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Glockenpracht. Zum ersten Mal seit 72 Jahren erklingen wieder Melodien aus der Parochialkirche. Früher gehörte die Musik zur Alt-Berliner Romantik. Fotos: Kitty Kleist-Heinrich

© Kitty Kleist-Heinrich

Berlins alte Mitte: Erstmals seit 72 Jahren erklingen die Glocken der Parochialkirche

Das Glockenspiel der Parochialkirche in Mitte war berühmt, bis es im Krieg zerstört wurde. An diesem Sonntag kehrt die Musik zurück.

Ein historisches Ereignis für Berlins alte Mitte und ein Tag der Freude für die Parochialkirche in der Klosterstraße: An diesem Sonntag ab 15 Uhr erklingen wieder Glocken hoch vom Turm. Erstmals seit 72 Jahren, als am 24. Mai 1944 das Glockenspiel samt Turm nach einem Bombentreffer in sich zusammenfiel.

Carilloneur Wilhelm Ritter aus Kassel "bespielt" die 52 neu gegossenen Glocken mit einem besonderen Programm und Liedern aus der Zeit um 1700, als die Kirche gebaut wurde. Aber es gibt auch moderne Filmmusik aus "Lovestory" und "Dr. Schiwago", bevor die musikalische Bitte "Verleih uns Frieden" das öffentliche Konzert in der Klosterstraße beendet.

Wer ins alte Berlin kommt und zwischen den Resten der Stadtmauer, der Kneipe "Zur Letzten Instanz", der Ruine der Klosterkirche und dem Podewilschen Palais Geschichte sucht, findet sie in reichem Maße, auch auf dem alten Friedhof an der Parochialkirche. Auf Fotos und Stichen sieht man noch den 1944 weggebombten, schlanken Turm, der der Klosterstraße eine beschwingte Feierlichkeit gab.

Ohne ihn fehlte etwas von der Alt-Berliner Romantik. Der turmlose Stumpf tat sein Übriges. Und wer die Kirche betritt, sieht sich in einem absichtsvoll unfertigen Rondell aus unverputzten Ziegeln – der Raum mit dem Schrott-Metall-Kreuz von Fritz Kühn ist eine unverstellte und überhaupt nicht verschönte Erinnerung und Mahnung an Krieg, Zerstörung und Tristesse. Das Glockenspiel in einem Gestänge hoch über den Köpfen des Besuchers könnte dem Raum ein wenig Leben zurückbringen oder einhauchen. Eine Kirche zeigt: Ich bin wieder da.

Eine Ruine, die ist schön

Das barocke Äußere war in den 1990er Jahren durch den Architekten Jochen Langeheinecke wiederhergestellt worden. "Die Kirchgemeinde hatte schon sehr früh entschieden, die Kirche wiederaufzubauen", sagt der 72-Jährige, "sie hat aus eigenen Mitteln einen Dachstuhl aufgebaut und die Kirche bis kurz vor der Wende als Möbellager vermietet."

Dann kam der Architekt zum Zuge: Kirche sichern, Bauschäden und Feuchtigkeit beseitigen, Mauerwerk nachfugen, Fenster und Architekturschmuck ergänzen. Aber es gab keine Perspektive für das Gotteshaus. Die Denkmalpflege folgte ihrem Grundsatz "Was weg ist, ist weg" – bis Helmut Kohl, damals Kanzler, gegenüber ins Stadthaus einziehen sollte (was er nicht tat). Eifrige Beamte monierten, dass er doch nicht auf eine Ruine blicken könne. Und so leuchtete plötzlich grünes Licht für den Wiederaufbau des Turms.

Hier hat sich der Architekt für die Spitze die vergoldete Doppelung einer lachenden Sonne ausgemalt und selbst hergestellt. Unter der Kupfer-Außenhaut verbirgt sich das Glockengeschoss mit Spieltisch und Spielkabinett, um an seinen Arbeitsplatz zu kommen, muss der Glockenspieler 178 Stufen steigen.

Jochen Langeheinecke ist fit, sein Name ist mit der Restaurierung des Brandenburger Tors in Potsdam, der St.-Pauls-Kirche in Wedding und der Luisenkirche in Charlottenburg verbunden. Auf einer Parochialglocke ist sein Name eingraviert. "Ich bin seit geschlagenen 25 Jahren mit dieser Kirche gewissermaßen verheiratet, habe um sie und für sie gekämpft. Wenn das Glockenspiel erklingt, ist das ein sehr emotionaler Moment für mich."

