ein Hund an einem vergammelten Hühnchen in der Wohnzimmerecke. Ein anderes Mal fielen ihm gestapelte Medikamente auf: die alleinerziehende Mutter half sich mit Pillen durch den Tag.

Etwa drei Prozent der Löwenstein-Schüler sind deutschstämmig, die meisten kommen aus arabischen Ländern, aus der Türkei oder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Oft haben ihre Familien einiges durchgemacht, lebten lange in Flüchtlingslagern oder sind nun von Abschiebung bedroht. Viele Eltern beschäftigten sich nicht mit dem täglichen Leben ihrer Kinder, sagt Kleinert. „Sie haben selbst Probleme und wollen ihre Ruhe.“ Die meisten seien arbeitslos, viele öffnen die Tür morgens im Nachthemd. Die Schüler erwischt Kleinert fast nie zu Hause. Wo sie sind, wissen die Eltern nicht. „Mein Sohn ging doch um 8 Uhr aus dem Haus“, heißt es dann. Häufig gibt es Sprachprobleme, dann dolmetscht Kleinerts Kollegin Songül Aslan.

Kleinert fährt schnell und redet dabei viel. Er trägt eine Cordhose und Turnschuhe und trotz der Kälte nur ein Jackett über dem Wollpullover. Er sei kein Idealist, er wisse, dass er das Milieu nicht ändern kann. Trotzdem möchte er die „Kids“, wie er sie nennt, nicht aufgeben. Die Schwänzer selbst sucht er in den Einkaufszentren der Karl-Marx-Straße, in den Gropius-Passagen oder in der Hasenheide, er spricht mit ihnen, ermahnt sie.

„Wir haben viele richtig gute junge Menschen an unserer Schule. Wir müssen sie nur dazu bringen zu überlegen: Macht das Sinn, was ich tue?“ Kleinert radelt am U-Bahnhof Leinestraße vorbei. Viele Jugendliche hätten einfach „null Bock“ auf Schule. Wer schuld daran ist? Eltern, die sich nicht kümmern, zu viel Fernsehen, Perspektivlosigkeit. Einmal verfolgte er eine Schwänzerin zwei Jahre lang, ohne Erfolg. Irgendwann wurde die Schülerin schwanger, bekam ein Kind. Als sie sich doch entschloss, den Schulabschluss nachzuholen, kam sie zu seiner offenen Sprechstunde. Eine „Sternstunde“ sei dies gewesen. Etwa 65 Prozent der Schwänzer bringt er früher oder später zur Vernunft. Sie kehren entweder an die Schule zurück oder werden an andere Einrichtungen vermittelt.

Kleinert freut sich über die Gründung des Jugendclubs „Yo!22“, den Zuzug von Studenten in den Reuterkiez oder auf die erfolgreiche Arbeit der Stadtteilmütter im interkulturellen Kinder- und Elternzentrum. Den Wachschutz an Schulen hält er für den falschen Ansatz. Lieber solle man mehr Geld in die sozialpädagogische Arbeit stecken. Er schwingt sich aufs Rad. Gleich kommt jemand zur Sprechstunde ins Büro - hoffentlich.

Zur Startseite