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Von ganz oben kann man den Flughafen sehen: Riesenrad auf dem Zentralen Festplatz im Wedding.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Volksfest: Kirmes in Zeiten des Terrors

Ihre Buden standen auf dem Breitscheidplatz, einige Schausteller haben den Anschlag im Dezember nur knapp überlebt. Was macht die fahrende Zunft in Zeiten des Terrors? Eine Rummelreportage vom Festplatz in Wedding.

Am Anfang ist da erst mal dieses große Nichts. Der weite, menschenleere Rummelplatz. Ein Mittwochabend kurz vor sieben, der dunkelgraue Berliner Märzhimmel hängt tief über dem reglosen Riesenrad. Stumm baumeln die Riesenpandas und die rosa Teddys von der Losbude vorne am Eingang. Der Betreiber der Soccer-Box dreht Pirouetten um seinen Fußball. Am Geländer vor dem Freefall-Tower lehnt ein Platzanweiser, die halb gerauchte Kippe in der Linken, eine Spiegelbrille im Gesicht mit einem Ausdruck irgendwo zwischen stoisch und Leckt-mich-doch-alle.

Stell dir vor, es ist Kirmes, und keiner geht hin.

Vielleicht ist es nur das trübe Wetter, vielleicht nur der Termin, unter der Woche und knapp vor Monatsende, das Geld schon alle bei den meisten. Oder ist es doch schon so weit? Bleiben die Leute etwa zu Hause, weil sie sich nicht mehr hierher trauen, aus Angst? Denn dieses 47. Berliner Frühlingsfest ist das erste größere Volksfest in der Stadt, seitdem der Tunesier Anis Amri am Montag vor Heiligabend einen Dreißigtonner in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert und zwölf Menschen getötet hat.

Wie sieht es also aus hier auf dem Zentralen Festplatz, gleich gegenüber vom Flughafen Tegel, Bezirk Wedding an der Grenze zu Reinickendorf? Wie geht’s der Kirmes, was macht das Geschäft, das fahrende? Welchen Eindruck hat der Anschlag vom Dezember hinterlassen bei der stolzen Schaustellerzunft, die doch als weitgehend furchtlos gilt? Wie ist das, jetzt ein Volksfest zu feiern, in den Zeiten des Terrors in Europas Städten?

Zwei Security-Männer patrouillieren ums Carré

Ein bisschen einsam ist es, das ist die erste, schnelle Antwort an diesem ersten Kirmesmittwoch, dessen halbe Preise kaum jemanden locken wollen. Ein paar Familien verlieren sich zwischen Wurfbuden und Ponyreiten, drei Vorschulkinder fahren Schlauchboot im Beachclub, konzentriert und ernst. Zwei Security-Männer in schwarzen Pullis und Cargohosen patrouillieren ums Carré, sie plaudern, nicken sich zu. Die Wilde Maus steht still unter ihrem trotzig blinkenden Schriftzug, es ist derselbe Typ Achterbahn, der im gleichnamigem Film von Josef Hader im Wiener Prater steht.

Und dann doch noch ein bisschen Leben, hinten am Melodie Star, wie der Musikexpress hier heißt. „Ronald“, kommt da plötzlich eine Stimme aus den Lautsprechern, dann eine kurze, erwartungsvolle Stille. „Uwe“, antwortet Ronald vom Kinder-Scooter gegenüber: „Uwe, was ist los?“ Und Uwe in seinem bunten Kassenhäuschen schmeißt irgendeinen 90er-Jahre-Disco-Kracher in die Rotation, lauscht kurz den Beats, schnurrt dann: „Hier, extra für dich!“ Und Ronald fängt an mitzusummen, alles übers Mikro, alles für den leeren Platz, ein Duett ohne Publikum, und Uwe nickt und sagt: „Jenau!“

Ihren Humor, den haben sie also noch, die Schausteller, auch wenn er gerade am Galgen hängt wie die gelben Minions vorne an der Losbude mit ihren Fischaugenbrillen.

Also, Uwe: Was macht das Geschäft?

