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Menschen und Akten: Bewährungshelfer Schröder (verdeckt) ordnet beides.

© Kai-Uwe Heinrich

Bewährungshilfe in Berlin: Mit einem Fuß im Knast

„Der hätte doch nicht frei rumlaufen dürfen!“, heißt es oft, wenn Straftäter rückfällig werden. Einer, der das anders sieht, ist der Berliner Bewährungshelfer Volker Schröder.

Manchmal freut sich Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, über bestimmte Straftaten, das muss man ganz einfach mal so sagen. „Oh, ein Diebstahl, ohne Körperverletzung! Eine Beleidigung, ohne Tätlichkeit; eine Körperverletzung, aber keine schwere.“

Für die sich Bewährenden und für Herrn Schröder, heißt Erfolg: kein Rückfall. Oder auch schon: ein minder schweres Delikt. Am meisten freuen ihn all die Taten, die jemand nicht begeht.

Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, Spezialist für das Ungeschehene: Sozialarbeiterpulli Fehlanzeige, Sandalen Fehlanzeige, offenes Ohr vorhanden. Verbucht als Gelingen das, was man in keiner Schlagzeile liest: KEINE KÖRPERVERLETZUNG! NICHT EINMAL GESCHUBST! MUTMASSLICHER NICHT-TÄTER WAR AUF BEWÄHRUNG FREI!

Bewährungshilfe und Boulevard, das wird nichts mehr, das ist so wie mit Gerhard Polt und den Pazifisten: „Nennen Sie mir einen Krieg, den wo die verhindert hätten!“ 569 549 Straftaten wurden in Berlin im Jahr 2015 begangen, 16 414 pro 100 000 Einwohner, nur ein Bruchteil davon von Straftätern, frei auf Bewährung, dazu gleich mehr. Aber wer zählt die, die nicht passiert sind, weil sich, eben, jemand bewährt hat?

Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, zweiter Stock rechts, Tür steht offen, Zimmerpflanze Fehlanzeige, Spruchkalender Fehlanzeige, großes Herz vorhanden. Fester Händedruck, fragender Blick, schallendes Lachen: will wissen, woran er bei Ihnen ist, glaubt, wie bei allen, die er sieht, dass Sie es schaffen können, zieht Sie ein bisschen auf, tough love, § 56 d, (1), StGB:

„Das Gericht unterstellt die verurteilte Person für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um sie von Straftaten abzuhalten.“

5 650 Probanden gibt es derzeit in Berlin, von 118 Bewährungshelfern in der „ambulanten staatlichen Rechtspflege“ betreut, beraten, kontrolliert und überwacht, so der offizielle Auftrag der „Sozialen Dienste der Justiz“.

84 Probanden hat Herr Schröder, 84 mal Gerundivum, Verlaufsform, „die sich zu Bewährenden“. Im Einzelnen: Begünstigung und Hehlerei 1, Beleidigung 8, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz 22, Betrug und Untreue 12, Diebstahl und Unterschlagung 20, Falsche Verdächtigung 1, Hochverrat 1, Geld- und Wertzeichenfälschung 1, Raub und Erpressung 22, Gemeingefährliche Straftaten 8, Sachbeschädigung 1, Straftaten gegen das Leben 8, gegen die öffentliche Ordnung 1, gegen die körperliche Unversehrtheit 40, gegen die persönliche Freiheit 13, gegen die sexuelle Selbstbestimmung 7, Urkundenfälschung 2, Wehrstrafgesetz 4, Widerstand gegen die Staatsgewalt 3. Frauen 5, Männer 79.

Wenn Sie das so lesen, wäre da am Ende auch etwas für Sie dabei? Dass Sie vielleicht denken: Gott bewahre, aber sollte ich jemals straffällig werden, dann vielleicht am ehesten noch in Richtung ... ? So à la: Welcher Typ Straftäter sind Sie?

Das Gegenteil von Stammtisch

Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, ist auch Spezialist für das Offene. Das Gegenteil zur Perspektive des Hinterher, zum Stammtisch: „Der hätte doch nicht frei herumlaufen dürfen!“ Doch, findet Herr Schröder, hätte der, auch wenn er schon einiges an Bewährungsversagern gesehen hat – auch er hatte seinen Teil vom guten Viertel aller Berliner Probanden, die während ihrer Bewährungszeit wieder straffällig wurden, letzte Daten aus dem Jahr 2014. „Aber das muss eine freie Gesellschaft aushalten“, sonst bekämen ja auch die, die sich bewähren, die, von denen Sie nie hören oder lesen, keine Chance. Vor allem: Alternative Wegsperren, da kommen Sie bei Herrn Schröder nicht weit; sonst würde er das hier alles nicht machen, nicht sich bemühen, mit Überzeugung, um die Täter, die frei herumlaufen.

