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Berlin: Berliner und andere Barbaren

Tief im Busch: Die neueste Polemik gegen die Hauptstadt enthält erschreckend viel Altbekanntes

In einer „barbarischen Stadt“ wie Berlin mag es Neuankömmlingen an kultivierten Umgangsformen, an Eleganz und Geschmack fehlen, wie ihn feinsinnige Intellektuelle, die aus historisch tiefer gegründeten Regionen erwachsen sind, gewohnt sein mögen. Doch Barbaren – ob nun Eingeborene oder barbarisierte Langzeitbewohner dieser Stadt – sind naturgemäß eher Bauch- als Kopfmenschen, mehr gefühlsgeleitet als vernunftbestimmt. Deshalb können sich die Autoren aus dem Umfeld der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, die es aus ewigen Kulturstädten wie Hamburg, München, Frankfurt oder Dresden berufsbedingt in die vorsibirische Steppe verschlagen hat, unseres herzlichen Mitgefühls sicher sein. Unter dem Titel „Hier spricht Berlin. Geschichten aus einer barbarischen Stadt“ (Kiepenheuer&Witsch, 8,80 Euro) haben die Autoren Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl und Anne Zielke ihre Erfahrungen im rauen Hauptstadtklima in Kurzgeschichten, Notizen und Alltagsbeobachtungen zusammengetragen. Ihr Leben unter ruppigen Taxifahrern, launischen Verkäuferinnen, CDU-Ersatzkennedys, Hinterhof-Exhibitionisten und anderem ungehobelten Personal empfinden sie als Zumutung; das Fazit: Berlin ist „im Grunde unbewohnbar“ – „Barbarisch. Hässlich. Ungeheuer fremd.“

Erstaunlich wenig Neues, dafür jede Menge abgegriffene Attribute der Kulturkritik an Berlin klingen da an in dieser inneren Zustandsbeschreibung der wiedervereinigten deutschen Hauptstadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, und das in der Perspektive von Autoren, die zwischen 1959 und 1969 geboren wurden. Da mag zusammenwachsen, was zusammengehört, Regierung und Parlament aus Bonn hinter dem Rhein hervorkommen, die Wunden des Weltkriegs und der Teilung verheilen – Berlin bleibt Berlin, so will es scheinen, ein seltsam geschichtsloser Ort mitten im neuen Europa, unwirtlich und kulturfern – eine Randstadt, die immer noch nicht gemerkt hat, dass „56 Kilometer vor ihrer Tür die slawische Welt beginnt“, wie Wolf Jobst Siedler von Georg Diez zitiert wird.

Nur harte Naturen halten es an solchen Orten länger aus, deshalb beeilen sich Genies, die zart besaitet sind, mit ihren Urteilen über die Stadt. Goethe reichten im Mai 1778 sechs Tage Aufenthalt in Berlin, um festzustellen: „Es lebt dort, wie ich an allem merke, ein so verwegner Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.“

In der verspäteten Großstadt, die erst um 1800 die Einwohnerzahl des mittelalterlichen Paris erreicht und dann unter preußischem Regiment in beschleunigtem Tempo binnen weniger Jahrzehnte zur modernen Industriemetropole heranwuchert, bleibt die Urbanität stets überlagert von provinzieller Anmutung. Vor allem die große Zahl der ländlichen Zuwanderer, die Werkshallen und Mietskasernen bevölkern und zur proletarischen Basis der Massengesellschaft werden, bildeten den Motor für Berlins „windiges Wachstum im Halb- Nichts“, wie der marxistische Philosoph Ernst Bloch die ausufernde Entwicklung der Stadt beschrieb.

Auch die ausgewachsene Reichshauptstadt bleibt in der kulturtheoretischen Reflexion der vorgeschobene Kolonialposten an der östlichen Peripherie des deutschen Kulturkreises. Berlin sei „niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt gewesen“, schreibt 1910 der konservative Kunstkritiker und Schriftsteller Karl Scheffler. „Es lag von jeher weitab von den Stammesgebieten der deutschen Kultur, ja, der deutschen Geschichte; es ist zu all seiner ungeschlachten Mächtigkeit wie nebenher emporgewachsen.“