„Berlin ist abgefressen“, sagt Uwe, ein drahtiger Mann, Pulli und Bluejeans, mit einem kleinen goldenen Ring im Ohr. Zu viele Volksfeste, zu wenig Interesse. Steglitz, Neukölln, Frühlingsfest, Sommerfest. Hier oben ziehen sie ohnehin nur Wedding und Reinickendorf an und ein bisschen das Umland, die Leute wollen, dass die Kirmes zu ihnen kommt statt sie zur Kirmes. „Der Neuköllner, der wartet ab!“, sagt Uwe, und das Ausrufezeichen spricht er mit, über den Tonfall macht er das, über die Wortwahl. Es ist eine direkte Sprache, die nicht lange herumrührt um die Sachen, von denen doch eh alle wissen sollten, wie sie liegen. Schaustellersprech.

Die goldenen Zeiten: lange vorbei

Uwe heißt Hombach mit Nachnamen, ist 50 Jahre alt und Schaustellergehilfe, in Moabit geboren, in Charlottenburg groß geworden, seit 15 Jahren jetzt im Wedding. Mehr West-Berlin geht schwer. Seit Kindertagen ist er auf dem Rummel unterwegs, immer wieder, immer noch. „Seit 30, 35 Jahren mache ich die Scheiße schon mit.“ Die goldenen Zeiten: lange vorbei. Wann lief es das letzte Mal so richtig gut, Uwe? Prompte Antwort: „Als wir noch die D-Mark hatten. Und als die Alliierten noch hier waren.“ Als es noch Froschschenkel gab auf dem deutsch-französischen Volksfest und das Geld noch lockerer saß.

Der Melodie Star ist auch noch aus der guten, alten Zeit, eins von diesen Old-School-Fahrgeschäften mit einer Blondine oben im Schriftzug, die mehr Ausschnitt hat als Kleidung, mit singendem Elvis an der Front und einem geflügelten Stars-and-Stripes-Logo, das aussieht wie das Heck einer Harley auf der Route 66 – wie man sich hier eben die große Freiheit made in USA vorstellt.

Uwe Hombach, Schaustellergehilfe, oder: Rekommandeur, wie sie sich hier nennen, die Jungs und Mädels am Mikro, die Kunden an die Kasse locken und während der Fahrt mit bester Schlafzimmerstimme diese grandiosen Kirmessprüche ins Mikrofon rufen: „Volle Granate, Renate... Ab durch die Mitte!“ – „Das ist das, was Sie suchen, das ist Spaß PUR!“ – „Noch schneller? Na lo-lo-los, Schluss mit lustig! Ab geht’s, Baby...“

Und ab geht es. Glitzernde Discokugel, blinkende Notenschlüssel, dann kommt der Nebel, und der Melodie Star dreht sich. Uwe guckt hoch zum Bildschirm, „bisschen Lala machen“, und schiebt bei iTunes Hildegard Knef ein: „Eins und eins, das macht zwei, drum küss’ und denk’ nicht dabei, denn Denken schadet der Illusion. Alles dreht sich, dreht sich im Kreis...“ Und für einen kurzen Moment wirkt sie tatsächlich, die zeitlose Entspannungsdroge Rummel. Kurz scheint alles wie immer, wie damals, als eine Fahrt zwei Mark kostete statt vier Euro und die Franzosen und die Amis noch ihre schützende Hand über die Stadt und ihre Bewohner hielten.

Und dann sagt Uwe unvermittelt: „Mein Chef, Max Müller, der ist Geschädigter vom Breitscheidplatz. Dem haben sie zwei Buden zerfahren.“

"Menschlich sind wir nicht betroffen, Gott sei Dank"

Sicher ist sicher: Betonsperren vor dem Eingang des Festgeländes.
Sicher ist sicher: Betonsperren vor dem Eingang des Festgeländes.