Eigentlich für alle, die damit zu tun haben. Wie Agnete von Specht, die Geschäftsführerin von "Denk mal an Berlin", ein Verein historisch interessierter Berliner, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kirchturmspitze in ihrer historischen Gestalt als eines der bedeutendsten Beispiele der Berliner Barockkunst einschließlich des Glocken- und Uhrengeschosses mit dem Glockenspiel und der Turmuhr wiederaufzubauen.

Das ist Spitze. Auch einen Turm hat die kriegsbeschädigte Kirche wieder.
Das ist Spitze. Auch einen Turm hat die kriegsbeschädigte Kirche wieder.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Bauherren stellten ein Kästchen für Geld neben das Modell des Turms, aber die Gaben flossen spärlich. Ein Mann gab 15.000 Euro, ein Rentner spendierte mit Dauerauftrag zehn Euro pro Monat. Die Bausumme hat jedoch sieben Stellen: 3.530.000 Euro. Woher nehmen und nicht stehlen?

Das Wunder des Hans Wall

Jetzt kommt Hans Wall, der Unternehmer, ins Spiel. Er fand bei einem Spaziergang, dass die ganze Straße ohne den Turm unfertig sei und hässlich, und er sah ein, dass der Verein allein die Sache nicht schaffen konnte. "Für die Stadt", gewissermaßen als Stadtmöblierung, machte er 420.000 Euro locker, nun könne man das alles als Wunder bezeichnen, „wenn man halt richtig rangeht".

Für Wall wird der Sonntag „ein ganz besonderer Tag, wenn die Glocken wieder läuten“. Denn: "Dies ist das schönste Projekt, das ich je in meinem Leben angepackt habe." Und als die Stiftung Deutsche Klassenlotterie noch 2,91 Millionen spendierte, konnte das Unternehmen Parochial (Parochie heißt Pfarrbezirk der Kirchgemeinde) beginnen.

Agnete von Specht sagt, Hans Wall sei in die Fußstapfen vom König getreten, denn 1713 schenkte Friedrich I. der reformierten Gemeinde ein Glockenspiel, das 1715 erstmals erklang. Übrigens ähnelte das Berliner Gotteshaus der Garnisonkirche in Potsdam. Die Berliner strömten in Scharen vor die Kirche, wenn die Konzerte den Klang der Glocken der "Singuhrkirche" über die Stadt trugen. Anfang der 1930er Jahre übertrug sogar der Rundfunk das Glockenläuten, und Touristen starteten ihre Fahrten "durch das stille alte Berlin" zur vollen Stunde an der Parochialkirche.

Heuer wird es erst wieder regelmäßige Konzerte geben, wenn die Bauarbeiten am Turm beendet sind. Das ist voraussichtlich im Frühjahr der Fall. Zurzeit ist der Turm noch eingerüstet, aber die Uhr zeigt schon die exakte Zeit.

Der bekannte Glockenspieler Wilhelm Ritter aus Kassel – "königlich-belgischer Carilloneur" – bestreitet das Eröffnungskonzert, eine tolle Aufgabe, sagt er. Und möchte zeigen, was man mit 52 großen und kleinen Glocken alles anfangen kann. Das Glockenspiel wurde von der 300 Jahre alten holländischen Firma Petit & Fritsen in der gleichen Art gegossen wie das Glockenspiel, das im Mai 1944 in den Flammen unterging.

"Neben der Möglichkeit, das Carillon bei Konzerten vom Spieltisch aus zu bespielen, verfügt das neue wieder über eine Automatik. In Zukunft wird also eine zum Kirchenjahr liturgisch passende Liedmelodie zu festen Tageszeiten erklingen", sagt Agnete von Specht.

Ihr ist es gelungen, den sechsten Nachfahren des Premierministers vom Großen Kurfürsten zu finden: Detlef Graf von Schwerin. Dessen Vorfahren hatten sich mit den damaligen Prinzen in Holland für Glockenspiele begeistert. Heute lobt der Carilloneur vom Festakt am Sonntag sein neues Instrument: "Es hat ein ganz hervorragendes Spiel, weiche, warme Klangfarben. Der Ton passt zur Höhe des Turms".

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