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Fachkräftemangel: Zeitbombe demografischer Wandel

2030 könnten 460.000 Fachkräfte in der Region fehlen. Den Engpass müssen Berliner Wirtschaft, Schulen, Universitäten und Politik gemeinsam bekämpfen.

Binnenschiffer, sagen die Angestellten von Jürgen Loch, ist einer der schönsten Berufe der Welt. Während der Ausbildung lernt der Nachwuchs drei Monate im Jahr auf einem Internatsschiff und hat richtig Spaß, sagt der Geschäftsführer der Stern und Kreis Schifffahrt GmbH. Die Bewerber für einen Ausbildungsplatz in seinem Berliner Unternehmen müssten ihm eigentlich die Tür einrennen. Nur passiert das nicht. „Es ist schwer, Azubis für den Beruf des Binnenschiffers zu finden“, sagt Loch. Der Geschäftsführer des Berliner Betriebs, der 300 Mitarbeiter hat, kämpft mit einer Entwicklung, die die regionale Wirtschaft zunehmend zu spüren bekommt: dem Fachkräftemangel.

Die Ursache dafür ist ebenso bekannt wie unaufhaltsam. Weil in Deutschland zu wenige Kinder geboren werden, altert die Bevölkerung. Die Jahrgänge von jungen Nachwuchskräften für den Ausbildungsmarkt schrumpfen. Um diese Jugendlichen konkurrieren nun Unternehmen wie Stern und Kreis Schifffahrt mit anderen. Geschäftsführer Loch würde liebend gern Berliner für die dreijährige Ausbildung zum Binnenschiffer einstellen. „Ich möchte, dass die Leute, die wir ausbilden, auch hier verwurzelt sind“, sagt er. Also nimmt der Betrieb, der derzeit 19 Jugendliche in vier Berufen ausbildet, an Ausbildungstagen in den Bezirken teil, um mögliche Bewerber anzusprechen. „Außerdem versuchen wir, über die Schulen zu gehen, aber die Zusammenarbeit lässt zu wünschen übrig“, sagt er.

Das wird sich künftig ändern müssen, wenn die Region nicht in wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit versinken will. Vor rund einem Monat wurde die erste länderübergreifende Fachkräftestudie für Berlin und Brandenburg veröffentlicht. Dabei ist der Begriff Fachkraft breit gefasst und bezeichnet sowohl ausgebildete Bäcker und Installateure als auch Maschinenbau-Ingenieure und Sozialwissenschaftler. Die von der Prognos AG durchgeführte Untersuchung geht davon aus, dass bis 2030 rund 460 000 Arbeitsplätze in der Region unbesetzt bleiben werden, wenn die beteiligten Akteure nicht sofort etwas unternehmen.

Frauen müssen mehr arbeiten

Von dieser Entwicklung sind alle Branchen betroffen. In fünf Jahren könnten in der Region zum Beispiel 15 000 Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler sowie 14 000 Ingenieure fehlen. Die Autoren der Studie schlagen einige Handlungsmöglichkeiten vor. Denen zugrunde liegt die Annahme, dass in einer schrumpfenden Gesellschaft der Einzelne wichtiger wird. Und der muss für die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt angemessen ausgebildet sein. Die Autoren der Studie appellieren beispielsweise dazu, Schulabgänger so zu informieren, dass diese ihre Ausbildung mit einem klaren und realistischen Berufsbild beginnen. Das senkt im Idealfall die Abbrecherquote. Gleichzeitig sollen Arbeitslose und gering Qualifizierte mit gezielter Weiterbildung auf den Arbeitsmarkt (zurück)geholt werden.

Frauen, die heute oft in Teilzeit arbeiten, müssen mehr, über 50-jährige Arbeitnehmer länger beschäftigt werden. Und insbesondere Berliner Betriebe sollen mehr aus- und weiterbilden. Wirtschafts- und Sozialpartner, die Agentur für Arbeit, Bildungseinrichtungen sowie Verwaltung und Politik müssen sich nun „mehr denn je engagieren, um bedarfsgerechte Angebote zur Qualifizierung für Arbeitskräfte in der Region“ zu schaffen, mahnt die Studie.