© Kitty Kleist-Heinrich

Auch die Weihnachtsmärkte bespielen ja die Schausteller, die Rummelsaison geht schließlich nur ein gutes halbes Jahr, von Ende März bis Oktober. Im November holen sie dann die Weihnachtsbuden aus den Lagerhallen. Und so stand Hombachs Boss, Maximilian Müller, dem hier der Melodie Star gehört und die XXL-Krake an der anderen Ecke des Platzes, an diesem Montagabend im Dezember in seiner Holzbude mit einem geschwungenen Torbogen drüber und schenkte Glühwein aus an Berliner und Touristen. Freute sich schon auf den Feierabend, als um kurz vor acht der Sattelschlepper mit Anis Amri am Steuer auf ihn zuschoss und die Bude, in der er mit seiner Freundin stand, halb zerstörte, und die nächste, rechts von ihm, auch die war seine, komplett mit sich riss.

„Menschlich sind wir nicht betroffen, Gott sei Dank“, sagt Uwe Hombach, und er meint damit, dass keiner der Menschen, die er kennt oder für die er arbeitet, getötet oder verletzt wurde. Aber was heißt das schon: nicht betroffen. Alle hier sind betroffen, alle hadern sie. Suchen nach Antworten. Das merkt man schon daran, wie Hombachs Sätze über den Breitscheidplatz nahtlos übergehen in eine Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, der Arbeit der Behörden, dem Europa der offenen Grenzen. „Reinlassen ja“, sagt Uwe Hombach, „aber bitte mit Namen und Foto.“

Alle Schausteller waren am 19. Dezember auf dem Breitscheidplatz, auf die eine oder andere Weise. Der Platzanweiser draußen am Melodie Star war sogar mittendrin, das lässt Uwe Hombach jetzt nebenbei fallen: „Tschieke hier, dem ist die Bude überm Kopf zusammengekracht. Keine Ahnung, wie er da rauskam.“ Hombach winkt den großen, schlanken Mann heran, dunkles Basecap, Zigarette in der Hand, rauchend steht er im Kies neben dem Kassenhäuschen. Gheorghe Ionescu, wie er mit vollem, mit richtigem Namen heißt, Saisonarbeiter aus Rumänien, auf dem Rummel seit drei Jahren. In den wenigen Worten Deutsch, die er kann, beschreibt er, wie das war in der Bratwurstbude auf dem Breitscheidplatz. Wie da zwei Leute gerade eine Wurst bestellt hatten, wie er sich umdrehte, um Senf und Ketchup draufzumachen, genau in dem Moment, als der Lkw kam.

Und die beiden vor der Bude? Sind tot.

„20 Zentimeter“, sagt Tschieke, er zeigt die Distanz zwischen sich und dem Lastwagen mit beiden Händen, zwischen den Fingern der Rechten steckt noch die Zigarette. Er sagt es noch einmal: „20 Zentimeter.“ Dann sagt eine Weile keiner mehr etwas. Tschieke zieht an seiner Zigarette. Und die Leute, die beiden vor der Bude? Tschieke schüttelt den Kopf. Tot. Er tritt einen Schritt zurück, schaut zu Boden, zuppelt am Ärmel seines Kapuzenpullis, unter dem Kragen ist kurz ein dünnes Goldkettchen zu sehen.

Der Melodie Star beendet seine Fahrt, Tschieke dreht sich um, hilft einer Familie beim Aussteigen, hebt die Sicherheitsbügel, reicht ihnen eine Hand. Dann kommt er wieder nach unten, die Kippe immer noch zwischen zwei Fingern. 20 Zentimeter. Bekommt er psychologische Betreuung? Tschieke zuckt mit den Schultern und sagt über seine Art, mit all dem irgendwie fertigzuwerden, nur diese beiden Sätze: „Eine Woche ganze Nacht gucken Lkw. Dann holiday, nach Hause, fertig.“ Zu Hause, bei Frau und Kind, wollte er auch nicht groß erzählen von dem, was passiert war. „Nicht viel reden. Nicht gut.“ Tschiekes Gesicht wird hart jetzt. Er nimmt einen tiefen Zug, hebt die rechte Hand mit der aufgerauchten Zigarette und schleudert sie nach hinten in den Spalt zwischen Karussellplattform und Kies, eine abrupte, fast aggressive Bewegung. Tschieke dreht sich weg, macht ein, zwei Schritte. Es ist alles gesagt.

