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Alte Spuren, neue Spuren. Der erste Gedenkstein, der noch illegal an der Oranienstraße verlegt worden war, erzählt auch Geschichten aus den letzten 17 Jahren.

© Kai-Uwe Heinrich

Berlins erster Stolperstein: Lauf mal drüber nach

Es war der erste von 5000 Stolpersteinen, gesetzt im Mai 1996: Nahaufnahme einer Messingplatte mit eingekerbten Spuren unter unseren Füßen.

Regenfäden oder Patronenhülsen schwirren von rechts nach links, von links nach rechts, ziehen Kratzer durch die gelbe Luft. Graue Placken simulieren auf der am oberen Rand gebräunten Messingplatte Einschläge zwischen den lakonischen Zeilen. Die Schrift steht etwas wackelig auf dem goldfarbenen Quadrat: HIER WOHNTE LINA FRIEDEMANN JG. 1875 DEPORTIERT AM 15.8.1942 NACH RIGA. Nur wer das Kunstwerk aus der Nähe betrachtet, fotografisch vergrößert am Bildschirm oder leibhaftig herabgelassen auf allen vieren, erkennt noch mehr: eingekerbte Details. Auch sie erzählen Geschichte.

Zehnmal zehn Zentimeter groß ist das Objekt im Trottoir der Oranienstraße. Direkt daneben, eine Winzigkeit gekippt, liegt eine sehr ähnliche Platte, da lautet der Name „WILLY FRIEDEMANN“. Auf ihr haben die Jahre seit der Installation, die Witterung und die Passantenfüße weniger Spuren hinterlassen. Beide Messingquadrate befinden sich vor der Apotheke in Haus Nr. 158, nahe dem Fahrradständer des Geschäftes, an der Busroute des M29. Weitere Muster der Gehweg-Collage rundum fügen sich zusammen aus Kanaldeckeln, Lüftungsgittern, Steinplatten und kleiner Pflasterung. Dazwischen Teerflecken. Wer von den beiden Metallpflastern aufblickt zur Ladenscheibe, sieht in der Apotheke die Regalbeschriftung „Aktuell“ und „Schmerzen“. Hier draußen quirlt, summt und hupt Kreuzberg so vor sich hin, ohne dass den Vorbeieilenden auffällt, was diesen Bürgersteig von anderen unterscheidet.

Im Mai 1996 war der erste Stolperstein Berlins – für Lina Friedemann – von dem Künstler Gunter Demnig verlegt worden, und danach der für ihren Mann. Beide starben in Riga, das soll der Betrachter dazudenken. Demnigs Aktion hatte Anfang 1995 in Köln mit Steinen für deportierte Sinti und Roma begonnen; in Kreuzberg gehörte sie zu einem „Künstler forschen nach Auschwitz“-Projekt der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK). An Bürger-Reaktionen der ersten Stunde erinnert sich der Berliner nicht: „Berliner geben sich cool, sie signalisieren Was-ist-das-schon-wieder und Mal-was-anderes.“ Ursprünglich habe er Tafeln an Häuserwände setzen wollen, das sei ihm wegen zu erwartender Hausbesitzer-Ablehnung ausgeredet worden – etwa mit den Worten: „Für jüdische Opfer? Vergiss es.“ Die Platzierung am Boden war eine Notlösung. Inspiriert hätten ihn auch Grabplatten im Petersdom, über die Tausende blankpolierend hinweglaufen, das Vergänglichkeitsbild der „Vanitas“: „Die Idee war: Wenn die Platte mal abgeschliffen ist, spendet jemand eine neue. Nicht der einzelne Stein ist das Kunstwerk, sondern die soziale Skulptur, wie Beuys das nannte. Das, was drumherum passiert.“ Aggression in Worten („Was soll das noch nach 60 Jahren?“) oder Beschmierungs-Taten wie jetzt an der Friedenauer Handjerystraße (siehe Text unten) habe er kaum erlebt. In solchen Fällen, sagt Demnig, säubern oft Hausbewohner die attackierten Steine.

Am heutigen Freitag verlegt Gunter Demnig in Reinickendorf den 5000. Stein für Berlin. Beim Berliner Start, vor 17 Jahren, war seine Pflasterei noch illegal gewesen. Das Tiefbauamt reagierte damals erst drei Monate später, als Bauarbeiter am Moritzplatz vor der ersten Kreuzberger Verlegungsaktion in der Nähe anderer Steine nicht weiter wussten: „Hier ist doch ein Denkmal!“ Für eine Ortsbegehung wurde die NGBK mit 380 DM vom Amt zur Kasse gebeten. An anderer Stelle mussten Steine um 1,20 Meter umgesetzt werden, da man auf ihnen sonst angeblich hätte ausrutschen können. Das sei „reine Schikane“ gewesen, knurrt Demnig – doch seine Idee war nun legalisiert. Als im Jahr 2000 ein Südafrikaner Stolpersteine für ermordete Verwandte wünschte, habe es aus dem Tiefbauamt geheißen, man sei 1996 politisch erpresst worden. „Dann werden sie eben noch mal politisch erpresst“, soll der Leiter des Kreuzberg-Museums gekontert haben. Die Bezirksversammlung beschloss bald darauf, es sollten Stolpersteine für alle Kreuzberger Opfer der NS-Verbrechen verlegt werden.

Weltweit gibt es inzwischen mehr als 35 000 Steine in 14 Ländern, im Juli kommt Russland hinzu. „Heute würde ich die Steine mehr in den Weg legen, weniger an den Rand“, kommentiert der 65-jährige Demnig den Berliner Anfang vor 17 Jahren. „Damals war ich schüchtern. Aber man soll ja drüberlaufen.“

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