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Berlin: Besser nicht dran denken

Angst vor Anschlägen? Berlins U-Bahn-Fahrgäste bleiben ruhig. Bei der BVG herrscht „Warnstufe Gelb“

Ein junger Mann, braune Hautfarbe schwarze Haare, schlendert den U-Bahnschacht entlang, kommt näher, bleibt stehen und öffnet plötzlich seine lange Lederjacke. Schrecksekunde. Zwei Dosen klemmen am Innenfutter. Sprengstoff? Attentäter? Entwarnung. Es sind Spraydosen für Graffiti. „Ich bin kein Hund“, brüllt der Dosenträger ins Publikum der Wartenden und geht wieder.

Es ist nur ein Video über stereotype Verhaltensmuster, das auf dem Bahnsteig der U2 am Alexanderplatz gezeigt wird. Videokunst über „beliebige Charaktere mit polarisierenden Haltungen“. Haltungen, die immer mit Gewalt zu tun haben. Angst löst das unter den Betrachtern nicht aus. Die maximal erkennbare Gefühlsregung ist Befremden.

Vor 12 Tagen wurden in London mehr als 50 Menschen getötet. Die meisten von ihnen waren in U-Bahnen in der Nähe des Umsteigebahnhofs King’s Cross unterwegs. Der Alexanderplatz in Berlin hat eine ähnliche Funktion wie King’s Cross. Nur: Vorstellen möchte sich hier niemand, dass sich in Berlin etwas derart Grausames ereignet. Und was man sich nicht vorstellt, davor kann man auch keine Angst haben.

„Ich glaube, das wird noch ziemlich ignoriert“, sagt Maik Meyer in seinem engen Zeitungskiosk. Seine Hemdknöpfe stehen offen, die Hände sind in den Taschen vergraben, das Gesicht ist glatt wie ein windstiller See. Maik Meyer wirkt aufs Äußerste entspannt. „Es war mal einer da, der sagte, er sei Terrorexperte. Der hat erzählt, man könne schon noch was machen. Sprengstoffdetektoren und so. Aber eigentlich brächte das auch nix.“

Einer Umfrage zufolge haben zwei Drittel der Berliner Angst vor Terror. Jeder Fünfte will weniger U-Bahn fahren. Meyer hat von diesem Fünftel und jenen zwei Dritteln noch keinen gesprochen. Klaus Wazlak von der BVG sagt, das sei so ähnlich wie mit den guten Vorsätzen fürs neue Jahr: Von Fahrgastschwund habe er nach den Londoner Anschlägen nichts bemerkt. Das diffuse „Unbehagen“ sei schnell der Einsicht gewichen, irgendwie zur Arbeit kommen zu müssen.

Viele Menschen tragen sorglos ihre prall gefüllten Rucksäcke herum. Zentnerweise Sprengstoff würde da reinpassen. „Taschenrechner, Notizblock, Organizer“, gibt Elektrotechnikstudent Philipp als Inhalt an. Er lief gerade mit geschlossenen Augen auf dem Bahnsteig herum. Irgendwie verdächtig. Nein, er sinniere nur über einen Röhrenverstärker für seine neue Hifi-Anlage. Und der Terror? „Risiko des Lebens. Hier kann ein Feuer ausbrechen, und wir verbrennen alle.“

U-Bahnfahrer Manfred Oldag hat gerade seine Schicht beendet. „In den ersten Tagen habe ich daran gedacht. Dann nicht mehr.“ Auch zwei ältere Frauen haben die Anschläge schon komplett aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Christel Joessel ist nur ihrer Enkeltocher zuliebe in den Untergrund gegangen. Sie fährt lieber Auto als U-Bahn. Neuerdings umso mehr. Hat sie ein mulmiges Gefühl beim U-Bahn-Fahren? „Ja, das stimmt. Ne gewisse Angst fährt mit.“

Dieses Gefühl beschleicht sie nicht erst seit London, sondern schon seit den Anschlägen von Madrid. Die Enkeltochter ist erst zwei Jahre alt und ahnt nicht, was ihrer Oma so durch den Kopf geht.

Die BVG hat kurz nach den Londoner Anschlägen von Grün auf Warnstufe Gelb umgeschaltet. „Rein prophylaktisch“, sagt Klaus Wazlak. Gelb bedeutet erhöhte Wachsamkeit für Fahrgäste und Personal. „Mehr auf herrenloses Gepäck achten und sowas.“ Aber gegen Selbstmordattentäter hilft das doch nicht, oder? „Man muss ja nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen.“

Der Diensthabende im Bahnwärterhäuschen an der U2 „guckt schon mal öfter in dunkle Ecken oder in die Papierkörbe“. Verdächtiges sei ihm noch nicht aufgefallen. Was er dort genau vermutet, bleibt unklar. Die Terrorgefahr macht ihm keine Gänsehaut. „Wenn was passieren soll, kann man auch nicht viel machen.“ Während er das sagt, wischt er mit Graupapier den Tisch ab, stapelt Infobroschüren und schimpft auf die Videoinstallation vorne an seinem Häuschen. Das habe mit Kunst rein gar nichts zu tun. Das verunsichere nur die Fahrgäste. Am liebsten würde er einfach den Stecker für den Fernsehmonitor ziehen, gleich neben der Kaffeemaschine. Dann wäre der Untergrund an der U2 wieder eine Oase des Friedens.

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