5650 Probanden gibt es derzeit in Berlin, Stichtagszählung April, 5650 sich zu Bewährende: entweder weil eine Freiheits- oder Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, oder weil nach Haftentlassung oder Maßregelvollzug Führungsaufsicht angeordnet wird. § 68, StGB:

„Hat jemand wegen einer Straftat, bei der das Gesetz Führungsaufsicht besonders vorsieht, zeitige Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt, so kann das Gericht neben der Strafe Führungsaufsicht anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass er weitere Straftaten begehen wird.“

Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, Brille, Hemd, Jeans, bequeme Schuhe, seit 20 Jahren dabei, hat erst einmal schlechte Neuigkeiten für Sie: „Jeder Mensch kann in eine Situation kommen, die an seine Grenzen geht. Jeder Mensch kann zu jedem Zeitpunkt Straftäter werden, sich an anderen Menschen vergehen, das muss man ganz einfach mal so sagen.“

Will sagen: Auch Sie könnten hier sitzen, Frage eines Augenblicks. Eine falsche Reaktion, ein Moment, in dem Ihnen alles zu viel wird, eine zu große Versuchung. Der Übergang zwischen unbescholten und bescholten ist oft unmerklich, und geplant, erwischt zu werden, das hat von den anderen hier auch keiner.

Aber wenn, dann wäre Herr Schröder, Sprechstunde dienstags und freitags, gewiss nicht Ihre schlechteste Karte. Er wird Sie nicht richten, Sie sind ja schon gerichtet worden, er wird Sie unterstützen, damit Sie nicht wiederkommen. Über Sie berichten, gewiss, an das zuständige Gericht, das macht Herr Schröder ja an den Tagen, wo keine Sprechstunde ist, Berichte schreiben, oder mal eine Aussage vor Gericht, wenn jemand angeklagt ist, oder auch einen Hausbesuch, damit Sie nicht immer kommen müssen, und damit er sieht, wie Sie so privat unterwegs sind, bewährungsmäßig.

Aber jetzt erst einmal ankommen, nehmen Sie Platz, erst einmal ein bisschen rausfinden, wie Sie „aufgestellt sind“. Ob Sie für einen Scherz zu haben wären. Oder irgendwas, womit er Sie ein bisschen aus der Reserve lockt, selbst wenn man sich nur mal zusammen über den Verkehr aufregt, die Baustellen, ganz egal, Hauptsache ins Gespräch kommen, bisschen locker werden.

Was Sie da genau angestellt haben, ist erst einmal gar nicht so wichtig. Es kann sogar sein, dass er Sie gar nicht danach fragt.

Wie bei Herrn J., Termin um 10 Uhr, wartet schon 20 Minuten vor der Zeit.

Schröder hat Herrn J. aus Bielefeld übernommen, er ist ihm zugeteilt worden, aber J.s Akte kam erst Monate später nach. Er hat ihn nicht gefragt, was da war, wollte erst, dass Herr J. Vertrauen fasst. Und hat sich verboten, zu raten, zu mutmaßen: Ist J. eher der Typ Körperverletzung? Betrug? Oder Missbrauch von Schutzbefohlenen?

Herr Schröder, Gerichts- und Bewährungshelfer, einer von 118 in Berlin, eigentlich gelernter Speditionskaufmann, dann Abitur mit Schüler-Bafög, Wirtschaftsgymnasium, Studium der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, immer noch neugierig, sagt: „Bewährungshelfer ist kein Ausbildungsberuf.“ Sagt, er versuche „den Delikthintergrund auszublenden“, um nicht in die vergleichende Perspektive einzusteigen, ins „Aha-Erlebnis“. „Dass ich sage, der ist ein Betrüger, das weiß ich, und dann denke: Aha, mit den Betrügern läuft das ja immer so und so, die betrügen mich ja auch immer, im Auftreten und so. Deshalb versuche ich, das in der Vorbereitung ein bisschen wegzukriegen, was die Delikte anbelangt. Individualstrafrecht heißt ja, es kommt auf das Individuum an, den Einzelnen.“

Aus der Haft entlassen, Strafe voll verbüßt

Also ist Herr J. erst mal einfach nur Herr J., als er das erste Mal hier sitzt, Oktober 2015 muss das gewesen sein: aus der Haft entlassen, Strafe voll verbüßt, bereit für den Neuanfang. Herr J., um die 50, hatte zwei Jahre und sechs Monate gesessen, er sah, nun ja, ungelüftet aus, als sei er länger nicht an die Sonne gekommen, groß, überlang, die Kleider schlecht sitzend, der ganze Mensch ein bisschen grau, als wäre er eine Zeit lang irgendwo abgelegt und vergessen worden.

Herr J. tut sich bis heute schwer, wieder Fuß zu fassen. Wohnung findet er keine, Arbeit findet er keine, pflichtschuldig telefoniert er Listen mit 20 Adressen ab, das zieht einen schon runter, wenn da gar nichts klappt. Monatelang.

Er versucht, die Bauklötze einer Existenz wieder aufeinanderzustellen, Wohnung, Arbeit, Beziehung. Aber anmelden kann er sich nicht, weil er keine Wohnung findet, Jobs kriegt er keine, weil er nicht angemeldet ist. Sagt er.

