zum Hauptinhalt
Die Skyline von Warschau: Vor zehn Jahren noch machte kein Büroturm dem "Kulturpalast" aus der Stalin-Ära (im Bild links oben) Konkurrenz.

© Kevin P. Hoffmann

Berliner Wirtschaftsvertreter in Warschau: Auf der Suche nach Polens Wirtschaftsboom

Die Wirtschaft im Nachbarland Polen wächst seit fast 30 Jahren. Doch nur wenige Berliner Firmen profitieren vom Boom. Senat und IHK wollen das ändern.

Es kribbelt in der Magengrube. Kopf, Arme, Beine: alles wird schwer bei der Fahrt ins Herz der Warschauer Start-up-Szene, in die Büroetage des Inkubators „The Heart Warsaw“. Nach ein paar Sekunden ist es vorbei und man steht im 38. Stockwerk des „Warsaw Spire“, Polens höchstem Büroturm, in dem auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex residiert.

Wenn man von hier oben durch die bodentiefen Fenster gen Osten blickt zur Weichsel, die die Metropole teilt, sind da etwa zehn andere Hochhäuser, die dem „Kulturpalast“ aus der Stalin-Ära die Rolle als bisher einzigem Blickfang der Skyline Konkurrenz machen. Vor zehn Jahren stand keiner davon.

Fast auf den Tag genau 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht und 30 Jahre seit dem Fall des Kommunismus baut Warschau weiter in die Höhe. Praktisch nichts im Zentrum der Hauptstadt erinnert daran, dass das Land einst ein Armenhaus war – fest im katholischen Glauben an Gott und reich an Kultur und Bildung, aber ökonomisch schwach, selbst im Verglich zur bankrotten DDR.

Heute gilt Polen neben Australien als das einzige industrialisierte Land der Welt, dessen Volkswirtschaft seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ununterbrochen gewachsen ist. Deutsche Gesandte in Polens Hauptstadt schwärmen in ihren vertraulichen Lagebesprechung vom „Wirtschaftswunderland“. Diese Entwicklung sei vergleichbar mit dem, was Deutschland in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten erlebt hat.

Ortsfremden Besuchern aus Berlin sticht zunächst ins Auge, dass kein Müll auf den Straßen liegt, dass man lange nach einem Graffiti sucht, und wie viele Autos fabrikneu sind: Zumindest in den zentralen Bezirken wirkt diese Zwei-Millionen-Stadt aufgeräumt. Das entzückt manche Erstbesucher, andere verstört diese Ordnung.

Mitglieder einer Delegation der Berliner Industrie- und Handelskammer im 38. Stock des höchsten Büroturms in Polen.
Mitglieder einer Delegation der Berliner Industrie- und Handelskammer im 38. Stock des höchsten Büroturms in Polen.

© Kevin P. Hoffmann

Selbst hier oben in der Etage des Start-up-Zentrums „The Heart“ wirkt das kreative Chaos, was man in Start-up-Höhlen erwartet, dosiert und arrangiert. Nahe dem Empfangstresen steht eine schneeweiße Einhorn-Skulptur, groß wie ein echtes Pferd. Einhörner, englisch Unicorns: So nennt man Start-ups, die mit mindestens einer Milliarde US-Dollar bewertet werden. Die Idee im „Heart“: Weltkonzerne wie Mastercard, Microsoft oder Coca Cola geben gebildeten jungen Menschen Kapital, um disruptive Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Ob es klappt, wird man sehen. Das Projekt läuft erst drei Jahre. Der Dresscode ist jedenfalls ein anderer ist als in Berlin. Mitarbeiterinnen tragen Rock und Bluse, einige Herren Sakko und Bundfaltenhose. Jeder hier scheint jederzeit bereit für eine Begegnung mit Englands Kronprinzen William und seiner Gattin Kate. Auch die haben sich das polnische Wirtschaftswunder bereits angeschaut, waren hier im „Heart“ vor zwei Jahren zu Besuch.

Polen ist eines von vier Schwerpunktländern der Berliner Wirtschaft

Vergangenen Freitag kamen dann Gäste aus Berlin: 20 Unternehmer aus drei Ausschüssen, man könnten sagen Arbeitskreisen, der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) besuchten diesen Turm, um zu staunen über die Weltläufigkeit, Professionalität und das Selbstbewusstsein möglicher polnischer Geschäftspartner. Ihr Besuch im „Heart“ war der Schlusspunkt einer zweitägigen Expeditionsreise, die erste dieser Art seit Langem für diese ehrenamtlich engagierten Kammermitglieder.