Uwe Hombach hat die ganze Zeit still in seinem Häuschen gesessen. „Die, die so was machen“, sagt er nun, über Amri und die anderen Attentäter, „die haben noch nicht mitgekriegt, dass wir auf einem Planeten leben.“ Und bei aller Kritik an Merkels Politik will er das alles auch bitte nicht falsch, nicht generell feindlich verstanden wissen. Es gebe keine guten und schlechten Nationalitäten, betont der Rekommandeur, nur gute und schlechte Menschen. „Und das da draußen“, Hombach zeigt durch die Scheibe auf Tschieke, „das ist zum Beispiel ein guter Rumäne.“

"Privatleute verstehen uns nicht"

„Es ist ein harter Beruf“, sagt Johan Korten. „Wir sind spezielle Leute. Privatleute verstehen uns nicht.“ Privatleute, so nennen die Schausteller alle, die keine Schausteller sind. Einen Tag darauf, früher Abend, und Korten, ein 62 Jahre alter Holländer mit den wunderbaren drei Taufnamen Johannes Hubertus Wilhelmus, steht im Kassenhaus des Eclipse. Er weiß, wovon er redet, über 30 Jahre hat er einen Autoscooter betrieben, in der Zeit, als sich dort meist noch all die zusammenrotteten, die Ärger suchten, Rocker, Halbstarke, Jugendgangs. 2009 schließlich verkaufte er den Scooter und legte sich für 750 000 Euro Gebrauchtpreis den Eclipse zu, einen 50 Meter hohen rotierenden Anker, dessen Gondel sich beim Fallen dreht und die Fahrgäste dabei einer Kraft von bis zu 4G aussetzt, dem Vierfachen des eigenen Körpergewichts. Für sechs Euro die Fahrt ist der Eclipse so etwas wie der Endgegner unter den Fahrgeschäften hier am Platz. Wer die Angst sucht, darf an ihm nicht vorbeigehen.

Korten, ein gedrungener Mann mit Glatze und randloser Brille, zuckt mit den Schultern. „Klar, das ist nur für die richtigen Die-Hards hier“, sagt er. „Das ist das Ekligste. Ein Adrenalinkicker. Aber nicht gefährlich.“ Und genau das ist das Kernprinzip beim Rummel: fiktive Gefahr. Dem Abgrund ins Auge blicken, aber aus dem Inneren komplett TÜV-geprüfter Maschinen. Denkt natürlich niemand mehr dran, wenn er 50 Meter über dem Festplatz baumelt oder mit 90 km/h auf die Erde zurast. Genau das ist der Trick, es ist ein Spiel mit dem Kopf, mit den Botenstoffen im Gehirn. „Ja, es geht auch um Bravour hier“, sagt Johan Korten in seinem weichen Hermann-van-Veen-Singsang.

Er selber braucht den Kick nicht. Hat noch nie in seinem Eclipse eine Runde gedreht. Wie bitte, nicht mal getestet die eigene Höllenmaschine? Korten schüttelt den Kopf. „Höhenangst“, sagt er knapp. Ist halt so, was willst du machen. Johan Korten hat 33 Jahre Autoscooter hinter sich, er muss eh keinem mehr was beweisen.

Als in Berlin die Buden zerschmettert wurden, stand Korten auf einem Rummelplatz in Dublin. Jeder der Schausteller weiß noch genau, wo er an jenem Tag war. Eine Veränderung aber will Johan Korten nicht gespürt haben, schon am nächsten Tag ging die wilde Gaudi weiter, mit 4G und 90km/h, alles wie gehabt. Groß gesprochen habe er mit den Kollegen nicht über die ganze Sache. „Ich denke nicht daran“, sagt er über die Terrorbedrohung. „Man hofft immer nur, dass es uns nicht passiert.“

