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Von wegen Basta. In Spanien hat die Protestbewegung die Politik verändert.

© Emilio Morenatti/AP

Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh: "Die SPD muss undogmatisch, offen und dynamisch werden."

SPD-Fraktionschef Raed Saleh hat in Madrid gesehen, wie Bürgerprotest die Parteien überollen kann. Seine Lehre für Berlin: Die SPD muss sich für die Stadt öffnen, sonst droht sie sich abzuschaffen. Ein Gast-Kommentar.

Madrid und Berlin sind zwei moderne Hauptstädte im Herzen Europas – sie ähneln sich in ihrer Vielfalt und in ihrer Dynamik. Anders als Berlin leidet unsere Partnerstadt Madrid jedoch unter einer Finanzkrise, deren Ausmaß historisch ist. Die Spaltung von Arm und Reich ist in der Krise unvorstellbar gewachsen, die Chancen für junge Menschen auf einen Berufseinstieg sind rapide gesunken. Der Staat hat nicht mehr die Kraft, die gesellschaftlichen Brüche zu kitten. In Bildung wurde nicht mehr investiert, die Flucht in die Privatschulen hat eingesetzt. Studiengebühren wurden eingeführt. Die Konservativen haben kommunale Unternehmen privatisiert, und der klamme Staat hat sich aus der Gesellschaft zurückgezogen. In dieser Lücke hat sich eine erstaunlich kreative Repolitisierung entwickelt.

Beim Besuch von Abgeordnetenhauspräsident Ralf Wieland und den Fraktionsvorsitzenden direkt nach den spanischen Kommunalwahlen konnten wir die politischen Folgen der Krise miterleben: In den Gesprächen mit den Madrider Politikern war der Schock der Kommunalwahl vom 24. Mai mit Händen zu greifen. Manche sprachen von der Stunde null und einem Systemwechsel: Das Zwei-Parteien-System aus konservativer PP und sozialdemokratischer PSOE ist am Ende. Neue undogmatische Parteien und Bündnisse haben das politische Spanien auf den Kopf gestellt und die alten Eliten in Schockstarre versetzt. Die ökonomische Krise ist zu einer Krise der Gesellschaft geworden – und hat letztlich das Parteiensystem erfasst. Dabei haben die Spanier nicht auf rechte Kräfte gesetzt, sondern mit Podemos („Wir können“) eine neue linke Partei und mit Ciudadanos („Bürger“) eine zentristische Partei aufsteigen lassen. In Madrid konnte man erkennen, wie wechselhaft, aber auch wie kreativ eine Demokratie in einer Krise reagiert.

Die Forderung der Linken: Kostenloses Schulessen

Ich nutzte die Gelegenheit, um mit einer zentralen Vertreterin der neuen linken Kräfte ins Gespräch zu kommen: Manuela Carmena, eine 71-jährige pensionierte Bundesrichterin, die unter dem Franco-Regime für den Rechtsstaat gekämpft hat. Ihr Bündnis ist nach der PP zweitstärkste Kraft geworden und könnte mit Unterstützung der Sozialdemokraten die nächste Bürgermeisterin stellen.

Wir trafen uns in einem hypermodernen und gleichzeitig linksalternativen Co-Working-Space (eine Art Großraumbüro für Kreative, in dem sie einen Schreibtisch mieten). Bei unserem Gespräch fragte sie mich nach Berliner Konzepten zum Umgang mit Brennpunktschulen und dem deutschen Ausbildungssystem. Auch über den Kampf gegen Privatisierungen und für Rekommunalisierung redeten wir. Carmenas undogmatische und zugleich pragmatische Art gefällt mir. Nach unserer Unterhaltung wurde Carmena von einem Fernsehsender gefragt, was ihre erste Amtshandlung als Bürgermeisterin wäre. Ihre Antwort: Sie wolle dafür sorgen, dass die Kinder in den Schulen kostenfreies Essen bekommen. Es könne nicht sein, dass die Kinder mit knurrendem Magen lernen müssen.

Wir sprachen in Madrid auch mit der noch amtierenden konservativen Bürgermeisterin Ana Botella – und das Gespräch in dem edlen Amtszimmer des Rathauses unterschied sich wie Tag von Nacht von meinem Treffen mit Manuela Carmena. In den Ledersesseln erklärte uns Botella, dass von den neuen Linken eine kommunistische Gefahr für die Demokratie ausgehe. Ich hatte den Eindruck, dass die Konservativen die Erdbeben-Wahlen als Fehler, als Betriebsunfall interpretieren. Für mich sind das typische Folgen eines Schocks: Zuerst wollen die Betroffenen die Realität nicht wahrhaben, erst später akzeptieren sie die Fakten und können den Schock verarbeiten.