„Wir stehen vor einer gigantischen Herausforderung“

An einer Ausbildung, die auf den Arbeitsmarkt zugeschnitten ist, arbeitet die Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) seit Jahren. Sie bietet zum Beispiel ein duales Studium an, bei dem die Studierenden abwechselnd in einem Unternehmen und an der Hochschule lernen – ein Renner, sagt Rektor Franz Herbert Rieger: „Wir haben bis zu zehn Bewerbungen für einen Platz.“ Auch die Weiterbildung der HWR wird stark nachgefragt, beispielsweise der Master in Health Care Management (Management im Gesundheitswesen), für den sich vor allem Mediziner einschreiben.

Rieger reicht das nicht. „Wir stehen vor einer gigantischen Herausforderung“, sagt er und nimmt die Hochschulen mit in die Pflicht, sich anzupassen: „Heute sind die meisten Studenten Teilzeitstudenten. Wir sind aber immer noch eingestellt auf ein Vollzeitstudium.“ Auf einem anderen Feld hat die HWK in Kooperation mit dem Frauennetzwerk Zonta ein Mentoringprogramm aufgelegt, um Studentinnen mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Von Unternehmen fordert der Rektor, dass sie sich für Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund öffnen sollen.

Lieber einen Mitarbeiter, der nicht so gut Deutsch spricht

Martin Schilling, Geschäftsführer des Berliner Strategieberaters Decision Institute, geht noch einen Schritt weiter: „Arbeitgeber werden sich immer stärker darauf einstellen müssen, dass sie Angestellte mit nicht sehr guten Deutschkenntnissen haben“, sagt er. Sein Unternehmen berät öffentliche Stellen bei der Bewältigung des demografischen Wandels. Dieser hat in Brandenburg schon deutlich sichtbare Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. So bilden dort bereits einige Unternehmen junge Menschen aus Polen aus, da es keine geeigneten deutschen Bewerber mehr für die Ausbildungsplätze gibt. „Bevor ich gar keinen Mitarbeiter habe, nehme ich lieber einen, der nicht so gut Deutsch spricht“, erklärt Schilling. Diese Fachkräftequelle wird aber schnell versiegen, glaubt man Demograf Harald Michel (siehe Interview): „In Polen zum Beispiel ist die Schrumpfung und Überalterung noch schlimmer als in Deutschland. Von dort kann also keine Rettung kommen“, sagt er.

Das habe man auch bedacht, sagt Martin Schilling, daher habe das Decision Institute bei der Suche nach künftigen Fachkräften den Radius schon kräftig ausgeweitet und sei auf die Türkei, Indien und Afrika gekommen, von wo aus aufgrund des Klimawandels und der damit verbundenen Austrocknung ganzer Landstriche in den nächsten Jahrzehnten eine Migrationswelle gen Europa zu erwarten ist.

Jeder Zehnte verlässt die Schule ohne Abschluss

Während die einen in der ganzen Welt nach den Fachkräften von morgen suchen, arbeiten die anderen daran, diese Fachkräfte in Deutschland zu finden. Das geht zunächst über eine gezielte Berufsinformation an Schulen. Seit 2009 besuchen die Berufsberater der Agenturen für Arbeit Schüler bereits in der siebten und achten Klasse, um sie auf das Beratungsangebot aufmerksam zu machen. „Das wird in der neunten und zehnten Klasse intensiviert“, sagt Erik Benkendorf, Sprecher der Berliner Arbeitsagenturen. „Wir konzentrieren uns bereits sehr stark auf den einzelnen Jugendlichen“, sagt er. Das bedeute auch, dass für jeden Jugendlichen, der das Beratungsangebot in Anspruch nehme, individuelle Lösungen gesucht würden. Je nach Schule kommen nur 50 bis 75 Prozent der Jugendlichen zur Beratung. Um die Hemmschwelle zu senken, verweisen die Agenturen auf die Internetplattform planet-beruf.de, über die sich Eltern und Schüler informieren und dann bei Bedarf vertiefende Informationen bei Beratern einholen können. „Der Fachkräftebedarf bewirkt, dass die Chancen für Jugendliche steigen, einen Ausbildungsplatz zu finden“, sagt Benkendorf. Dafür müssten aber alle Akteure mitmachen.