Also wohnt er bei seiner Freundin, Einzimmerwohnung, Hartz IV, Diagnose Borderline, er kümmert sich, bemüht sich. Aber wenn er sich bei ihr anmeldet, wird sofort was gestrichen, gekürzt, wegen Bedarfsgemeinschaft. Sagt er.

„Wie ist denn Ihr Gemütszustand?“, fragt also Herr Schröder. „Eigentlich ruhig“, sagt J., „sich aufregen ist ja ungesund.“ Ruhig, sehr ruhig.

Warum dann nicht einen 600-Euro-Job suchen, Teilzeit, als Anfang, besser als Frust schieben? Aber Herr J. kann sich dafür nicht begeistern, „da bin ich ja beim Amt besser dran“. Und wenn ein polizeiliches Führungszeugnis verlangt wird, dann ist für ihn auch schon wieder Schluss.

Es ist nicht einfach, einfach ist es nicht. Bei Herrn J. geht es mehr um Existenzneugründung denn um Bewährung, er will eh auf keinen Fall noch mal „rein“, sauber bleiben, bisschen Rad fahren, bisschen spazieren, getrunken wird nicht, höchstens mal zum Fußball ein Bier.

Kleine Schritte, sehr kleine.

„Bringen Sie doch mal einen tabellarischen Lebenslauf mit“, sagt Herr Schröder nach den ersten Treffen. „Schauen wir nächste Woche mal drauf.“ In der Woche drauf bringt Herr J. nichts mit außer sich selbst und die Hindernisse auf seinem Weg.

Wenn man nun Herrn J. drohte, „wenn Sie nicht dieses und jenes, dann“, da glaubt Herr Schröder nicht dran, dass das was bringen würde. „Als Bewährungshelfer kann man nur Vertrauen aufbauen, erst mal akzeptieren, was jemand gemacht hat, und dann versuchen, im Gespräch das Verhalten ein bisschen zu beeinflussen, Anregungen zu geben, unterstützend zu sagen: Ich finde trotzdem, dass Sie dieses oder jenes mal ändern sollten. Das ist eigentlich die Kunst dabei.“

Es könnte ja sein, dass es doch noch irgendwie gut ausgeht

Für jemanden, der eigentlich ein Repressionsorgan des Staates ist, glaubt Herr Schröder reichlich wenig an die schwarze Pädagogik, ans Sanktionieren, ans Zeigen, wo der Hammer hängt. Da ginge ja die Grundlage für seine Arbeit, das Vertrauen, sofort wieder kaputt, da würden sich Schröders „Klienten“ sofort wieder verhärten, und einfach besser lügen, besser tricksen, am Ende überhaupt nicht mehr kommen. Deshalb Schröder: mehr unterstützend, mehr aufmunternd. Mehr: Es könnte ja sein, dass es doch noch irgendwie gut ausgeht.

„Sie haben ja eigentlich gute Ressourcen, Herr J., Führerschein, sogar ein eigenes Auto, unter meiner Klientel einer der besten“, findet Schröder, nachdem er Herrn J. ein bisschen kennengelernt hat, so nach drei, vier Treffen. Aber Herr J. hat seine Ressourcen da noch nicht so im Blick.

Jetzt aber: Warum sitzt er eigentlich hier, zweimal im Monat, überlang und ein wenig steif? Zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe, wegen Diebstahls. Schulden hatte er, weil man ihn reingelegt hat. Sagt er. Ein Auto auf Ebay gekauft, 6000 Euro für einen Wagen, den es gar nicht gab. Frau verlassen. Dann hat er angefangen, Altmetall von seiner Arbeit zu verhökern, gehörte ihm nicht, brauchte aber auch keiner mehr, tonnenweise Altmetall, bis man ihm auf die Schliche kam.

Jetzt sitzt er hier, und tut sich schwer. Er wusste nicht, dass das so schlimm ist in Berlin mit den Mieten, so teuer, verrückt. Nicht, dass er was gegen Ausländer hätte, aber was er nicht möchte, ist, in eine Gegend zu ziehen, wo er der „einzigste Deutsche“ wäre, „50 Familien, türkische Musik den ganzen Tag“, das wäre für ihn „sehr schlimm“.

Herr Schröder tut für ihn, sechs Monate lang: nichts, außer jedes Mal dieselben Stupser geben, wo einer was finden kann, Arbeit, Wohnung, Anmeldung, haben Sie es da schon versucht? Es muss ja Herr J. sich selbst auf die Sprünge helfen, sonst wird das nichts.

Herr J. ein kriminalistischer Spätzünder, mit über 50 das erste Mal straffällig geworden, „bei Männern oft aus der Depression heraus“, sagt Herr Schröder, Beziehung zu Ende, „die können damit nicht umgehen“, aber sein Alter ein „protektiver Faktor“: kein heißblütiger Jungspund, eher ruhig, sehr ruhig. Zu ruhig vielleicht.