Die Reise der IHK-Expeditionstruppe führte nach Polen, weil das Land neben China, den USA und Großbritannien eines von nur vier Ländern ist, die der Berliner Senat nach gemeinsamen Analysen mit der IHK als wichtigsten Zielmarkt definiert hat. Auf diesen Märkten wolle man Bemühungen, neue Kooperationen einzugehen, konzentrieren. Die USA und China waren als größte Abnehmer Berliner Exportgüter in dieser Liste wohl gesetzt. Für Großbritannien spricht die Hoffnung, dass man mit besonderem Engagement vielleicht Firmen mit Brexit-Angst an die Spree holen kann.

Nahaufnahme einer Europakarte, die im Institut für Geografie der Universität Warschau hängt. Der Ausschnitt zeigt Polen mit der Hauptstadt Warschau (Warszawa) und Berlin.
Nahaufnahme einer Europakarte, die im Institut für Geografie der Universität Warschau hängt. Der Ausschnitt zeigt Polen mit der Hauptstadt Warschau (Warszawa) und Berlin.

© Kevin P. Hoffmann

Aber Polen? Das Land steht bisher nur auf Platz sieben im Ranking der wichtigsten Berliner Exportmärkte. Genau das ist das Problem: Angesichts der geografischen Nähe und stetig wachsenden ökonomischen Potenz des Landes, sollten die Beziehungen viel enger sein. Auch in diesem Jahr, Weltkrisen hin oder her, rechnen Ökonomen mit fast fünf Prozent Wirtschaftswachstum, was noch höher sein könnte, gäbe es mehr Fachkräfte. In Polen herrscht mit einer Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent praktisch Vollbeschäftigung.

Der Beitritt zum Euro-Raum wäre wohl nur Formsache, doch das Land lebt auch mit seinem stabilen Zlotty (Inflationsrate aktuell bei 1,8 Prozent) recht gut. Die Regierung unter Führung der nationalkonservativen PiS-Partei hat keine Absicht, ein Zahlungsmittel einzuführen, mit dem deutsche Politiker schon in Griechenland oder Italien versucht haben, ihre fiskalmoralischen Vorstellungen durchzusetzen.

Mit zu viel Arroganz sind schon manche Investoren in Polen gescheitert. Der Entsorgungs- und Logistikkonzern Remondis aus NRW kam bereits 1993 ins Land. „Damals, in den wilden Jahren, hat unser Unternehmen zunächst viel Lehrgeld zahlen müssen“, berichtet der Berliner Niederlassungsleiter Lutz Wedegärtner.

Ohne Gespräche auf Augenhöhe geht hier wenig

Besserwissende Deutsche, die den Polen das Geschäft erklären – das habe damals wie heute nicht funktioniert. Man erwarte hier Begegnungen auf Augenhöhe, weiß er. Heute betreibe Remondis 60 Standorte mit insgesamt 4000 Mitarbeitern und einer Flotte von 1200 Fahrzeugen in Polen, die meisten unter Führung einheimischer Manager. Die seien allesamt exzellent ausgebildet, und hätten oft auch viel Auslandserfahrung. Jetzt läuft es rund für den Alba-Konkurrenten.

Weltkonzerne wie Mastercard oder CocaCola finanzieren den Start-up Inkubator "The Heart Warsaw" seit 2016. Blick in einen Aufenthaltsraum.
Weltkonzerne wie Mastercard oder CocaCola finanzieren den Start-up Inkubator "The Heart Warsaw" seit 2016. Blick in einen Aufenthaltsraum.

© Kevin P. Hoffmann

Wedegärtner ist einer der wenigen aus dieser IHK-Delegation, der über eigene Erfahrungen mit Geschäften in Polen berichten kann. Andere Teilnehmer räumen ein, dass sie das Land bisher nur als Agrar- und Kohlestaat wahrgenommen haben. Nach ihren ersten Eindrücken glauben sie nun, dass Berlin einiges von der Metropole Warschau lernen kann - und umgekehrt natürlich.

Denn auch in Warschau ist nicht alles gut. „Die eScooter auf unseren Straßen - ein Desaster!“, schimpft Stadtplaner Miroslaw Grochowski nach seinem Vortrag im Seminarraum der geografischen Fakultät an der traditionsreichen Universität Warschau. Vier Firmen hätten mehrere Tausend Roller auf den Straßen verteilt. Die stehen – anders als in Berlin – zwar in der Regeln ordentlich aufgereiht am Rand der Gehwege, aber sie seien gefährlich und würden keinen Beitrag zum Abbau des täglichen Staus in Warschau leisten.

„Mit wachsendem Wohlstand haben wir Polen Autos lieben gelernt“, berichtet Grohowski. Und das sei ein Problem. Immerhin würden mehr und mehr Warschauer aufs Fahrrad umsteigen. Wie in Berlin habe die Critical-Mass-Bewegung sich etwas Raum auf der Straße erkämpft. Dass ein stellvertretender Bürgermeister, wie noch vor Jahren, behaupten konnte, Fahrräder hätten in Warschau nichts zu suchen, sei mittlerweile undenkbar.