Das bezieht auch die Jugendlichen ein. In Berlin verlassen jedes Jahr rund zehn Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss. Im Schuljahr 2007/2008 waren das etwas über 3000 Jugendliche. Unter den unqualifizierten Schulabgängern befinden sich nach wie vor überdurchschnittlich viele junge Menschen mit ausländischen Wurzeln. Für Jugendliche türkischen Ursprungs läuft seit Februar ein Angebot an, für das die Arbeitsagenturen mit der türkischen Botschaft zusammenarbeiten. Sie sprechen türkische Vereine an, die Informationsabende zum Thema Berufswahl ausrichten. Dort können sich türkischstämmige Eltern und Kinder informieren.

„Angebote der Beratung gibt es ohne Ende“, sagt Katharina Schumann, Leiterin des Referats Bildungsberatung in der Handwerkskammer Berlin. So hat auch die Handwerkskammer sechs Berater, die Betrieben, Schülern und Eltern helfen. Das Problem sei, dass Jugendliche feste Bilder über Berufe im Kopf hätten, die oft unrealistisch seien. Schumann erklärt das am Beispiel des Berufs Anlagenmechaniker für Sanitär- und Klimatechnik. In der Praxis bauen diese Heizungsanlagen, Solaranlagen oder Whirlpools und Badewannen ein. Die Jugendlichen läsen das Wort „Sanitär“ und dächten an etwas Unappetitliches, erklärt Schumann. Dabei sei dieser Beruf sehr vielseitig. Umgekehrt wollten viele junge Frauen Kosmetikerin werden, weil sie dabei an Schminken dächten. „Dabei machen Kosmetiker ihr Hauptgeschäft mit Fußpflege“, sagt Schumann.

Ideengeber Fernsehen

Eine große Rolle bei der Berufswahl spielt für die Jugendlichen offenbar das Fernsehen. Die Referatsleiterin erinnert sich daran, wie kurz nach dem Start der US-Serie „Six feet under“, in der es um ein Bestattungsunternehmen geht, plötzlich viele Jugendliche Bestatter werden wollten. Auch gebe es aufgrund diverser US-Krimiserien mit Gerichtsmedizinern deutlich mehr Anfragen nach dem Beruf Pathologe, häufig gepaart mit langen Gesichtern, wenn sie erkläre, dass dafür ein Medizinstudium erforderlich sei. Wäre also eine Doku-Soap über Installateure hilfreich für die Akquise von Azubis in diesem Beruf? Ja, sagt Schumann. Den Jugendlichen macht sie keinen Vorwurf, Informationsdefizite könne man schließlich beseitigen. „Ich wünsche mir, dass sie offen sind, auch mal andere Berufe auszuprobieren, als sie ursprünglich geplant hatten“, sagt sie, „und dass sie bereit sind, auch über ihren Kiez hinaus einen Ausbildungsplatz anzunehmen.“

Betriebe müssten gleichzeitig das Image ihres Berufs aufpolieren. Kleine und mittlere Unternehmen sind diesbezüglich mittlerweile ziemlich aktiv an Schulen, allerdings oft in Einzelprojekten, die nicht zentral koordiniert sind. „So passiert vieles im Stillen, wovon wir gar nichts wissen“, sagt die Ausbildungsreferentin. Dass diese Einzelprojekte sich auszahlen, zeige ein jüngeres Beispiel. Sie berichtet von einem Berliner Fleischer, der mit Schülern in einer Schulküche Bouletten brutzelte. Eine Jugendliche begeisterte sich für den Beruf und ist heute Auszubildende in dem Betrieb.

Angebote sind nicht aufeinander abgestimmt

Bei dem Übergang von der Schule in die Ausbildung gibt es nach wie vor Probleme. Laut Christoph von Knobelsdorff, Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung der IHK Berlin, sind 20 Prozent der Schulabgänger nach Studien nicht ausbildungsreif. „Die Verantwortung dafür kann man nicht bei den Unternehmen abladen, denn es handelt sich um Versäumnisse der Elternhäuser und Schulen“, sagt er. Die Wirtschaft müsse gleichwohl mit anpacken, um das Problem zu lösen. Für den IHK-Ausbildungsleiter ist ein Nebeneinander von schulischem Lernen und Praktika in Unternehmen der beste Weg dafür, Schüler bei ihrer Berufswahl zu unterstützen und ihre Ausbildungsreife zu verbessern. „Dieses so genannte duale Lernen als Bestandteil der Berliner Schulstrukturreform betrachten wir als wegweisend“, sagt er. Auf diese Weise könnten Unternehmen bereits während der Schulzeit Jugendliche auf den Übergang in ihren Betrieb vorbereiten.

