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Das große Rad drehen. Enkel Norbert Witte wohnt am von ihm betriebenen Spreepark, der inzwischen pleite ist.

© Uwe Steinert

Berlin: Berlins gekrönter König

Vor 100 Jahren machte ein Zirkuskind die ganz große Karriere: Hochstapler Otto Witte ließ sich zum Herrscher von Albanien krönen. Es ist der Beginn einer bis heute aufregenden Familiengeschichte.

Seit zwölf Jahren überwuchert Wildwuchs das Gelände des Spreeparks im Treptower Plänterwald. Einstige Attraktionen wie das Riesenrad verrotten. Der ehemalige Betreiber der insolventen Anlage, Norbert Witte, haust in einem Wohnwagen auf dem Areal. Hin und wieder träumt er davon, der Vergnügungspark könnte wieder auferstehen – und damit sein altes aufregendes Leben. Eine immense Schuldenlast und die vertrackte Rechtslage hatten das bislang verhindert. Im Juli wird das Gelände zwangsversteigert. Witte hatte sich nach der Pleite 2002 nach Peru abgesetzt. Zwei Jahre später wurde er wegen versuchten Kokainschmuggels zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach vier Jahren kam er frei. Sein Sohn Marcel sitzt weiter seit 2006 wegen Drogenschmuggels in Peru ein. Er wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt und kämpft täglich um ein würdevolles Überleben, wie der Film „Achterbahn“ über die Familie Witte eindrucksvoll zeigt.

Das abenteuerliche – und zuweilen halbseidene – Schaustellergeschäft hat in der Familie Witte eine lange Tradition. Vor 100 Jahren landete Norbert Wittes Großvater Otto Witte seinen größten Coup. Am 15. Februar 1913 wurde er in einem pompösen Festakt zum König von Albanien gekrönt. Seinen Aufstieg in den Stand des Hochadels verdankte er einem unverfrorenen Akt der Hochstapelei. Otto Witte gelang ein Husarenstück am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Geboren am 16. Oktober 1871 in Diesdorf bei Magdeburg, wächst Otto bei seinen Großeltern in Berlin auf. Denn die Eltern sind ständig mit ihrem Wanderzirkus auf Achse. Mit acht lernt er reiten, jonglieren, Feuer schlucken. Kurz darauf glänzt Otto durch eine Dressurnummer mit ausgewachsenen Tigern, erfreut das Publikum mit Clownerien und Zaubertricks. Und als „Wahrsager“ legt er die Basis für seine spätere Karriere als Lügenbaron. Lesen und Schreiben allerdings lernt er nie.

An seinem 24. Geburtstag gastiert der fesche Otto am Hofe des Kaisers Menelik II. von Abessinien und verliebt sich in dessen vierzehnjährige Tochter. Das junge Paar flieht, wird aber von Häschern in Somaliland geschnappt. Witte landet im Verlies von Addis Abeba. Doch bevor der Henker ihn einen Kopf kürzer macht, gelingt ihm die Flucht. Witte schlägt sich als Tierfänger und Großwildjäger in Kenia durch, streift mit Beduinen durch die Sahara, tafelt mit Menschenfressern im dunklen Herz Afrikas und versucht sich als Touristenführer im Heiligen Land. Er heuert bei der Fremdenlegion an, treibt sich in Südamerika herum. Ob Witte alle diese Abenteuer tatsächlich erlebt hatte, oder sie der eigenen Legendenbildung entsprangen, bereichert durch die Phantasie von Journalisten, die über ihn Zeitungsspalten füllten, ist heute nicht mehr zu klären.

Sicher ist: Das Heimweh führt ihn nach Europa zurück. In der Schweiz diskutiert er politische Fragen mit Lenin. Nach Intermezzi als Taucher im Mittelmeer, Zierfischhändler und Geisel einer Räuberbande in Balkan-Schluchten zieht es Witte in die Türkei. In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, landet er in der Armee und macht Karriere beim Geheimdienst.

