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Berliner Verbrechen: Ohne Schmerz und Verstand

Die Polizei nahm rabiate Jugendliche fest, mit denen obendrein irgendetwas nicht stimmte: Sie hatten eine Arznei geschluckt, die unempfindlich macht. Von Pieke Biermann

Neu ist der Stoff wirklich nicht. „Anfang der 80er Jahre war der in Pariser Banlieues angesagt.“ Jürgen Schaffranek macht seit 13 Jahren Straßensozialarbeit in der Drogenszene, seit fünf Jahren bei Gangway e.V. Er selbst war 2002 zum ersten Mal direkt damit konfrontiert: Durch Mitarbeiter von Jugendeinrichtungen und durch die Jugendlichen selbst. „Die kamen ganz massiv: ,Ey, du hast doch Ahnung von Drogen – ich will vom Tilidin weg und schaff’s einfach nicht mehr!‘“

Tilidin? Ein starkes Schmerzmittel aus der Gruppe II der Liste der Weltgesundheitsorganisation WHO: „schwache Opioid-Analgetika“. Wer nach Operationen oder Verletzungen Schmerzen hat, für die Morphin zu stark wäre, die aber mit Aspirin oder Paracetamol oder Ibuprofen nicht mehr zu behandeln sind, bekommt Opioide ebenso wie Menschen mit Dauerschmerzen – Krebspatienten zum Beispiel. Anderthalb Millionen Verordnungen erbrachten 2005 einen Umsatz von etwa 100 Millionen Euro, hat der Bundesverband der Betriebskrankenkassen errechnet. In Internetapotheken kann man zwischen über 130 verschiedenen Produkten wählen, die Hersteller sind Pharmariesen wie Pfizer, Merck, Ratiopharm, Sandoz ebenso wie mittelständische Firmen.

Das Mittel galt auch hierzulande schon einmal eine echte Modedroge, und das ist noch länger her. Damals hieß er Valoron, und die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ klauten die Tropfen aus Krankenhäusern oder ließen sie sich verschreiben. Das war entschieden billiger und einfacher als Heroin. Es dauerte eine Zeit, bevor die Junkie-Szene herausgefunden hatte, dass man sich Valoron nicht in die Vene spritz. Man muss es schlucken, denn das eigentliche Opioid entsteht erst bei der Verstoffwechselung durch die Leber. Bald fiel der rasante Absatz des Arzneimittels auf, die Preise wurden drastisch erhöht und Ärzte vor allzu freizügigem Verschreiben gewarnt. Als alles nichts half, bekam Valoron einen suchtbremsenden Antagonisten eingebaut: den Wirkstoff Naloxon. Seitdem darf es – egal unter welchem Namen – in Deutschland nur noch als Kombinat verkauft werden, erkennbar am großen „N“.