Im Bereich der so genannten Mint-Berufe, kurz für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, werben Universitäten und Betriebe massiv um Nachwuchs. Eine Studie des Instituts für Personalmanagement hat Ende 2009 für Berlin und Brandenburg 144 Angebote zur Sensibilisierung für diese Fächer gezählt, angefangen von Projekten für Kindergartenkinder über Chemie-Experimente für Schüler bis zu Begabtenförderungsprojekten im Bereich Mathematik. Allerdings, bemängelt die Studie, sei das Angebot unkoordiniert, viele Schulen blieben trotz Interesse an solchen Projekten unversorgt, weil deren Kapazitäten nicht dafür ausreichten.

Wir konzentrieren uns bereits sehr stark auf den einzelnen Jugendlichen

Nach wie vor entscheiden sich zu wenig Schulabgänger für einen Beruf aus dem Mint-Bereich, Frauen sind stark unterrepräsentiert. Daher richten sich viele Projekte zur Sensibilisierung für naturwissenschaftliche Fächer direkt an Mädchen und junge Frauen. Ein Hemmnis: Viele Studienanfänger schrecken vor den hohen Anforderungen der Fächer zurück. Das Ingenieursstudium beispielsweise hat immer noch eine Abbrecherquote von knapp 30 Prozent. International hat das anspruchsvolle Studium Deutschland den Ruf eingebracht, die besten Maschinenbauer und Ingenieure auszubilden. Am Ende der Hochschullaufbahn beschert das den Absolventen traumhafte Aussichten. Laut einer aktuellen Erhebung des Verbandes der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik schreiben Hochschulabgänger durchschnittlich zehn Bewerbungen, aus denen sich zwei, manchmal sogar drei Jobangebote ergeben.

Aus Unternehmersicht deutet das darauf hin, dass der Mangel an Fachkräften hier schon greifbar ist. Zwar hat der Konjunktureinbruch die Nachfrage etwas gesenkt, weil die Unternehmen derzeit nur ausscheidende Mitarbeiter ersetzen und kaum ihre Belegschaft erhöhen. Aber selbst das ist zum Teil schon schwer und erfordert bei der Personalplanung ein Umdenken.

In Zukunft müssen sich Betriebe viel stärker überlegen, auf welchem Weg sie ihre Mitarbeiter gewinnen können. Gerade für Mittelständler, die nur begrenzte Ressourcen haben und außerhalb der Branche wenig bekannt sind, bieten sich da beispielsweise Kooperationen mit den Career Center der Universitäten an. Diese sollen Studierende für den Beruf qualifizieren und Universitäten und Wirtschaft enger miteinander vernetzen. An den Career Center müssen Studierende Kurse belegen, beispielsweise zu Rhetorik oder Personalmanagement, die in ihre Abschlussnote eingehen. Daneben bereiten Career Center Studierende auf Bewerbungsgespräche vor, organisieren Jobbörsen und bieten Kurse an, bei denen Studenten in einem Projekt zusammenarbeiten.

Abbrecherquoten im Studium senken

Studenten der Humboldt-Universität (HU) haben in einem solchen Projekt ein Beachvolleyballturnier für mittelständische Unternehmen organisiert. Ein realistischer Vorgeschmack auf die Arbeitswelt, findet Rosemarie Schwartz-Jaroß, Referatsleiterin für Programmentwicklung am Career Center der HU: Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen kommen bei solchen Projekten zusammen. Mittelständler würde ihr Career Center gern stärker bei solche Projekten vertreten sehen. Außer Start-ups seien dort derzeit vor allem große Unternehmen aktiv.