Im großstadtfeindlichen Affekt der konservativen Zivilisationskritik porträtiert Scheffler Berlin als monströses Kunstgebilde, das die Züge einer „barbarischen Monumentalität“ angenommen hat: Berlin, befand Scheffler, „ist buchstäblich geworden wie eine Kolonialstadt, wie im 19. Jahrhundert die amerikanischen und australischen Städte tief im Busch entstanden sind.“

Der Erdrutsch des Ersten Weltkriegs, den besonders die konservativen Eliten als nationale Demütigung und Orientierungsverlust erfahren, verschärft den Affekt gegen Berlin, das nun auch noch Zentrum der verhassten Weimarer Republik geworden ist. Zu einem Sprachrohr der großstadtfeindlichen Attacken wird die Monatsschrift „Deutsches Volkstum“ des Herausgebers Wilhelm Stapel, einem der einflussreichsten völkisch-nationalistischen und antidemokratischen Publizisten der Weimarer Republik. Ziel seiner Polemiken ist nicht das preußische Berlin, nicht der Geist von Potsdam, sondern das libertäre, republikanische „Neu-Berlin“, dessen Bevölkerung „allzu viel Slawen und allzu viel Ostjuden von ungehemmter Penetranz beigemischt“ seien.

Die radikale Polarisierung des Kulturkampfes um Berlin bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Urbanität und Provinzialität. Gegen den seelenlosen, anonymen und vereinsamten Massenmenschen der Großstadt formulieren völkisch-nationale Autoren das Ideal der Volksgemeinschaft und beschwören die Zukunft eines autoritären Systems, das der schrankenlosen Liberalität der Großstadt Einhalt gebietet. „Wie der Bauer der deutschen Landschaft aufsässig zu werden beginnt gegen das, was in Berlin gespielt wird, so wird der gebildete Deutsche sich dem widersetzen, was die Geistigen Berlins propagieren“, schreibt Wilhelm Stapel: „Der Geist des deutschen Volkes erhebt sich gegen den Geist von Berlin. Die Forderung des Tages lautet: Aufstand der Landschaft gegen Berlin.“

Die Frontlinie im Konflikt zwischen enthusiastischer Bejahung weltstädtischer Dynamik und antiurbaner Polemik verläuft zwischen dem ideologisch aufgeladenen Begriffspaar Berlin – Provinz und findet seine Entsprechung in Formeln wie: Zivilisation – Kultur, Asphalt – Scholle, Intellekt – Gemüt, Sachlichkeit – Innerlichkeit, Amerikanisierung (bzw. „Verniggerung“) – Volkstum. Und nationalistische Autoren wie Richard Korherr, der später als Chefstatistiker für Heinrich Himmler die europäischen Juden zählte, um ihre Ermordung logistisch vorzubereiten, sah 1930 in Berlin den Untergang der Kultur schlechthin vorbereitet: „Was einst Babel für die babylonische Kultur und Rom für die Antike, nämlich der Sammelpunkt der sterbenden Kultur, das ist heute Berlin, die Zentrale Deutschlands, ja schon fast Europas, für unsere Kultur: halb barbarisch, seelenlos, international – Weltstadt in größtem Format. Mit ihren Menschenmassen, Kunstmassen, Geistesmassen, mit ihrem Gift ein letztes Aufleuchten vor dem Verlöschen! Ein einziger Punkt, der alles anzieht und verzehrt – wie einst Rom.“

Am Ende gelang es Barbaren tatsächlich, Berlin zu erobern: Die Nationalsozialisten suchten die Reichshauptstadt mit der Provinz zu versöhnen – und ihr den Geist der Moderne auszutreiben. Ihr Traum von einer repräsentativen „Welthauptstadt Germania“ blieb unerfüllt. Stattdessen hinterließ die Gewaltherrschaft einen Trümmerhaufen, Berlin 1945, das war wieder Provinz und blieb es weitgehend auch als Frontstadt, an der sich Welten teilten.

Dreizehn Jahre nach dem Mauerfall hat Berlin längst zu neuer Urbanität gefunden, von den Deutschen in Ost und West als Hauptstadt akzeptiert. Höchste Zeit, auch das Gespräch über Berlin fortzusetzen. „Berlin“, so schrieb Heinrich Heine 1828 „ist gar keine Stadt, sondern Berlin gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist; diese bilden das geistige Berlin.“

Dem geistigen Berlin sollte der Ort nicht gleichgültig sein. Die „Geschichten aus einer barbarischen Stadt“ sind ein Anfang. Auch wenn die Provokation nicht eben originell war.

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