Aber dann, nach sechs Monaten der sehr kleinen Schritte, des „Dann sehen wir uns in zwei Wochen“, des „Haben Sie es da schon probiert?“, sitzt Herr J. wieder hier, jetzt um zehn Uhr, es ist schon April, draußen, und da taucht zum ersten Mal für einen Augenblick echte Freude in J.s Gesicht auf. Es räumt Herr Schröder nämlich auf einmal einen großen Felsblock auf J.s Weg zur Seite: Er rechnet mit ihm nach, 5 Jahre ist das Urteil jetzt schon rechtskräftig, da ist das polizeiliche Führungszeugnis wieder leer, kein Eintrag mehr, Herr J. quasi unbescholten, polizeilich wie neu geboren.

Herr J. ist für einen Augenblick überrascht, sprachlos, glücklich, das ist wie ein kleiner Frühling, in Herrn Schröders Büro, morgens um kurz nach zehn, vielleicht ist es die neue Frisur, die neue Jacke, aber in Herrn J. hält ein bisschen Leben Einzug. Ein kleiner Schritt, ein großer Schritt, ruhig, sehr ruhig, aber ein bisschen Freude jetzt.

Da ist bei Herrn S., Termin 11 Uhr, bisschen spät dran, muss gleich wieder weiter, schon mehr los, viel mehr, vielleicht zu viel.

S., ein grundsympathischer junger Mann, trägt den Bart gepflegt-zackig rasiert. Anfang 30, das Haar schon fast grau, die Haut noch ein bisschen nervös, Restaurantleiter, immer einen witzigen Spruch, zuletzt Freispruch nach §20 StGB:

„Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“

Er war „positiv erschrocken“

S. war selbst „positiv erschrocken“, dass seine Gerichtsverhandlung so glimpflich ausgegangen ist, Urteil im Oktober, letztes Jahr. Ein Jahr lang ist er einmal monatlich begutachtet worden, Ergebnis: Man hat ihm eine paranoide Schizophrenie attestiert, zur Tatzeit Psychose, Kokain, Aggression gegen sich und andere. Ein Streit mit einem Bekannten, dann war er ausgerastet, hatte zugeschlagen, sich anschließend selbst gestellt.

Der Körperverletzung nicht schuldig, aber nun schuld daran, dass Herr Schröder nicht mehr in Restaurants essen mag. Weil S., Gastronomiefachmann, vorbestraft, seit Neuestem auch noch Fahren ohne Führerschein, ihm erklärt, wie da betrogen und beschissen wird. Eine Kasse für die Steuer, die andere schwarz, machen alle so, Leitungswasser als Tafelwasser, Ribeye als Filetspitzen, es wird vorn und hinten gelogen.

Herr Schröder interessiert sich: „Ah, im Gastgewerbe läuft es also so ein bisschen halb-kriminell?“

„Nicht halb, total kriminell, wie die Baubranche!“ Was S. nicht aushält. Er: moralischer Straftäter, ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, religiös, es macht ihn fertig, da mitmachen zu müssen.

Wenn es zu viel wird, dann sieht Herr S. rot, wirft sein Handy an die Wand, das Display seines jetzigen weiß noch vom letzten Ausraster, Anti-Aggressionstraining absolviert, Berliner Zentrum für Gewaltprävention. Herr Schröder versucht, ihm autogenes Training, Entspannung, einen Jobwechsel nahezulegen. Weil klar ist, dass das Gleiche noch einmal passieren kann: dass noch einmal S.s Sicherung rausfliegt, wenn die Spannung über ein erträgliches Maß steigt.

Herr S. kann eigentlich gut mit Menschen, deswegen im Gastgewerbe, er kennt sich aus, will alles ganz genau wissen, wie man Champagner köpft, richtig so mit einem Säbel, volles Programm, wie man tranchiert, degustiert, flambiert.

Aber Herr Schröder findet seinen Beruf gefährlich für S., ein Risikobündel aus zwölf, vierzehn Stunden Arbeit, Stress, Hektik, Auseinandersetzungen, „dass Sie da zerbrezeln“.

S. lacht, ja, was soll er machen, er steckt da mitten drin, und er weiß, dass das, worin er gut ist, nicht gut ist für ihn.

Gut für ihn aber oder wenigstens wichtig, sagt er: die Religion. „Ich weiß, ich bin voller Sünden, und ich bin sicher, dass auf uns das Jüngste Gericht wartet, wo wir gerichtet werden.“

Herr Schröder erhebt jetzt Einspruch: „Aber man kann doch nicht zweimal für das Gleiche verurteilt werden!“ Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 103 (3):

„Niemand darf wegen derselben Tat ... mehrmals bestraft werden.“

Der Chef ein Rassist, eitel, überheblich

Das überzeugt S. nicht, er ist sich der göttlichen Gerichtsbarkeit sicher, „ich freue mich, dass ich da meine Strafe noch absitzen werde.“ Nun gut. „Und wann kommen Sie mal zur Ruhe? Wann erholen Sie sich?“ S. weiß keine Antwort, gar nicht: „Die Situation kotzt mich an, die Stadt kotzt mich an, alles ist kriminell verseucht.“

Aber S. kann nicht weg, er hat die Auflage, in Berlin zu bleiben. Seine alte Arbeit hat er vor ein paar Monaten gekündigt, weil er seinem Opfer bei einer Schulung begegnet war, und nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Jetzt verdient er halb so viel wie vorher, der Chef ein Rassist, eitel, überheblich, beleidigt jeden, „früher hätte ich zugeschlagen“.