Ein Anliegen der Career Center ist es auch, die Abbrecherquoten im Studium zu senken. Diese gehen beispielsweise an der Freien Universität beständig zurück, entwickeln sich aber je nach Fach höchst unterschiedlich. Eine bundesweite Erhebung des Hochschulinformationssystems hat etwa festgestellt, dass 27 Prozent der Studenten im Bereich Sprachwissenschaften, Kulturwissenschaften und Sport ihr Studium abbrechen, während nur fünf Prozent der Medizinstudenten das tun. Ob das dem Umstand geschuldet ist, dass die Studierenden bei ihrer Einschreibung keine klare Vorstellung ihres Berufes haben, lasse sich nicht pauschal beantworten, sagt Goran Krstin, Sprecher des Präsidenten der Freien Universität. Künftige Betriebswirte, Pharmazeuten, Informatiker oder Archäologen hätten wohl klarere Vorstellungen als Absolventen aus dem größeren Bereich der Sozialwissenschaften. Da könnten die über den Career Service vermittelten Praktika helfen, sich ein klareres Berufsbild zu machen. Wie die anderen Berliner Hochschulen arbeitet die Freie Universität mit dem Hochschulteam der zuständigen Arbeitsagentur zusammen, um Absolventen den Berufseinstieg zu erleichtern. Außerdem unterstützt die Hochschule Ausgründungen ihrer Studierenden und bietet Jungunternehmern an vier Standorten Büros und Hilfe.

An der Technischen Universität sind Unternehmensprojekte Bestandteil der „Prepare-Kurse“. Dort können Studenten in Gruppen von fünf bis 25 Personen in einem solchen Projekt arbeiten. Sie bekommen so eine erste Arbeitserfahrung, und der Betrieb knüpft mit Studierenden Kontakte, die in eine Einstellung eines Hochschulabsolventen münden können. „Das macht alle Beteiligten glücklich“, sagt Career Service-Leiterin Bettina Satory. Sie hält diese Lehrveranstaltung für eine gute Variante für Mittelständler, sich bei Studierenden bekannt zu machen. Insgesamt zahle es sich für Unternehmen auch aus, unabhängig von der Konjunktur Präsenz an Universitäten zu zeigen, Praktikumsplätze und Abschlussarbeiten anzubieten.

Unternehmen wollen meist von heute auf morgen Personal

Was passiert, wenn Unternehmen nicht langfristig ihren Fachkräftebedarf planen, kann Kirsten Bothe-Page erzählen. Sie ist Niederlassungsleiterin der Berliner Personalvermittlung Treuenfeld, die sich auf die Vermittlung von Personal für Finanz- und Buchhaltungsberufe spezialisiert hat. „Die Unternehmen wollen meist von heute auf morgen Personal haben. Es ist selten, dass sie vorausplanen. Man schiebt immer alles vor sich her.“

Erschwerend kommt hinzu, dass am Standort Berlin Gehälter gezahlt werden, die klar unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Eine Bilanzbuchhalterin mit zehn Jahren Berufserfahrung verdient in München beispielsweise 60 000 Euro im Jahr, in Berlin aber nur 45 000 Euro jährlich. „Es wird dann zwar geltend gemacht, dass die Lebenshaltungskosten in Berlin geringer sind“, sagt die Personalvermittlerin, aber eine unterdurchschnittliche Bezahlung reiche vielen Bewerbern nicht. Wer den Job wechselt, will sich meist finanziell verbessern.

Zugunsten von Berlin zählt das kulturelle und kreativ-produktive Umfeld, weswegen viele Hochschulabsolventen nach Berlin wollen oder in der Hauptstadt bleiben möchten. Auf der anderen Seite steigen die Gehälter auch manchmal nach Verhandlungen, weiß Kirsten Bothe-Page: „Da gibt es bei den Unternehmen ein Umdenken. Das wurde allerdings 2009 gebremst, weil durch die Wirtschaftskrise mehr Bewerber auf dem Markt waren.“ In den kaufmännischen Berufen sind die Fachkräfte rar gesät, die eine Fremdsprache sprechen oder das englischsprachige Bilanziersystem IFRS nach EU-Recht beherrschen. Da IFRS in der Geschäftswelt zunehmend gefragt sei, verstärke dies das Problem, sagt Bothe-Page.