„Vielleicht können wir von ihnen lernen, wie man Verkehrsprobleme in den Griff bekommt?“, fragt Forscher Grochowski in die Berliner Runde – und erntet von seinen Gästen ein paar verstohlene Lacher und Schulterzucken. Dass Berlin sich gleichwohl nicht verstecken muss, was Fortschrittlichkeit angeht, wird bei einem Gruppenbesuch einer Ausschusssitzung der polnischen Wirtschaftskammer, einem nationalen Verband, vergleichbar mit dem deutschen Kammerdachverband DIHK, deutlich: Polnische Vertreter der Entsorgungswirtschaft erklären, warum es ein Ding der Unmöglichkeit sei, von Bürgern Mülltrennung zu verlangen. Ein anderer kritisiert Angela Merkels Sonderweg bei der Energiewende.

Andere teilen ihre Sorgen vor einem massiven Demografieproblem wegen der niedrigen Geburtenrate. Der Staat versuche derweil junge Leute mit massiven Steuernachlässen im Land zu halten – und die Rentner mit einer 13. Monatsrente bei Laune. Wie lange geht das wohl gut?

Berliner IHK-Mitglieder nahmen am Freitag, den 9. August 2019, an einer Sitzung der Polnischen Wirtschaftskammer teil.
Berliner IHK-Mitglieder nahmen am Freitag, den 9. August 2019, an einer Sitzung der Polnischen Wirtschaftskammer teil.

© Kevin P. Hoffmann

Beim Stehtisch-Lunch der Wirtschaftskammer kommt es dann wieder zu Begegnungen, die Anlass zur Hoffnung geben, dass man mehr zusammenarbeitet in der Zukunft. Da tauscht der Strategieberater aus Berlin Visitenkarten mit den Privatbanker aus Warschau aus. Man versteht sich schnell und gut, meist in englischer Sprache.

Christian Thomasius, der Leiter der Abteilung Betriebsbeauftragte und Umweltschutz bei den landeseigenen Berliner Wasserbetrieben, konnte bei dieser Sitzung der polnischen Kammer berichten, wie sein Unternehmen daran arbeitet, Klärwerke energieautark weiter zu entwickeln und so die für die Abwasserreinigung nötige Energie aus eigenen erneuerbaren Quellen selbst bereitstellen zu können.

Berliner Wasserbetriebe könnten in Polen Tüftler finden

Thomasius trifft später eine hochrangige Managerin der Warschauer Wasserbetriebe. Auch wenn sich aus dem Gespräch kein Anknüpfungspunkt für eine konkrete Zusammenarbeit ergeben habe, sei er dennoch zufrieden, berichtet er. Immerhin sei ihm vorher nicht so bewusst gewesen, dass auch in Warschau womöglich die Tüftler zu finden sind, die bei der einen oder anderen technischen Herausforderung in der Digitalisierung, Sensortechnik, Automatisierung und Steuerung von Prozessen – zum Beispiel auch bei der automatisierten Messung von Wasserinhaltsstoffen – helfen könnten. „Ich habe einen guten Eindruck gewonnen“, sagt er.

Die Delegation der Berliner IHK posiert zum Gruppenfoto in einem Hörsaal der Universität Warschau.
Die Delegation der Berliner IHK posiert zum Gruppenfoto in einem Hörsaal der Universität Warschau.

© Kevin P. Hoffmann

Nachdem der Fahrstuhl wieder herabgerauscht ist aus dem 38. Stock des „Warsaw Spire“ zeigt sich Delegationsleiterin Dorothee Feitsma am Freitagnachmittag erleichtert. Sie sei froh, dass so viele Teilnehmer so positiv überrascht und fasziniert sind von Warschau wie sie selbst. Wer hätte gedacht, dass die Hauptstadt eines für sehr derbdeftige Küche bekannten Landes im Ranking des kalifornischen Veganer-Portals „Happy Cow“ auf immerhin Platz sieben der Städte mit dem meisten und besten Restaurants weltweit steht (Berlin auf Platz zwei).

Feitsma, Inhaberin der kleinen Wilmersdorfer Veranstaltungsagentur CCF Communication & Culture Factory freut sich auch, dass man das zweite Ziel erreicht habe: weil ja nicht nur Mitglieder aus ihrem IHK-Ausschuss Internationalisierung mit in Polen waren, haben sich bisher fremde engagierte Kammermitglieder kennengelernt. Auch dafür sei so eine Reise wichtig.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false