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BERLINS PFLEGEEINRICHTUNGEN STELLEN SICH DEM VERGLEICH: 2. Folge Die Tabelle für Tempelhof-Schöneberg: Selbstvergessen

Demenzkranke sind schwierig. Sie sind unbeherrscht, irren ziellos umher, erkennen ihre Kinder nicht. Und doch freuen sich manche Pflegende auf die Zeit mit ihnen: „Man bekommt viel zurück.“

Lila schimmern die Fingernägel der Hand an der Gehhilfe. „Hier im Heim habe ich ja endlich mal Zeit, mich darum zu kümmern“, sagt Klara Wündisch*. In der Stimme der 82-Jährigen mit den langen grauen Haaren und den schwarzen Leggins schwingt ein wenig Stolz mit, als sie ihre frisch lackierten Nägel präsentiert. Dann verfinstert sich ihr Gesicht.

Sie mache sich schlimme Sorgen, sagt sie mit feierlichem Ernst. Eines ihrer Kleider sei heute nicht mehr aus der Wäscherei des Hauses zurückgekehrt. Den Versicherungen des Personals, das Kleidungsstück werde bestimmt wieder auftauchen, traut sie nicht. Und auch von ihren Mitbewohnern verspricht sie sich wenig Hilfe bei der Suche. „Hier brauche ich doch keinen fragen“, sagt sie. „Die sind doch alle…“. Das letzte Wort verschluckt sie, als sie Hans Leibnitz bemerkt, der wie jeden Tag die warmgelben Flure auf- und abmarschiert und dabei gelegentlich die Festigkeit der Geländer überprüft. Stattdessen wedelt sie nur mit der rechten Hand vor ihrem Gesicht. Dann verschwindet sie aufgestützt auf ihren Rollator im Gemeinschaftsraum der Demenzstation des Seniorenzentrums Zur Brücke in Köpenick.

Eine andere Bewohnerin, die die Szene beobachtet hat, scheint Frau Wündischs Auffassung vom Geisteszustand ihrer Mitbewohner zu teilen. Als diese durch die Tür verschwunden ist, zeigt sie ihr hinterher, streckt die Zunge heraus, verdreht die Augen und tippt sich an die Stirn. Dann kichert sie.

„All das muss man mit Humor nehmen“, sagt Sven Dietrich über die Arbeit mit Demenzpatienten. 56 von ihnen beherbergt das Heim auf zwei abgetrennten Etagen, aufgeteilt in vier Gruppen á 14 Leuten. Bis zu fünf Pfleger sind in den arbeitsreichsten Tagesphasen - zum Beispiel nach dem Aufstehen der Bewohner – für jede Gruppe im Einsatz. Dietrich, kurze blonde Haare, stämmige Statur und gelernter Autoschlosser, kam 1991 als Zivildienstleistender ins Haus. Heute, mit 36 Jahren, leitet er die gerontopsychiatrische Abteilung, wie die Demenzstation im Fachjargon heißt, und ist stellvertretender Pflegedienstleister des Heimes.

Der spezielle Bereich für die Demenzpatienten wurde im Haus kurz nach der Wiedervereinigung eingerichtet. „Wir haben alle Modelle durchprobiert“, sagt Heimleiterin Helga Brauer in ihrem Büro im Erdgeschoss. „Nach unserer Erfahrung ist es das Beste, die demenzkranken Patienten getrennt von den übrigen Bewohnern unterzubringen.“

Auch andere Pflegeheime sind inzwischen zu dieser Praxis übergegangen. Schließlich benötigen demenzkranke Bewohner fast 24 Stunden lang Aufsicht. Viele entwickeln durch die Krankheit einen Bewegungsdrang, so dass die Gefahr besteht, dass sie das Heim verlassen und sich dann verlaufen. „Außerdem müssen wir berücksichtigen, dass die übrigen Bewohner sich im Alltag oft von Demenzkranken gestört fühlen“, sagt Brauer.