Am Ende springt er auf und umarmt Herrn Schröder, wieder spät dran, muss noch durch die halbe Stadt. Alles Gute, kann ich brauchen.

Herr Schröder atmet erst mal tief durch. „Sie sehen ja, wie geladen der ist, wird gedemütigt ohne Ende, erlebt Unrecht, und hat zugleich hohe moralische Ansprüche.“ S. sei ziemlich rückfallgefährdet, weil alle Umstände, die ihn dazu brachten, zuzuschlagen, unverändert weiterbestehen, obwohl S. sich bemüht.

„Es gibt Menschen“, sagt Herr Schröder, „die zu dem stehen, was sie gemacht haben, auch wenn sich manches wirklich schlimm anhört. Sie sehen ja, wie ungeschminkt das hier abläuft.“ Und: „Das ist ja das Interessante an dem Job als Bewährungshelfer: Dass man das nackte Leben sieht, und dass man Voyeur von Schicksalen ist. Andere leben möglicherweise das, was man vielleicht selber mal gerne gelebt hätte.“

S. bewährt sich, bis jetzt, jeden Tag. Gelingt es ihm, hat er Größeres geleistet, als jene, die ohne eigenes Zutun unbescholten bleiben: Wem die Psychose nicht im Nacken sitzt, hat leicht von Selbstbeherrschung reden. Denn es ist ja so: Nicht Sie bewähren sich bis jetzt, sondern Ihre gute Kinderstube, und der Umstand, dass Sie „gut aufgestellt“ sind, auch Ihr Mangel an Phantasie, wenn Sie so wollen, an Versuchung, an Not, eine glückliche Verkettung von Zufällen, bis jetzt.

Doch Herr Schröder wiederholt sich: „Jeder Mensch kann zu jedem Zeitpunkt Straftäter werden, sich an anderen Menschen vergehen.“

Deshalb jetzt noch mal die Frage: Welcher Typ Straftäter sind eigentlich Sie?

Wenn Sie straffällig würden, ginge das mehr in Richtung Beleidigung?

Oder eher so Richtung Körperverletzung, dass Ihnen mal die Hand ausrutscht?

Oder dass Sie mal richtig ausrasten, obwohl Sie selbst sich das am wenigsten zutrauen würden?

Oder vielleicht doch eher Steuerbetrug? Kommt in den besten Familien vor, oder vor allem in solchen, halb geschusselt, halb sich daran erinnert, die Zahlung zu vergessen.

Oder Fahrerflucht? Vielleicht haben Sie den Unfall ja tatsächlich nicht bemerkt. Nur geglaubt hat Ihnen das keiner. Deshalb, bitte sehr, nehmen Sie Platz. Dienstags und freitags ist Sprechstunde. Und sollten Sie mit Herrn Schröder, einer Gruppenleiterin an einem der drei Standorte der Sozialen Dienste der Justiz in Berlin unterstellt, jetzt nicht so gut zu fahren kommen, dann könnten Sie Ihren Bewährungshelfer auch wechseln, das ist „unter Umständen auf Antrag“ machbar.

Färbt das ab, wenn man jeden Tag mit Straftätern zu tun hat?

Vielleicht verlieren Sie auch irgendwann einfach komplett die Kontrolle über Ihr Leben. So wie Herr M., Sprechstundentermin um 13 Uhr, pünktlich da, Ende 40, Täschchen und Bauchansatz, kurz geschorenes Haar, Turnschuhe neu.

M., versuchter Totschlag, zeigt gerührt Fotos, von seiner Tochter, ein paar Tage alt. M., im letzten Jahr der Führungsaufsicht, draußen seit 2013, ist high vor Glück. „Sie hat Ihre Augen“, sagt Herr Schröder, „Ja, nicht wahr?“

Herr M. erzählt, kurzes Inventar des Lebens, Familie, Wohnung, Arbeit. Herrn M. muss nicht geholfen werden, er hat den Neuanfang geschafft, wieder geheiratet, Termine jetzt mehr Routine, Mindestauflage, woraus dann Schröder seine „Berichte an das Aufsicht führende Gericht über den Bewährungsverlauf und die Lebensführung“ bastelt.

Dann packt M. wieder ein, bis in vier Wochen, „jetzt sind Sie auch bald schon durch, nicht wahr“?