Fachkräftemangel gibt es vor allem bei Spezialisten - die sind teuer

Akuter Personalmangel ist auch kostspielig. „Fachkräftemangel gibt es vor allem bei den Spezialisten. Die sind teuer“, sagt Personalberater Thomas K. Heiden. Eine 40-jährige Fachkraft bekomme rund 100 000 Euro Jahresgehalt. Wolle man diese Person abwerben, müsse man mindestens 20 Prozent Gehalt drauflegen. Will ein Unternehmen nicht so viel bezahlen, muss ein Mitarbeiter dafür weitergebildet werden. Dafür kommen wiederum wenige Personen in Frage, außerdem dauert diese Lösung lange. „Wenn Handlungsdruck besteht, sind Firmen eher bereit, höheres Gehalt zu zahlen als mittelfristig strategisch zu planen“, sagt Heiden.

Während große Unternehmen mit bekannter Marke noch relativ wenig Probleme hätten, Nachwuchs zu finden, müssten sich Mittelständler heute schon etwas einfallen lassen, um sich gegen die großen Namen durchzusetzen. Heidens Idee: Unternehmen könnten Patenschaften in Abiturklassen übernehmen oder eine Sponsorenschaft während des Studiums anbieten, wenn die Studenten anschließend in ihrem Betrieb arbeiten. Letztlich sei jede Idee gut, mit der Firmen auf sich aufmerksam machen, frühzeitig Studenten für sich interessieren und an sich binden könnten. „Gerade Unternehmen, die in den achtziger Jahren massiv gewachsen sind, kommen jetzt in die Bredouille“, sagt Heiden. Deren Belegschaft sei nun größtenteils zwischen 50 und 60 Jahre alt, was in den kommenden Jahren zu einem massiven Ersatzbedarf an Personal führen werde. Um diese Entwicklung abzufedern, rät das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dazu, ältere Arbeitnehmer länger zu beschäftigen und gegebenenfalls weiterzubilden.

Während größere Unternehmen dieser Entwicklung teils zuvorgekommen sind und im eigenen Haus beispielsweise einen Referenten beschäftigen, der den Kontakt zu Universitäten hält, ist das für kleine Betriebe schwer. Verbände und Personalvermittler sind sich allerdings einig, dass eine strategische Planung jetzt unabdingbar ist. Gerade Verbände können Mittelständlern dabei helfen, sich zu organisieren.

Unternehmen müssen lebenslanges Lernen fördern

Strategische Personalplanung ist langfristig ausgelegt, drei bis vier Jahre Vorlauf sind dafür nötig. Der Wissenstransfer zwischen einem älteren Angestellten, der in den Ruhestand geht, und seinem Nachfolger dauert etwa ein Jahr. Zur Personalplanung gehört auch, sich nach sinnvollen Weiterbildungen für seine Mitarbeiter umzusehen. In diesem Bereich hinkt die Region Berlin mit etwas weniger als 19 Prozent deutlich hinter den Zielwerten des Innovationskreises Weiterbildung zurück, der bis in fünf Jahren eine Weiterbildungsquote von 80 Prozent erreichen wollte. Um diese Quote zu erhöhen, fördert die Bundesagentur für Arbeit Fortbildungen unter bestimmten Voraussetzungen.

Das Prinzip des lebenslangen Lernens gehört zu den Instrumenten, mit denen Unternehmen fortan verstärkt arbeiten müssen, um die Fachkräfte, die sie angeworben haben, auch zu halten. Dazu gehören Elemente wie ein Betriebskindergarten oder die Möglichkeit zur Telearbeit, eine individuelle Karriereplanung für die Mitarbeiter oder eine gute Gesundheitsvorsorge für die Belegschaft.

Letztlich geht es mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen für Fachkräfte in Berlin um nichts Geringeres als die Bedeutung des Wirtschaftsstandortes. Absolventen aus dem Mint-Bereich beispielsweise arbeiten traditionell meist in Industrieberufen. Und ein Arbeitsplatz in der Industrie generiert zwischen zwei und drei zusätzliche Arbeitsplätze. Wer also heute nicht in den Wirtschaftsstandort Berlin investiert, muss morgen mit ansehen, wie die Fachkräfte in wirtschaftsstärkere Regionen wie Süddeutschland abwandern. Diese Botschaft ist auch in der Berliner Politik angekommen. Anfang März haben die Berliner Kammern und Unternehmensverbände, die Gewerkschaften und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit einen Zukunftspakt für Berliner Industrie geschlossen. Wirtschaft, Gewerkschaften und Berliner Senat werden von nun an vier Mal jährlich tagen und ihre industriepolitische Strategie abstimmen.