Anfang 2002 begann in Berlin die nächste Modewelle, und sie schwappte nicht nur zu Gangway und anderen Streetworkern, sie brachte auch die Polizei ins Rudern. „Wir hatten ab Februar 2002 erhebliche Probleme mit einer Gruppe Jugendlicher, die Geschäftseinbrüche beging, und zwar überraschend kaltblütig“, sagt Karlheinz Gaertner. Der Polizeihauptkommissar war damals Leiter der FAO, einer zivilen Einheit für Fahndung, Aufklärung, Observation der Direktion 5. Die Gang bestand aus einem guten Dutzend Jungs arabischer und türkischer Herkunft. „Die haben sich einen Jaguar geborgt, sind hier durch die Gegend gefahren, haben Gullydeckel genommen, in Geschäfte geworfen und Handys rausgeholt.“ „Hier“ heißt Neukölln-Nord. Soweit, so normal im damals berüchtigten Kiez. Diese Jungs jedoch waren zum Teil sehr jung und bis dato nur durch „jugendtypische Bagatelldelikte“ aufgefallen. Zur neuen Brutalität kam noch eine neue Masche: „Die sind mit bis zu 160 Kilometern je Stunde die Karl-Marx-Straße, die Hermannstraße langgebrettert, rote Ampeln spielten überhaupt keine Rolle.“ Das gefährdete nicht nur alle, die zufällig zur selben Zeit auf denselben Straßen unterwegs waren, es machte auch Polizeiarbeit zum unkalkulierbaren Risiko: Verfolgt man sie, treibt man sie erst recht zur Raserei – blockiert man sie, muss man damit rechnen, dass sie durchstarten und einen überfahren. Eigensicherung ist auch eine Dienstvorschrift, und Polizeifahrzeuge sind keine Boliden. „Crash-Kids“ waren seinerzeit bundesweit in den Medien. Aber dieser auch in Neukölln grassierende Wahnsinn erschien den Fahndern zunächst bloß als neue unangenehme Erweiterung der Kampfzone. Richtig stutzig wurde „Kalle“ Gaertner, der heute im Polizeiabschnitt A 55 im Neuköllner Rollbergkiez Dienst tut, erst bei der Festnahme der Kids. „Die waren scheinbar völlig schmerzfrei, wir mussten die mit zwei, drei Mann bändigen und zu Boden bringen, dabei waren das schmächtige Kerlchen“, erzählt er, noch immer halb fassungslos, halb belustigt, „unter normalen Umständen hätte man gesagt: ,Na, sag mal, Burschi, wat machste denn nu hier? Komm, wir bringen dich nach Hause zu Muttern.‘“ Mit der Kooperation von Eltern war hier leider nicht zu rechnen, wie sich bald herausstellte, die waren entweder komplett desinteressiert am Gebaren der Sprösslinge oder selbst Säulen der Neuköllner Kriminalitätsstatistik. Bei Vernehmungen dagegen hatten die Kids plötzlich keine große Klappe mehr, sondern Schweiß- und Angstausbrüche. „Die konnten überhaupt nicht still sitzen. Und dann fiel uns bei Kontrollen in Diskotheken und Gaststätten auf, dass die türkischen und arabischen Jugendlichen ganz oft so kleine braune Fläschchen bei sich hatten.“ Halb oder ganz leer. Tilidin.

Zur selben Zeit machte Gangway-Mitarbeiter Jürgen Schaffranek die ersten Erfahrungen mit Aussteigern und stieß auf dieselben Fakten wie die von Kalle Gaertner und den Polizeifahndern nach und nach ermittelten. Tilidin wird vor allem von männlichen Jugendlichen mit muslimischer Tradition genommen. Warum? „Weil’s ja keine Droge ist, sondern ein Medikament, das kriegt man ja vom Arzt.“ Drogen zu nehmen, erst recht mit Spritzen, ist für Muslime mindestens unehrenhaft, und Drogen fallen unter das Betäubungsmittelgesetz, ihre Beschaffung ist kriminell und wird schärfer verfolgt. Ein Fläschchen mit Pharmaetikett dagegen „ist unglaublich leicht verdeckbar“, sagt Schaffranek. Weshalb in Jugendknäste auch vor allem Tilidin geschmuggelt wird und keine Drogen im Sinne des Gesetzes. Wer will das kontrollieren? Wenn man erwischt wird, dann schlimmstenfalls wegen unerlaubten Besitzes eines verschreibungspflichtigen Medikaments.

Aber wie kommt man überhaupt an das Mittel heran? „Relativ einfach“, sagt Kalle Gaertner, „wir hatten damals mehrere Apotheker, die das so abgegeben haben, für fünfzig Euro bar auf die Hand. Und wir hatten einige Leute, die Rezepte gestohlen und gefälscht haben, per Computer und super gemacht.“

Und lukrativ. Bei einem Fälscher haben die Ermittler mal 1500 Rezepte sichergestellt. Auf 80 Prozent aller 2006 entdeckten gefälschten Rezepte stand Tilidin. Inzwischen erfolgt die Beschaffung vor allem durch organisierte Kriminalität im großen Stil, „die sich von der Heroinszene kaum noch unterscheidet“, sagt Jürgen Schaffranek. „Fest etablierte Dealer, der Szenepreis ist 40 bis 60 Euro pro 50-Milliliter-Fläschchen, die haben auch kein Etikett mehr, die werden aus Kanistern abgefüllt.“ Die Kanister werden – bisher – vor allem aus Tschechien, Polen und den Niederlanden nach Berlin geschmuggelt, das Verteilerzentrum ist nach wie vor Neukölln. Die Käufer kommen nicht nur von hier, sondern auch aus Kreuzberg, Friedrichshain und Wedding. Und niemand weiß, an welchen Delikten von Jugendlichen der Stoff noch alles beteiligt war. Beim Amokschützen von Erfurt und beim Amokmesserstecher vom Berliner Hauptbahnhof kam es über deren Freunde und Internetchats zufällig heraus. Ein junger Mann, der sein kleines Kind misshandelte, hat vor Gericht Tilidinmissbrauch gestanden. Da liegt der Verdacht nahe, dass das Mittel auch bei „Happy slappings“, Schulschlägereien, Raubüberfällen, mit all den plötzlichen „unerklärlichen" Gewalteruptionen eine Rolle spielte. Kalle Gaertner hat damals einen Flyer gemacht und ist durch Schulen getingelt, um Lehrer aufzuklären und aufmerksam zu machen. Jürgen Schaffranek schätzt die Zahl der Nutzer in Berlin auf 300 bis 350