Korten sieht seine Frau an, die neben ihm sitzt. „Mal sehen, wie lange es überhaupt noch weitergeht“, sagt er. Sie nickt. „Ich will langsam abbauen“, sagt Korten. „Noch ein bisschen leben die letzten Jahre.“ Er blickt auf, mit wachen Augen. „Ich hoffe, dass noch viele letzte Jahre kommen.“ Seine Rente steht draußen neben der Kasse, ein begehrtes Fahrgeschäft, stets gewartet und gecheckt, verliert nicht viel an Wert über die Jahre. Mal sehen also, wie lange das noch so weitergeht. Jedes vierte Volksfest ist ja schon verschwunden seit der Jahrtausendwende. Und in Berlin ist eh zu viel los, Veranstaltung über Veranstaltung, draußen, drinnen, jeden Tag, das ganze Jahr. Zum Abschied sagt Johan Korten daher noch einen schönen, allgemeingültigen Satz: „Berlin ist eine große Stadt, aber hier ist viel zu viel Kirmes.“

Die Angst ist fiktiv, der Nervenkitzel Tüv-geprüft

"Es ist ein hartes Geschäft": Johan Korten, Betreiber des Fahrgeschäfts Eclipse.
"Es ist ein hartes Geschäft": Johan Korten, Betreiber des Fahrgeschäfts Eclipse.

© Kitty Kleist-Heinrich

Trotz allem, trotz Event-Konkurrenz und Terror, geht aber immer noch ein bisschen was. So wie am folgenden Sonntag, es ist nun April, die Leute haben alle frei, und die Wetter-App auf dem Handy zeigt am frühen Nachmittag 18,6 Grad an. Der Festplatz ist ziemlich voll diesmal. Schlangen vor den Röstbuden mit den gebrannten Mandeln und Nüssen. Vor der Wilden Maus winken Eltern ihren halbwüchsigen Kindern zu, wenn die vorbeigerattert kommen. Gedränge auf den Wegen. Der Eclipse schleudert zwei Dutzend Menschen durch die Luft. Hohe Schreie, die über den Platz wehen, die Beats der Musik überlagern, dazu die dunklen Stimmen der Rekommandeure. Da ist er, der Rummel-Sound, sie lebt noch, die Kirmes.

„Das hat mit Massel zu tun“, sagt Max Müller und klopft mit den Fingerknöcheln auf die marmorierte Arbeitsplatte vor sich. „Wir nennen es Massel.“ Glück also, das Wort ist aus dem Jiddischen ins Schaustellerdeutsch eingewandert, Glück, das ist den Menschen hier heilig. Müller, ein schlaksiger Mann mit Brille, Baseballkappe und kariertem Wollschal um den Hals, sitzt im Führerhäuschen der XXL-Krake, vor ihm die Kasse, die Chips, rechts von ihm das Pult mit den bunten Knöpfen und dem Mikrofon.

Die Krake ist eins der sanfteren Fahrgeschäfte. Familientauglich. Man hebt ein bisschen ab, dreht sich im Kreis, das war’s. Maximilian Hans Müller, 26 Jahre erst alt, Uwe Hombachs Chef, hat die Krake vor einem Jahr mit einem Existenzgründerdarlehen finanziert, sein zweites Fahrgeschäft nach dem Melodie Star, den hat er schon zwei Jahre länger. Er ist sein eigener Boss, das ist Familientradition. „Krake immer volle Pulle – Papa“, steht mit weißer Kreide auf der alten Schiefertafel an der Wand, ein launiger Gruß vom Senior, auch er sein Leben lang Schausteller. Beim Anstoßen hat er die Botschaft hier draufgeschrieben, erzählt Max Müller, das wird so schnell nicht abgewischt. Alles wird aufgehoben, alles bringt Glück, Schausteller-Aberglaube.