Die Unternehmen werden Prozesse zunehmend automatisieren

Dazu gehören die Bekämpfung des Fachkräftemangels, ein verbessertes Standortmarketing, die Entwicklung des Flughafens Tegel zum Forschungs- und Industriepark sowie die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft. Letzteres hat die Senatsverwaltung für Wirtschaft inzwischen mit der so genannten Transfer-Allianz besiegelt. 44 Berliner Einrichtungen verpflichten sich in diesem Vertrag dazu, den Technologietransfer zwischen Wirtschaft und Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern. Das soll die Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Wirtschaft stärken. „Wir wollen die Wege zwischen kleinen und mittelständischen Unternehmen und der Wissenschaft kürzer machen“, sagt Stephan Schulz, Sprecher der Wirtschaftssenatsverwaltung.

Die Berliner Wirtschaft reagiert erleichtert auf den Vorstoß von Klaus Wowereit. Endlich sei das Thema auf Chefebene angekommen, heißt es. Schließlich hat sie dem Regierenden Bürgermeister über Jahre vorgeworfen, er kümmere sich zwar um den Dienstleistungssektor in Berlin, vernachlässige aber die Industrie. Nun müssten aber den Worten Taten folgen, sagt ein Mann aus der Berliner Wirtschaft: „Berlin hat da weniger ein Erkenntnis- als ein Umsetzungsproblem.“

Anfang Mai soll nun der seit Ende 2009 tagende „Steuerungskreis Industriepolitik“ unter dem Vorsitz des Regierenden Bürgermeisters einen Masterplan mit konkreten Handlungsanweisungen vorlegen. Beispielsweise sollen die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen von Berliner Schülern gestärkt werden. Außerdem sollen Industrieunternehmen mehr Frauen als Fachkräfte gewinnen und halten. „Berlin braucht einen starken Industriekern“, sagt Stephan Schulz, Sprecher der Wirtschaftssenatsverwaltung, „wir wollen durch die Industrie aber keine andere Branche ersetzen.“ Auch ein Masterplan Qualifizierung ist bei der Senatsverwaltung in Arbeit und soll bald vorgestellt werden.

Originelle Lösungsansätze

Die konkreten Lösungsansätze des Masterplans Industrie muten durchaus originell an. Nach Information von Rainer G. Jahn, dem Vorstandsvorsitzenden des Verbandes der chemischen Industrie, Landesverband Nordost, der in diesem Steuerungskreis sitzt, ist auch ein Vorstoß geplant, eine Frau mit einem typischen Mint-Beruf in einer deutschen Seifenoper unterzubringen – was an die Annahme anknüpft, dass Jugendliche sich bei ihrer Berufswahl stark an dem Medium Fernsehen orientieren.

Wie hart wird der demografische Wandel die Region Berlin-Brandenburg nun treffen? Laut Fachkräftestudie kann der Schwund an Arbeitskräften stark abgefedert werden, wenn Wirtschaft, Bürger und Politik handeln. Das Flächenland Brandenburg, aus dem die besten Azubis der ohnehin schrumpfenden Jahrgänge nach Berlin abwandern, muss allerdings kreativer werden als Berlin, das von seinem Hauptstadtstatus profitiert. Der Demograf Harald Michel ist überzeugt, dass die Wirtschaft sich auf die schrumpfenden Absolventenzahlen einstellen wird. „Die Unternehmen werden Tätigkeiten wegrationalisieren und Prozesse zunehmend automatisieren“, sagt er. Und da das Bruttosozialprodukt auch von Maschinen erwirtschaftet werde, müsse Deutschland als Wirtschaftsmacht nicht unbedingt unter seiner alternden Bevölkerung leiden, ergänzt der Rektor der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Franz Herbert Rieger.

Die Produktivität könne sogar noch wachsen, schließlich mache Not erfinderisch: „Durch die massive Automatisierung, gerade in der Industrie, gibt es noch einmal einen Innovationsschub“, prophezeit er. Parallel werde die Lebensarbeitszeit steigen. „Ich bin ein lebendes Beispiel“, sagt der 67-Jährige, „viele Menschen in meinem Alter haben in der Arbeitswelt noch etwas beizutragen.“

Berlin Maximal ist das Wirtschaftsmagazin für den Mittelstand der Region Berlin.

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