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Der Countdown bis zum Brexit läuft.

© imago

Berliner Wirtschaft und der Brexit: Abwarten und Tee trinken

In elf Wochen steht der Austritt der Briten aus der EU an. Berliner Unternehmer sind gespalten zwischen Trübsal und Euphorie.

Der Countdown läuft: In 79 Tagen will Großbritannien die Europäische Union verlassen. Der Schritt wird schwere makroökonomische Folgen für den europäische Binnenmarkt haben, aber auch ganz konkrete für die Unternehmen in der deutschen Hauptstadt. Welche genau, ob positiv oder negativ, darüber sind sich indes noch nicht alle einig.

Wer sich etwa in der Berliner Start-up-Szene umhört, bekommt neben dem Bedauern über den Abgang der Briten recht häufig auch Töne der Freude zu hören. So darf Julian Grigo, der beim Digitalverband Bitkom für Finanzdienstleistungen zuständig ist, nach eigenem Bekunden jetzt öfter an sein Telefon gehen, um Fintechunternehmen aus der ganzen Welt zu erklären, wie man nach Deutschland, insbesondere nach Berlin kommen kann. Grigo: „Berlin ist eine weltweit gehypte Stadt.

Chris Bartz ist Chef einer dieser Fintechfirmen. Er und sein Unternehmen gehören bereits zu den Glücklichen, die in der gelobten Stadt arbeiten dürfen. Elinvar, so heißt die Firma, unterstützt Traditionsbanken auf ihrem Weg in die digitale Welt. 70 Mitarbeiter beschäftigt Bartz in Prenzlauer Berg. Brexit? „Nicht gut“, sagt der einstige Banker, der seinen alten Kollegen bei den Finanzplatzhirschen nun in die Zukunft hilft.

Verhalten optimistisch. Fintech-Chef Chris Bartz.
Verhalten optimistisch. Fintech-Chef Chris Bartz.

© Elinvar

„Der Ausstieg der Briten aus der EU wird den europäischen Markt schwächen. Gerade für junge und stark wachsende digitale Firmen ist das schlecht, weil die sich im einheitlichen europäischen Binnenmarkt viel schneller entwickeln können.“ Aber: „Berlin profitiert vom Brexit. Die Stadt wird neben London einer der zentralen Techstandorte werden.“ Man merke bereits jetzt deutlich, dass sich Leute aktiv von London nach Berlin orientieren oder Leute aus der ganzen Welt sich nicht mehr in London, sondern gleich in Berlin umschauen.

Auch Sascha Schubert, Vizevorsitzender des Bundesverband Deutsche Start-ups, sieht Berlin im Aufwind: „Definitiv werden sich junge Gründerinnen und Gründer aus der EU zweimal überlegen, ob sie ihr neues Start-up in London oder nicht doch eher auf dem Kontinent gründen wollen. Hier gibt es einen klaren Vorteil für Berlin und Deutschland.“

Jede dritte Firma befürchtet Einbußen

Nun gehört leicht exaltierter Optimismus zur Berliner Start-up-Szene wie die Queen in den Buckingham Palace. Kein Wunder also, dass die Euphorie recht schnell verflacht, wenn man in etwas traditionelleren Branchen den Brexit anspricht. So sagt Joachim Brückmann, Bereichsleiter Stadtentwicklung und Internationale Märkte bei der Industrie- und Handelskammer: „Wir haben über 400 Unternehmen identifiziert, die in einem signifikanten Umfang Geschäftstätigkeiten mit Großbritannien unterhalten.“

Die Kammer zähle 120 Berliner Unternehmen mit Niederlassungen in Großbritannien und umgedreht 70 Niederlassungen britischer Unternehmen in der deutschen Hauptstadt. 37 000 Beschäftigte seien für Berliner Firmen in UK tätig, die britischen Unternehmen beschäftigen laut IHK in Berlin rund 13 000 Leute.

In einer Umfrage der Handelskammer unter der eher traditionellen Berliner Unternehmerschaft zeigen sich Befürchtungen: Mehr als jede dritte Firma glaubt im Zuge des Brexits an eine Verschlechterung ihrer Geschäftsbeziehungen mit den Briten. Besonders besorgniserregend sei die mangelnde Erfahrung vieler derzeit in Großbritannien tätiger Unternehmen im Handel mit Drittstaaten. Sollte es Ende März – und das gilt derzeit als durchaus wahrscheinlich – zu einem ungeregelten Ausstieg des Königreichs aus der Europäischen Union kommen, wäre die Insel ein solcher Drittstaat.

Der Brexit bereitet schlaflose Nächte

Was das bedeutet, versucht sich auch Paul Kündiger klarzumachen. Kündiger ist Gründer und Geschäftsführer der Hauptstadtader GmbH, die eine Aufkleberdruckerei namens DeineStadtKlebt.de betreibt. Einer der Großkunden des mittelständischen Unternehmens sitzt auf der Insel und vertraut den Berlinern wegen ihres besonderen Know-hows und der kurzen Lieferfristen. Kündiger: „Der Kunde ist Veranstalter in England und bekommt von uns jeweils ganz kurz vor seinen Events personalisierte und fälschungssichere Aufkleber für die Innenseite von Autoscheiben, die als Eingangskarten zu Events dienen.“

In Sorge. Agenturgründer Paul Kündiger.
In Sorge. Agenturgründer Paul Kündiger.