Wie beispielsweise von Regina Kunze. Eine Pflegerin hat die kleine Frau mit dem Bubikopf gerade zum zweiten Mal eingekleidet und geduscht – es gab einen kleinen Unfall beim Toilettengang. Nun führt sie die Pflegekraft am Arm in den Gemeinschaftsraum, wo ihre Mitbewohner mit einer Hauswirtschafterin gerade Apfelkuchen backen. Als Frau Kunze Sven Dietrich sieht, bleibt sie stehen, zupft an seinem Ärmel und ruft mit einem Grinsen im Gesicht „dreimal, viermal, fünfmal!“. Dietrich lacht. „Die Krankheit ist ein wenig wie ein Zurückfallen ins Kindesalter“, sagt er. Dinge, wie gerade geschehen, seien jedoch harmlos. Manche Demenzpatienten würden in fremde Zimmer gehen, sich in die Betten von Mitbewohnern legen, andere würden auch ausfallend – verbal wie körperlich. „Manchmal ist es Wahnsinn“, sagt Dietrich. In Einzelfällen müsse man dann Patienten auch ablehnen oder trennen. Besonders bei Ehepartnern, die sich nach Jahren des Zusammenlebens nicht mehr erkennen, wäre das tragisch.

Trotzdem sei die Arbeit mit den Demenzkranken lohnend, sagt Birgit Schaefer. Die Mittvierzigerin arbeitet seit zwölf Jahren als Altenpflegerin auf der Station. Gerade beendet sie in ihrem Büro, das genau zwischen zwei Wohngruppen liegt, ihre Schicht. „Natürlich ist die Arbeit anstrengend“, sagt sie, doch man bekomme auch viel dafür zurück. „Die Demenzpatienten sind oft sehr anhänglich und irgendwo ersetzen wir einigen ja auch die Familie.“

Dass vielen Kollegen die Arbeit mit den Demenzkranken trotzdem zu anstrengend sei, dafür hat sie Verständnis. „Die psychische Belastung hier ist größer als im übrigen Haus“, sagt sie. Ursache dafür seien nicht nur die Bewohner selbst, die vom Aufstehen und Zähneputzen bis zum Abendessen und Ausziehen ständig versorgt werden müssen und bei denen man gezwungen ist, fast täglich wieder bei Null anzufangen. Auch die Angehörigen der Bewohner würden Demenz mit weniger Verständnis begegnen, als beispielsweise einem Schlaganfall. „Viele Menschen denken, die Krankheit sei heilbar, die Symptome ließen sich lindern“, sagt die Pflegerin „Oft ist es dann sehr schwierig, zu vermitteln, dass das nicht so ist.“

Der größte Unterschied und die größte Herausforderung bei der Arbeit mit Demenzkranken sei jedoch, dass diese ihre Bedürfnisse nicht mehr artikulieren könnten. Nicht nur Namen und Gesichter, auch Hunger- und Durstgefühl verschwinden irgendwann aus dem Bewusstsein, sagt Birgit Schaefer.

Besonders wichtig ist deshalb die Beschäftigung mit der Biografie der Bewohner. Was ihnen früher Spaß gemacht habe, freue sie auch heute noch, glauben die Pfleger. Denn das Langzeitgedächtnis bleibt oft länger intakt als das Kurzzeitgedächtnis.

Dass dem wirklich so ist, kann man wenig später im vierten Stock erleben. Ein Duzend Bewohner sitzt im Gemeinschaftsraum im Kreis und hält Gesangsbücher in der Hand. Menschen, die sich nicht mehr an die Namen ihrer Kinder erinnern können und vergessen haben, was sie zum Frühstück gegessen haben, schmettern lauthals den Text von „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Sie singen laut und sie singen falsch – die Gruppe hat sichtlich Spaß. Allen voran ein rundlicher Bewohner mit Brillenglässern, so dick wie ein Colaflaschenboden, und Hosenträgern, der begeistert mitdirigiert.

Auch draußen auf den Fluren kann man die Stimmen noch hören. Hans Leibnitz, der immer noch auf Wanderschaft durch die Flure ist, interessiert sich dafür jedoch nicht. Er will nicht singen, sagt er. Lieber betrachtet er die vier alten Fotografien von Berliner Bahnhöfen, die am Ende eines der Flure hängen. „Innenstadtbereich“, sagt er und deutet auf ein Bild von der Haltestelle Friedrichstraße.

Dann entschuldigt er sich. Er müsse jetzt weiter. Die Frage nach dem Wohin, lässt er offen und verschwindet leise und gemächlich hinter eine Biegung des Flures. Zwanzig Minuten später steht er wieder vor den Fotos.

* alle Namen von Bewohnern geändert

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