Wie wirkt Tilidin überhaupt? „Erstmal euphorisierend“, sagt Jürgen Schaffranek, „die Leute sind von dem ganzen Druck, den sie im Alltag haben, losgelöst, man kann alles regeln, und man wird – anders als bei Kokain – gelassen.“ Dass man sich mit Tilidin „Mut antrinkt“ für kriminelle Touren, hält er nicht für wahrscheinlich. Er hat auch von Kids gehört, dass sie enttäuscht waren, weil sie gar nicht so schmerzunempfindlich wurden wie gehofft.

Der Zusammenhang von Tilidin und Brutalisierung muss also andere Gründe haben. Frank Wendt, Mediziner am Institut für forensische Psychiatrie der Freien Universität, hat unter anderem sechs junge Angeklagte begutachtet, die über ein Jahr lang regelmäßig Tankstellen und Kioske überfallen haben, „sehr effizient, muss man wohl sagen“. Auf Tilidin. Aber eben nicht nur. „Es gibt keinen reinen Tilidin-User, und Tilidin ist auch nicht erste Wahl – die meisten fangen mit Alkohol oder Cannabis an“, sagt Wendt. Zur polytoxischen Gemengelage gehört alles, was der Markt hergibt – andere Medikamente wie Benzodiazepine, Amphetamine, Designerdrogen. Aber genommen wird eben auch, was im eigenen Milieu zählt. Drogen haben viele Dimensionen, die soziale ist nicht die unbedeutendste. „Die entspannte Euphorie“, sagt Schaffranek, „führt zum Beispiel dazu: Man kann damit beim Vögeln den Orgasmus verzögern. Ein Supereffekt für Jugendliche.“ Der aber bald total umkippt. „Dann kommen Gewichtsverlust, Krampfanfälle, Schlaflosigkeit, und zwar heftig, und mit denselben Entzugssymptomen wie bei Heroin-Junkies.“ In der Phase verabschiedet sich die Libido dann komplett, der Potenzdruck der anderen Jung-Machos aber nicht. Deshalb hat Kalle Gaertner bei Festnahmen Sprüche gehört, die er erst nach den Ermittlungen der Polizei glauben mochte: „Ick fahr Jaguar, ick kann mir Viagra leisten und die besten Nutten – und das erzählte mir ein Vierzehnjähriger, sagt er. „Mir blieb erstmal der Mund offenstehen.“ Zimmer im Luxushotel. Polnische und russische Prostituierte, die wer weiß woher für absurden Sex mit kindlichen Frühgreisen gebucht worden waren. Viagra mit vierzehn. Tilidin-Chic. Wann die Modefotografen ihn wohl entdecken?

Tilidinabhängigkeit ist auch ohne all das teuer. Harte User kommen auf zwei Fläschchen pro Tag, das sind mehr als hundert Euro. Die können nur kriminell beschafft werden, mit den bekannten sozialen Kosten. Soll man also Tilidin in den Drogen-Katalog aufnehmen? „Auf keinen Fall“, sagt Jürgen Schaffranek, „es löst das Problem in keiner Weise, es kriminalisiert die Leute nur weiter.“ Und es macht den wirklichen Schmerzpatienten ihre Leiden noch leidvoller. Man muss vielmehr die Entzugs- und Therapiemöglichkeiten endlich ausbauen. Gute Erfahrungen damit gibt es seit 25 Jahren - in eben jenen Pariser Banlieues, und zwar mit opiatgestützten Entzügen. Nur, in Deutschland agiert ein Arzt, der die bei Opioidabhängigkeit macht, in einer rechtlichen Grauzone. Erlaubt sind sie offiziell nur bei Opiatabhängigkeit.

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