Für Deutschland und speziell für Berlin kann man aus den spanischen Verhältnissen viel lernen. In den 1970er Jahren nach dem Ende der Franco-Diktatur war Deutschland eines von mehreren Vorbildern für den Aufbau einer Demokratie. Heute können wir dort umgekehrt beobachten, wie sich eine westliche Demokratie in einer ökonomischen Krise verhält.

"Unser Parteiensystem ist auch nicht so stabil"

Wie krisenfest wäre also unsere deutsche Demokratie „unter Last“? Unser Parteiensystem ist weniger stabil, als ein Blick in den Bundestag vermuten lässt. Mit den Piraten und der AfD sind innerhalb von nur wenigen Jahren auch bei uns zwei neue Parteien entstanden – und werden vielleicht wieder verschwinden. Aber sie sind Indizien für die Brüchigkeit unseres Parteiensystems. Denn die Grundlage für den machtpolitischen Umsturz wie in Spanien existieren auch in Deutschland: Die politische Klasse besitzt erschreckend wenig Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung. Komplexe politische Zusammenhänge, die in eine scheinbare Alternativlosigkeit münden, werden immer weniger akzeptiert. Oft wird kein Unterschied zwischen den traditionellen Parteien gemacht – ob links oder rechts, es sind „die da oben“. Charismatische Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten, die erkennbar für ein Anliegen stehen, fehlen der deutschen Politik wie der (bisherigen) spanischen. Der Nährboden für einen parteipolitischen Tornado besteht also auch in Deutschland – es fehlt nur der Auslöser.

Raed Saleh ist Chef der Berliner SPD-Fraktion.
Raed Saleh ist Chef der Berliner SPD-Fraktion.

© Paul Zinken/dpa

Aber das muss nicht so bleiben, denn keine Wirtschaft boomt ewig – und auch bei uns in Berlin haben die Menschen bis in die Mittelschicht hinein schon heute Sorgen, ob sie ihre Miete bezahlen können, ob die Schulen ihren Kindern ausreichend Chancen bieten und ob das Rentensystem ihnen eine ausreichende Altersversorgung bietet. Der flexible Arbeitsmarkt hat für junge Menschen den Einstieg in eine sichere Arbeit erschwert – ein Modell, das nur so lange funktioniert, wie die Wirtschaft wächst.

Für die SPD – die ohnehin um ihre Existenz als Volkspartei ringt – ergeben sich aus dieser Überlegung Konsequenzen. Sie muss wissen, dass es keine Bestandsgarantie gibt und das Parteiensystem sich quasi über Nacht ändern kann. Um zukunftsfest zu sein, muss die Partei sich öffnen für Persönlichkeiten und Bewegungen außerhalb der starren Parteilogik. Sie muss sich von den Konservativen fundamental unterscheiden und darf nicht mit ihnen darum konkurrieren, wer die möglichst langweilige Verwaltungslogik vertritt. Dann ziehen neue Kräfte an ihr vorbei. Dabei muss die SPD nicht unbedingt linker, sondern kreativer und glaubwürdiger werden. Kreativ sein heißt, auch mal den großen Wurf zu wagen und dabei Risiken einzugehen: Wie schaffen wir es zum Beispiel in Berlin, preiswerten und vor allem viel mehr Wohnraum zu schaffen, ohne den Staat zu überschulden? Wie kann die Stadt so familienfreundlich organisiert werden, dass junge Leute nicht von Sorgen, sondern von Hoffnung erfüllt sind, wenn sie eine Familie gründen? Glaubwürdigkeit heißt auch, eigene Prinzipien über den Machterhalt zu stellen. Doch was macht es mit der Glaubwürdigkeit der SPD, wenn sie das Betreuungsgeld und die Vorratsdatenspeicherung mitbeschließt und Ausnahmen beim Mindestlohn zulässt?

In Spanien war mit Händen zu greifen, dass Empörung, Politisierung und Kreativität die klassischen Parteien einfach hinter sich lassen können. Die SPD muss lernen, undogmatisch, offen und dynamisch zu sein, wenn sie in Zukunft wieder die Partei der Erneuerung sein will. Ich glaube, das ist möglich: Wir können.

Raed Saleh ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus.

Raed Saleh

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