Otto soll die politische Entwicklung, insbesondere auf dem unruhigen Balkan, im Auge behalten. Im November 1912 schüttelt Albanien die mehr als 400-jährige Türkenherrschaft ab und erklärt seine Unabhängigkeit. Serben, Bulgaren und Griechen nutzen das Machtvakuum und okkupieren Teile des neuen Staates. Die junge „Republik Albanien“ sucht einen respektablen Herrscher, was liegt näher, als die Stelle eines Königs auszuschreiben. Da die Mehrheit der Albaner auf einem muslimischen Staatsoberhaupt besteht, bleibt als Königslieferant nur das Osmanische Reich. All das will Analphabet Otto Witte durch das intensive Studium von „Geheimakten“ erfahren haben. In Geheimdienstkreisen am Bosporus macht derweil das Gerücht die Runde, dass der Neffe des Sultans, Prinz Halim Eddine, als König von Albanien vorgesehen ist.

Als Witte ein Foto des Prinzen in die Hände bekommt, stockt ihm der Atem: „Der war mir wie aus dem Gesicht geschnitten, wie ein Zwillingsbruder, nur ein wenig gelber.“ Otto Witte kommt die verwegenste Idee seines Lebens. Gemeinsam mit seinem alten Freund, dem Schwertschlucker Max (der seine Nachnamen ständig wechselte) reist er nach Wien. Dort erwerben die beiden in einem Kostümverleih prächtige Phantasieuniformen. Schwer mit Orden behängt reisen sie nach Triest, von wo sie mit einem österreichischen Schiff in die albanische Hafenstadt Durazzo (Durrës) gelangen. Ihre Ankunft als Prinz Halim Eddine nebst Sekretär kündigen die Hochstapler zuvor telegrafisch an.

Der albanischstämmige Interimsregent Essad Pascha, geblendet vom Glanz der vermeintlichen Majestät, geht auf die Knie. Paraden, Feuerwerk, Ehrensalut und Rosenblätter streuende Frauen empfangen den neuen Herrscher. „Prinz Etti“, wie Witte sein Alter Ego nennt, erwählt sich den westlichen Herrschernamen Otto I. Als erste Amtshandlung ernennt er seinen Kumpel Max zum Minister, setzt Regierung und Generalstab ein, gibt Pläne für Kriege gegen Montenegro und Serbien in Auftrag und lässt einen Aufstand niederschlagen. Dann widmet er sich im für ihn eingerichteten Harem den elf schönsten minderjährigen Töchtern des Landes.

In Windeseile spricht sich die sagenhafte Geschichte herum und erreicht auch das Ohr des echten Halim Eddine. Der lässt wissen, er sei keineswegs gekrönt worden. Und verlangt Aufklärung. Für die Hochstapler wird es Zeit zu verschwinden. Am 19. Februar, genau heute vor 100 Jahren, verkleiden sich Otto und sein Minister Max als Bettler, nehmen vom Staatsschatz so viel mit, wie sie tragen können und nehmen mit einem Fischerboot Kurs Richtung Italien.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs beschränkt sich Witte auf ein eher unauffälliges Leben. In Berlin führt er eine Abdeckerei, macht allerlei Handelsgeschäfte und wirtschaftet eine Obstplantage zugrunde. Danach verdingt er sich als Hausierer. 1921 gründet er eine „Partei für den Mittelstand, die Bauern, Kleinhändler und Schausteller“. Seine politischen Ambitionen lässt er jedoch bald wieder ruhen, weil er „Hindenburg keine Konkurrenz machen“ will.

Den Titel „ehemaliger König von Albanien“ darf er – behördlich anerkannt – als Künstlernamen tragen. Er behält ihn über Kaiserzeit, Republik und Nazidiktatur bis zur Bundesrepublik. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg tingelt Otto Witte mit dem „Schloss auf Rädern“ oder einer Schießbude weiter durch die Zirkuswelt und über Rummelplätze, erzählt seine Geschichte als „der größte Weltabenteurer“ und tritt gemeinsam mit seiner Tochter „Prinzessin Elfriede“ als orientalischer Edelmann auf. Auch in Berlin bleibt er Vagabund: Er wohnt in der Weddinger Kattegattstraße 10, der Kopenhagener Straße 72 in Wittenau und führt an der Wollankstraße 42 einen Trödelladen, bis er 1950 zu seiner Tochter nach Hamburg übersiedelt. Dort stirbt Otto Witte, der im Alter eine verblüffende Ähnlichkeit mit Wilhelm Voigt, dem Hauptmann von Köpenick, aufweist, am 13. August 1958. Auf dem Friedhof Ohlsdorf findet er seine letzte Ruhe. Die Inschrift auf dem Grabstein erinnert an sein größtes Schelmenstück: „Ehemaliger König von Albanien“.

Ulrich Zander

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