Das ist also Herr M., der sich bewährt. „Es ist ein Erfolg, dass jemand so lange draußen ist, ganz ohne Straffälligkeit, nicht irgendwie mal ’ne Trunkenheitsfahrt oder Diebstahl oder ’ne Körperverletzungsgeschichte, das würde ich dann schon als ungünstig betrachten.“

Herr Schröder beschreibt Vorfälle genau gegenteilig zum Boulevard: Er entdramatisiert, „Körperverletzung gegen Polizeibeamte beispielsweise, oder mal ’ne Rempelei, oder so, unter Alkohol, dass man mal irgendwie jemand angerempelt hat, oder mal festgehalten hat, bedroht hat, oder solche Geschichten“, er beschreibt Taten wie die Täter, „ein Schubsen“, „bisschen mehr körperlich“, sagt er, wenn jemand einen anderen verletzt hat. Färbt das auf die Sprache ab, wenn man jeden Tag mit Straftätern zu tun hat? Oder übernimmt er bloß deren Perspektive, um sie zu unterstützen, damit sie aufhören, Täter zu sein?

Dann sagt er noch: „Ich sehe jetzt auch nicht die Aufgabe, das, was Herr M. sich aufgebaut hat, zu torpedieren, zu sagen, das ist aber nicht viel.“

Wie war das früher, hat er ihn mal gefragt, Herr M., was war da? „Ich habe wie verrückt gelebt“, sagte Herr M.

Herr Schröder holt jetzt M.s Akte, Behördendeutsch, Gerichtsurteilsdeutsch, „Versuchter Totschlag, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Selbstladepistole, Freiheitsstrafe acht Jahre“. Dann eine kleine Reise durch das Vorleben des Herrn M., oder durch das, was in der Gerichtsakte noch davon übrig ist, Herr Schröder blättert da mal durch: „In der Türkei am Mittelmeer geboren, Abschluss 9. Klasse, Verkäufer, Lagerarbeiter, Maschinenführer, Schlosser, begann, sich in Musikcafés zu beschäftigen, wollte eins eröffnen, dann Streitigkeiten um den Pachtvertragsentwurf, bediente sich eines Bekannten, der schon einmal wegen unerlaubten Waffenbesitzes bestraft worden war, um seinen Forderungen Ausdruck zu verleihen, fühlte sich bedroht, verschaffte sich zum Schutz eine Schusswaffe, Marke Ceska, 18 Patronen, am 31. Dezember ein Zusammentreffen, Bedrohungen, Schläge, Ehrverletzung und Demütigung gegen M., zwei Tage später verließ er die Wohnung, trank sechs Flaschen Bier, schniefte vier bis fünf Linien Kokain, Einsichtsfähigkeit und Hemmungsvermögen erheblich eingeschränkt, gegen 16 Uhr, fragte nach einem gewissen Herrn Ü., fragte nach Herrn T., wollte sich für die erlittenen Demütigungen Genugtuung verschaffen, für die Ehrbeschmutzung, Blutalkoholkonzentration 1.0 Promille, zog die Waffe, lud sie durch und entsicherte sie, wartete zehn Minuten auf das Eintreffen der erwarteten Person, verbale Auseinandersetzungen, gab sich mit den Worten und Entschuldigungen nicht zufrieden, da löste sich ein Schuss, die Kugel durchschlug die bis zum halben Oberschenkel reichende lange Lederjacke des Geschädigten und den Oberschenkel, bevor sie durch die Hinterseite der Lederjacke drang, der Getroffene fiel zu Boden, und dann war’s das eigentlich.“

„So eine Rachegeschichte“, sagt Herr Schröder, und macht die Akte wieder zu.

Mit der „So eine Rachegeschichte“ hat Herr M. sein Leben zerschossen, aus nichtigstem Grund. Scheidung, acht Jahre geschlossener Vollzug. Gehen Sie zurück auf Los.

Dann, 14 Uhr, kommt Herrn Schröders ältester Proband, Herr L., über 70, längeres graues Haar, groß, massig, braungebrannt und zahnlos, eine Art Gärtnerjacke, L. mehr so der Typ freundlich-kauziger Opa. „Wie geht’s, Herr L.?“ „Gut geht’s, immer besser.“

Herr L. kommt gerade vom Obi

Herr L. hat eine Plastiktüte dabei, kommt gerade von Obi, will endlich seinen Spülkasten reparieren, hier, die Ersatzteile. Antrag auf Schwerstbehinderung ist auf dem Weg, Gicht, Gelenkschmerzen, Pflegestufe 0, rechnet er Herrn Schröder hoch an, dass er dabei geholfen hat.

„Und wie geht es mit den Nachbarn, Herr L.?“

„Tja, ich stehe hinter der Hecke und freue mich, dass es denen schlecht geht“, sagt Herr L., „der eine, der die Fäden in der Hand hatte, als sich alle gegen mich verschworen haben, ist sehr krank, da freu’ ich mich. Der andere, der gesagt hat, ich hätte den Jungen gewürgt, der dritte, der meinte, ich hätte die Scheibe eingeschlagen, alle der Reihe nach verstorben, und da freu’ ich mich. Auch der, der behauptet hat, ich hätte ihn fast umgefahren. Jetzt ist Ruhe.“

„Wenn ich das alles wirklich angestellt hätte“, sagt Herr L., „da müsste ich ja verrückt sein.“

Dann packt Herr L. seine Sachen wieder, und zieht weiter, er muss noch was besorgen. Auf Wiedersehen Herr L., und keep taking your pills!