© promo

Sollten in den kommenden Wochen die Europäische Union und Großbritannien keine Regelungen treffen, die es den Berliner Aufkleberdruckern und dem britischen Veranstalter ermöglichen, die Zusammenarbeit fortzusetzen, steht die Beziehung vor einer großen Belastungsprobe. „Ich habe sogar schon darüber nachgedacht, Teile unserer Produktion nach UK zu verlagern“, sagt Kündiger. Doch das sei für einen einzigen Großkunden noch keine Option. Der Gedanke an Zollformalitäten und drastisch steigende Lieferzeiten bereitet Kündiger schlaflose Nächte.

Ob groß oder klein, namhaft oder unbekannt – der Brexit stellt so ziemlich jeden Unternehmer mit Auslandsgeschäft vor Herausforderungen. Der Flugzeugturbinenhersteller Rolls-Royce plant, seine Sparte zur Zulassung großer Flugzeugmotoren nach Dahlewitz im Berliner Umland umzusiedeln. Sicher ist sicher.

Größte Herausforderung ist die Unsicherheit

Genau das nämlich – die Unsicherheit – ist eine branchenübergreifende Qual. Bitkom-Lobbyist Grigo: „Das ist das größte Problem überhaupt. Wenn die Unternehmen wüssten, dass der schlimmste Fall eintritt, also der ungeregelte Brexit, dann könnten sie sich wenigstens auf etwas einstellen.“ Genau das rät die Handelskammer ihren Mitgliedern in einem Fragebogen, der auf den Austritt vorbereiten soll.

Die Angst vor den Verheerungen, die das politische Manöver namens Brexit anrichten kann, spürt man im Gespräch mit Gordian Overschmidt von der One World Studio GmbH. Im Mutterhaus der englischen Kaufhauskette Fenwick in Newcastle gestaltet das Berliner Unternehmen Jahr für Jahr die spektakuläre Schaufensterdekoration zu Weihnachten. Es obliegt den Kreativen aus Prenzlauer Berg, 38 Meter Shopfront zu einer Stadtattraktion zu machen. Das Design- und Dekorationsspektakel gerät stets zum Großereignis.

„Wir produzieren alles in Berlin“, sagt Overschmidt, der sich noch gar nicht vorstellen mag, welche Herausforderungen auf seine Mitarbeiter warten, wenn alle Kisten, Kartons und Materialien nach einem harten Brexit durch den Zoll müssen. „Vielleicht kaufen wir die Sachen dann dort ein“, so Overschmidt und fragt sich: „Aber was ist mit den Kreativen, die wir für den Feinschliff rüberschicken? Geht das in Zukunft noch?“ Keiner weiß etwas. „Und das ist drei Monate vor dem Stichtag schon ziemlich gefährlich. Da kann vieles ins Stocken geraten“.

Bringt der Brexit wenigstens Diversität?

Mit solcher Trübsal mag und muss sich die Techbranche nicht befassen. Sie lotst lieber Leute in die Stadt und nutzt die Unsicherheit, die vom Brexit ausgeht, um London den Rang abzulaufen. Unter den deutschen Metropolen ist Berlin klar der wichtigste Standort für die jungen Unternehmen, die das Finanzwesen aufmischen wollen. Und so verändert sich Berlin auch dank Brexit in Richtung Diversität.

Suria Ribeiro kam vor wenigen Monaten aus London in die deutsche Hauptstadt. Nach seiner Ausbildung in Hongkong und an der Universität Sussex arbeitete Ribeiro viele Jahre für namhafte Unternehmen der Finanzbranche in Großbritannien, darunter American Express und Barclaycard. Jetzt ist er als „Product Owner“, wie Start-ups ihre Produktverantwortlichen nennen, bei der SolarisBank angestellt.

Das Berliner Unternehmen beschäftigt 200 Mitarbeiter und versteht sich als digitale Plattform mit Vollbanklizenz, die anderen Unternehmen die Möglichkeit gibt, Finanzdienstleistungen anzubieten. Ribeiro, der insgesamt 14 Jahre im Vereinigten Königreich verbrachte, sieht Berlin als „gute Alternative zu London“. Die Stadt verändere sich sehr schnell, außerdem könne man hier mit Englisch sehr gut leben. Das Leben in Berlin ist dem 33-Jährigen sogar eine Herzensangelegenheit: „Ich bin ein Fan des europäischen Projekts.“ Der Brexit sei eine „sehr, sehr traurige Sache“.

Wie viele Ribeiros gibt es in Berlin? „Die Zahl der Brexit-Einwanderer lässt sich seriös nicht benennen“, sagt Lukas Breitenbach, Sprecher der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partner. Anfragen aus Asien und Amerika nähmen zu, sagt Breitenbach, der jedoch Wert darauf legt, dass es sich dabei nur um ein Gefühl handele. Bei den harten Zahlen ist hingegen noch Luft nach oben. Die erfolgreichen Ansiedlungen aus dem Vereinigten Königreich, die Berlin Partner vermeldet, sind durchweg einstellig. 2015 waren es vier, 2016, dem Jahr des Brexit-Referendums, acht und 2017 fünf. Die Zahlen fürs vergangene Jahr kommen Ende Januar.

Weniger Hoffnung haben Berliner Unternehmer auf ein konkretes Ausstiegsszenario bis dahin.

Jan-Philipp Hein

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