Müller ist, wie jeder gute Schausteller, ein guter Verkäufer, ein gewiefter Geschäftsmann. Er kann gut und ausdauernd erzählen, hat auf fast alles eine knackige Antwort, oft führt er selbst einen Kritikpunkt ins Gespräch ein, um ihn im Satz darauf zu widerlegen. Dass das Frühlingsfest immer kleiner wird, das Geschäft immer schwieriger, ist für ihn vor allem eine „Geländefrage“: der Zentrale Festplatz zu weit draußen und alles andere als zentral, ein Etikettenschwindel der Politik, die den lauten, grellen Rummel „weggeschoben“ hat aus der Innenstadt, wo jetzt andere Groß-Events stattfinden, Marathon, Fashion Week, Fanmeile, solche Sachen. Am Tiergarten-Dreieck, wo das Frühlingsfest bis 1999 zu Hause war, steht jetzt die CDU-Zentrale.

Er hat zwei Buden verloren auf dem Breitscheidplatz

Auch an der Krake geht es schnell wieder um das große deutsche Thema der letzten beiden Jahre, um „diese ganze Asylkiste“, wie Max Müller es ausdrückt. Das Thema, das vielen nur in Talkshows begegnet oder in der Zeitung, ist ihm sehr nahe gekommen, viel zu nahe, damals auf dem Breitscheidplatz in seinem Glühweinstand. Zuerst hat Müller den Motor gehört, ein lautes Aufheulen, und er wusste sofort, das ist ein Lkw, er hat ja selber drei. Und dann war da schon der riesige Kühlergrill, mitten in seinem Blickfeld.

Max Müller hat zwei Buden verloren auf dem Breitscheidplatz und sicher auch den Glauben eines jungen Menschen an die eigene Unverletzlichkeit. In manchen Momenten wirkt es, als könne man ihm beim Hadern zuhören, bei dem Versuch, Sinn zu stiften, wo keiner ist. Wenn er Sätze sagt wie diese etwa: „Wir hatten immer die Befürchtung, dass unter den Leuten nicht nur nette sind. Und jetzt denke ich mir: Wir wussten es doch. Das mag ein Vorurteil sein, aber eigentlich ist es das ja nicht mehr. Es ist ja passiert.“ Wenn man als Gesprächspartner dann versucht, das zu relativieren oder einzuordnen ins Große und Ganze, Anis Amri, ein Flüchtling von einer Million, merkt man schnell: Max Müller sieht das anders. In seinem Leben ist schon ein schlechter Mensch zu viel aufgetaucht.

Müller bemüht sich, Haltung zu bewahren. Schausteller sind stolz. Lassen sich nicht unterkriegen bis zum Schluss. Aber je länger das Gespräch um diesen kalten Winterabend unter der Gedächtniskirche kreist, desto stiller scheint es im Führerstand der Krake zu werden, desto länger werden die Pausen. „Eigentlich ist alles gleich“, sagt Müller auf die Frage, was sich verändert hat. Nur die vier Betonsperren am Eingang, die gab es letztes Jahr noch nicht, er selbst hat sie da hin gewuchtet mit seinem Hebekran, eine freiwillige Sicherheitsmaßnahme des Schaustellerverbands. „Dass hier einer den Weg runterkommt und Vollgas in die Menge fährt“, sagt Müller, „das findet nicht mehr statt.“ Er hört dem Satz nach, er hat ihn mit fester Stimme gesagt, und doch wirkt er brüchig, ungewiss. Vier Betonteile, etwa zwei Meter breit und einen Meter hoch. Die Bilder aber können sie nicht mehr herausholen aus Max Müllers Kopf und auch nicht dieses Geräusch. Er versucht, es zu beschreiben, es nachzuahmen, er macht: Rebebommbommbomm. Erst dachte er, da werden Metallcontainer abgeladen. Dann knickte schon die Bude über ihm ein, wurde gerade noch von dem Stand nebenan gestützt. Müller sah Tschieke, da, wo vorher die Bratwurstbude stand. Da schnappte sich Max Müller seine Freundin, klemmte sie sich einfach unter den Arm und rannte mit ihr los, quer über die Platte, rüber zu Saturn und so weit hoch wie möglich, in den fünften Stock. Als er zurückwollte, zu seiner Familie, helfen, da war schon alles abgesperrt.