Herr L., fünf Jahre Führungsaufsicht, mehr als 500 Verfahren gegen ihn angestoßen, 40 Fälle von Nötigung, Beleidigung, Bedrohung aktenkundig. Leidet unter einer paranoiden halluzinatorischen Psychose, wird bei einem Schub querulatorisch, aggressiv, mit stundenlangen Schimpftiraden gegen seine Nachbarn, die er verdächtigt, sich gegen ihn verschworen zu haben. Erste Vorfälle in den 1970ern, erste Einweisung 1992, 1997 Geldstrafe wegen Beleidigung, dann vorsätzliche Körperverletzung und Beleidigung, noch mal Einweisung in eine psychiatrische Klinik.

Ziemlich volles Programm also bei Herrn L., aber protektive Faktoren: Er ist über 70, die Gicht, er wird medikamentiert, einmal wöchentlich hat er sich bei einer Ärztin zu melden, und wenn er dort nicht auftaucht, wird Herr Schröder verständigt. All das hilft ihm, sich zu bewähren, auch wenn er nicht weiß, dass er es tut, oder so tut, als wüsste er nicht, „da müsste ich ja verrückt sein“.

Jetzt aber zurück zu denen, die wie verrückt gelebt haben oder es immer noch tun. So wie Herr K., Fahren ohne Fahrerlaubnis, auf Bewährung draußen. Käppi, Turnschuhe, rotblond, sehr dünn, norddeutsch, hibbelig, raue Stimme. Herr K. ist gleich dran, 15 Uhr Termin, „einen Moment dauert’s noch, wir sind gleich soweit!“, weil jetzt erst noch kurz Rückblende, zum letzten November: Da war Herr K. angeklagt, Verhandlungstermin Amtsgericht Tiergarten. K., Vorstrafen lange Latte, 22 Eintragungen im Bundeszentralregister, das meiste als Teenager, Beschaffungskriminalität, als er fünf Jahre heroinabhängig war. Seit 2013 ist er clean, und schafft es, clean zu bleiben, arbeitet, bei BMW, Qualitätskontrolle.

„Also, Herr K., Fahren ohne Fahrerlaubnis“, die Anklage hat das Wort, K.s Freundin sitzt in der Zuschauerbank, „eine einschlägige Vortat, sieben Mal bereits, als Sie am 14. Februar von der Polizei angehalten wurden.“

Leugnen ist zwecklos, also gesteht K. und lässt sich ein. Seine Freundin hatte eine Anspielung gemacht, Valentinstag, noch kein Geschenk, da hat er nicht zweimal nachgedacht, überhaupt nicht nachgedacht eigentlich, sondern heimlich den Autoschlüssel vom Haken genommen, ab zum Ku’damm. Die Staatsanwältin findet: Was für ein nichtiger Grund, und fordert Freiheitsstrafe, „man hat Sie bis jetzt mit Samthandschuhen angefasst“.

Die Richterin ist da romantischer, Valentinstag, ohne Geschenk, das ist gewiss kein nichtiger Grund, wenn auch der Notlage nicht genug für einen Freispruch. Andrerseits, K. aus der Arbeit zu reißen, ihn jetzt in den geschlossenen zu schicken, wäre auch nicht im Sinne des StGB, quasi de-sozialisieren, um ihn dann zu re-sozialisieren.

Herr Schröder ist bei Gericht erschienen, geladen war er nicht, aber er ahnte wohl, dass das für Herrn K. von Vorteil sein könnte, „ah, der Bewährungshelfer, sehr gut, dass Sie auch gekommen sind. Was können Sie uns zu Herrn K. sagen?“

Herr Schröder, schlauer Fuchs, poltert jetzt erst mal ein bisschen, er sei enttäuscht, K. habe nur noch sechs Monate Bewährung gehabt. Erst mal den Widerstand im Gericht aushebeln, gegen „Sozialarbeitergerede“, kennt man ja, kennt er nur zu gut, jetzt kommt der mit der Kindheit und so. Stattdessen mimt er zunächst den Gestrengen, trägt tough auf, bisschen taktisch. Weil, dann kommt auch gleich die Frage: Und was können Sie uns Gutes über Herrn K. erzählen? So serviert Schröder auf Aufforderung die „sehr gute Sozialprognose“ von Herrn K., lässt sich dessen Leistung, vom Heroin weg zu sein, aus der Nase ziehen, den Umstand, dass er eine Freundin hat, Steuern zahlt, besser kann man ja gar nicht „aufgestellt sein“.

Nach der Verhandlung, Urteil sechs Monate auf Bewährung, „Aber jetzt dürfen Sie sich wirklich nichts mehr erlauben!“, ist Herr K. sichtbar erleichtert, seine Freundin wischt sich Tränen aus den Augen. Herr Schröder freut sich, haut K. auf die Schulter. „Gut, dass ich da war, sonst wären Sie vielleicht nicht so gut davon gekommen!“

Sechs Monate später kommt Herr K. nun in die Sprechstunde, 15 Uhr Termin, Käppi, Sneakers, dicke rote Kopfhörer. Herr Schröder hat gleich „ein Anliegen“, diese Geldstrafe, Ratenzahlung, haben Sie da Auskunft über Ihre Einkunftsverhältnisse gegeben, und zahlen Sie jeden Monat?

Ja, Herr K. hat, und ja, Herr K. zahlt.

Aber Herr K. hat jetzt auch noch ein Anliegen.

„Ab jetzt dürfen Sie sich nichts mehr erlauben!“

Sein Vater sei gestorben, im Februar. Also musste er alle zwei Wochen nach Lübeck pendeln, Trauerfeier, Beisetzung, am Ende Streit zwischen seinem Bruder und der Freundin des Vaters, wer zahlt für den Sperrmüll, den Umzug. All das ging K.s Freundin sehr nahe, auf dem Rückweg konnte sie nicht mehr weiterfahren, hielt am Pannenstreifen, Autobahn. „Sagt sie, fahr du, ich kann nicht mehr. Sage ich, ich kann nicht, ich darf nicht.“ Aber bis zum nächsten Parkplatz, das wird er doch wohl noch können. Also, erzählt Herr K., setzt er sich ans Steuer, sechs Monate auf Bewährung, „Aber jetzt dürfen Sie sich nichts mehr erlauben!“, nur bis zum Parkplatz, als ein Polizeiauto ihn überholt, neben ihm langsamer wird, vor ihm immer langsamer, also überholt er, aber die, machen das Licht an, bitte anhalten, Fahrzeugpapiere, Ausweis, hier bitte, Führerschein bräuchten wir auch noch, habe ich keinen.

Herr Schröder hat den Braten wohl schon gerochen, als der Vater gestorben ist, in Lübeck. „Wie viele Autos fahren denn wohl jeden Tag zwischen Berlin und Lübeck, 50 000, 100 000? Das ist ja wie ein Sechser im Lotto, dass genau Sie angehalten werden!“ Gewiss, wie ein Sechser im Lotto, nur umgekehrt, Herr K. hat schon bei der Arbeit nachgefragt, ob er aus dem offenen Vollzug weiterarbeiten könnte, ein paar Monate, aus der Nummer kommt er wohl nicht mehr raus, das ginge, keine Nachtschichten mehr, aber sonst okay.

Jetzt ist Herr K. ohnehin zerknirscht, da kann Herr Schröder ihm auch gleich ein bisschen ins Gewissen reden: Einen Plan B brauche Herr K. in solchen Situationen, zehn Minuten überlegen, nicht einfach gleich los, sondern nachdenken, geht es nicht doch auch irgendwie anders? Jemanden anrufen, ihn, Schröder, oder den ADAC.

Gewiss, das sieht auch Herr K. ein: „Hätte ich tatsächlich auch anders machen können.“

Vielleicht schafft er es beim nächsten Mal, sich zu bewähren, Proband K., der sich jetzt verabschiedet, ja, wenn ich Post bekomme, melde ich mich, Wiedersehn.

Und, Herr Schröder, glauben Sie denn, was Herr K. Ihnen erzählt? An den Sechser im Lotto?

„Die Frage, ob das richtig oder falsch ist, stelle ich mir gar nicht. Selbst wenn jemand lügt: Das zu sanktionieren bringt ja gar nichts, also gehe ich mit, baue mit. Besser, es gibt eine Gesprächssituation, wo einer merkt, oh, das zieht nicht mehr, jetzt ist das Kartenhaus zusammengebrochen.“

Wobei es auch Leute gibt, wo das zugegebenermaßen schwierig ist. Aber selbst dann glaubt Herr Schröder nicht an die schwarze Pädagogik, nicht ans Sanktionieren und ans Bestrafen, die Leute sind ja schon bestraft worden. Nicht deshalb, weil er Sozialarbeit studiert hat, Wollpulli immer noch Fehlanzeige, nicht deshalb, weil er die Kindheit seiner Probanden einfach interessanter findet, als mal richtig zu sanktionieren, Hammer und so. Sondern weil er überzeugt ist, dass es mehr bewirkt, dass es anders gar nicht geht. Dass es der Bewährung dienlicher ist.

5650 Probanden gibt es derzeit in Berlin, 84 hat Herr Schröder, 84 mal Gerundivum, Verlaufsform, „die sich zu Bewährenden“: Begünstigung und Hehlerei 1, Beleidigung 8, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz 22, Betrug und Untreue 12, Diebstahl und Unterschlagung 20, Falsche Verdächtigung 1, Hochverrat 1, Geld- und Wertzeichenfälschung 1, Raub und Erpressung 22, Gemeingefährliche Straftaten 8, Sachbeschädigung 1, Straftaten gegen das Leben 8, gegen die öffentliche Ordnung 1, gegen die körperliche Unversehrtheit 40, gegen die persönliche Freiheit 13, gegen die sexuelle Selbstbestimmung 7, Urkundenfälschung 2, Wehrstrafgesetz 4, Widerstand gegen die Staatsgewalt 3.

Und welcher Typ Straftäter sind eigentlich Sie?

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Pepe Egger

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