Es fällt auf, wie oft Müller beim Sprechen gähnen muss an diesem frühen Nachmittag. Sie haben oft Albträume, seine Freundin und er. Vor Kurzem haben sie sich bei der Traumaambulanz angemeldet. Für diesen Artikel lässt er sich erst fotografieren, will am Ende aber doch nicht, dass ein Bild von ihm in der Zeitung erscheint.

Stille im Kassenhäuschen der XXL-Krake. Die Scheibe ist zugeschoben, draußen läuft „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens. Müller lockert seinen Schal. Nimmt die Baseballkappe vom Kopf, setzt sie wieder auf. Beugt sich dann vor, schaltet das Mikro an: „Aufgepasst, Leute. Legen wir los, fangen wir an. Jetzt geht’s nach obennnnnn. Yeeeaaah, super.“

Er funktioniert noch, ein Profi. „Wir hatten alle Glück“, sagt Müller über sich und die Kollegen. „Wir hatten nur einen verletzten Mitarbeiter.“ Zwei Tage war der Markt geschlossen, alle Buden dicht, Spurensicherung, Aufräumarbeiten. Donnerstag stand Müller schon wieder auf dem Breitscheidplatz und verkaufte seinen Glühwein, jetzt nicht mehr in seiner eigenen Bude, die war ja Schrott, sondern in einem Leihstand, den ein anderer freigegeben hatte, einer von denen, die genug hatten. Die nicht mehr wollten.

„Es musste irgendwie weitergehen“, sagt dagegen Max Müller. Auch weil nicht klar gewesen sei, was an Entschädigungen gezahlt würde. Er stellte einen Antrag bei der Verkehrsopferhilfe, die Entscheidung steht aus. „Es geht immer weiter“, sagt er leise. „Die Erde dreht sich immer weiter, egal was wir hier machen.“ Die Fahrt ist zu Ende, die Krake trudelt aus. „So, der junge Mann lässt euch raus. Bis zum nächsten Mal!“

Da draußen, das große, bunte Fest, die Kinder, das Lachen, es scheint unwirklich in diesem Moment.

Jérôme Boateng schlendert mit seinen Töchtern über die Kirmes

Nur noch eine letzte Runde über den Platz. Noch einmal am Freefall-Tower vorbei und am Beachclub, und hinten dann, zwischen den Schießbuden und dem Ponyreiten, ist aus dem Gedränge plötzlich eine bekannte Stimme zu hören, tief, ein bisschen vernuschelt. Sorry, sagt der, dem die Stimme gehört, ein hochgewachsener Mann, dunkle Baseballkappe, Sonnenbrille, aber man erkennt ihn trotzdem sofort. „Sorry“, sagt Jérôme Boateng, der Fußballweltmeister, zu einem Familienvater, der zwei Köpfe kleiner ist als er und erwartungsvoll vor ihm steht. „Sorry, aber ich bin mit meinen Kindern hier.“ Und der andere Mann zieht ab, ohne Foto, ohne Autogramm, er vergisst vor lauter Aufregung fast seinen Sohn in der Menge. Boateng ist da schon weiter geschlendert, an jeder Hand eine Tochter. Sie holen sich Tickets fürs Riesenrad und steigen ein. Und es ist lächerlich, aber irgendwie tut es gut, dass er hier ist, der Riese aus der Abwehr des FC Bayern, man fühlt sich gleich besser, sicherer irgendwie.

Dann dreht sich das Rad, und die Gondel steigt langsam auf, sie schaukelt ein bisschen im Wind, und am Scheitelpunkt hält sie eine Weile an. Den Flughafen kann man von da oben sehen, den Tower, die Landebahnen, und auf der anderen Seite liegt die große, flache Stadt. Unten, 35 Meter unter dem Riesenrad, ist der Rummel, die XXL-Krake mit ihren Armen dreht sich, und vor dem Melodie Star steht Tschieke, der gute Rumäne, ganz klein. Da ist der Eclipse, da ist das Kreischen der Leute, da sind die Bierbänke und die Losbuden, da sind all die Menschen auf der Suche nach einem kleinen bisschen Glück.

Der Text erschien am 15. April 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin sowie im Online-Kiosk Blendle.

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