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Jürgen Kaube, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Verantwortung für das Feuilleton.

© dpa

Bildung und deren Reform: Arbeiterkind und Akademikerenkel

Im "Salon Kufsteiner Straße" diskutierte Jürgen Kaube mit Gustav Seibt über Kaubes Essay-Band "Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems".

Bildung befähigt dazu, eigensinnig zu sein. Der Satz ist so schön wie einleuchtend, und Jürgen Kaube steht beispielhaft für die eigene These. Kaube, Ökonom, Soziologe, und seit Januar Herausgeber der "FAZ" mit Zuständigkeit für das Feuilleton, beschäftigt sich seit Jahren mit Bildungsfragen und lehrt selbst an der Universität. So vertraut mit den Sonderlichkeiten des Systems, benennt er diese auch.

Das wäre noch kein Eigensinn. Doch er verfällt dabei nicht in eine "Jeremiade", um es mit Kaube selbst zu sagen. Er spricht die gegenläufigen Anforderungen der Exzellenzinitiative an, ohne zu verzweifeln, erkennt ohne Kulturpessimismus zu verbreiten die Absurdität einer Schulpolitik, die vom G9 über mehrere Reformen zum G9 kommt, und macht Vorschläge, die reduziert, und gerade deshalb nachvollziehbar sind.

Im "Salon Kufsteiner Straße" hat Jürgen Kaube auf Einladung des Ehepaars Christiane und Lothar Pues mit Gustav Seibt, selbst Journalist und Wissenschaftler, über Fragen der Bildung gesprochen. Ein passender Rahmen, beruht der Salon im Bayerischen Viertel doch mit auf einer Initiative des verstorbenen Henning Ritter. Ritter leitete unter anderem die "Geisteswissenschaften" der FAZ und hat selbst ein Studium abgebrochen, worauf Seibt im Laufe des Abends verweist.

Wer kriegt die 4 in einer Hochbegabtenklasse?

Grundlage der Unterhaltung der zwei sich gewogenen Herren ist der Band "Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems", eine Sammlung von Essays, die Kaube zwischen 2006 und 2014 veröffentlicht hat. Seibt, als Gesprächsmoderator in der nicht einfachen Lage, mit jemandem zu diskutieren, dessen Meinung er meist teilt, packt die Frage der Chancengleichheit an, um Kaube "nicht nur zuzustimmen". Der zeigt dann, dass genaues Beobachten und großes Interesse nicht mit missionarischem Eifer einhergehen müssen, und dass deren Ergebnisse dann trocken, zuweilen ironisch vorgetragen, eine deutlich größere Wirkung entfalten können.

Notwendige Chancengleichheit in der Schule à la Kaube: Alle Schüler haben die Chance, dass 2+2=4 das richtige Ergebnis ist und der Lehrer nicht sagt, 2+2=5 ist für "einen aus deinem Milieu ganz gut". Das Publikum versteht’s und lacht.

Wer Chancengleichheit fordert, so Kaube weiter, sollte genau überlegen, was das heißt. Die Abschaffung von Hausaufgaben zum Ausschluss elterlicher Unterstützung ist da kein Witz, die Frage "wer kriegt eigentlich die 4 in einer Hochbegabtenklasse?" eine, über die man erstmal nachdenken muss.

Wohin eine Politik, die viele gleich macht, führt

Was geschieht in einem System, dem ein Teil der Notenskala nicht mehr zur Verfügung steht? Eine Politik, die viele gleich macht, kann zum amerikanischen System führen, sagt Kaube. Wenn das Abitur - wie den High-School-Abschluss - jeder schafft, wird an anderer Stelle umso härter geprüft, die unzureichende staatliche (Aus-)Bildung durch teure private ergänzt. Womit es das mit der Chancengleichheit dann wieder gewesen wäre.

Mit einem fundierten Misstrauen gegenüber den Soziologen-Kollegen kommt Kaube zu dem Schluss, dass viele Annahmen auf die große Menge der Schüler bezogen "zwar sehr kompakt aber letztlich falsch sind" und fragt: Was macht der Soziologe mit all seinen Annahmen über Schichtenzugehörigkeit und Gruppenbildung mit der Tatsache "dass ich Arbeiterkind und Akademikerenkel bin?".

Kanon oder kein Kanon?

Während im Blick auf die deutschen Hochschulen und besonders die Geisteswissenschaften Gustav Seibt kurzfristig das Grauen packt ("Bologna, das unmenschliche System!"), bleibt Jürgen Kaube pragmatisch. Das einzige  Buch, das wirklich alle Germanistik-Studenten gelesen hätten, ist Harry Potter? Dann sei es so, ein Kanon, wie Seibt ihn vorschlägt, überzeugt ihn trotzdem nicht. Die Auseinandersetzung mit konkreten Themen, lieber weniger als mehr, verschafft ausreichend Handwerkszeug, um sich künftig selbst neue Felder zu erschließen.

Was Kaube vielmehr erbost, sind "deutsche Professoren", die Seminare nur zur Rekrutierung des eigenen Nachwuchses abhalten, die restlichen 90 Prozent der Studenten aber gar nicht wahrnehmen – was besonders für die Lehramtskandidaten gilt.

Dabei sollte gerade den Lehrern weniger Hindernisse in Form von sich gegenseitig überholender Reformen in den Weg gelegt (gerade Berliner Lehrer dürften sich hier angesprochen fühlen). Wird die Vielzahl an Anforderungen an das Bildungssystem reduziert, kann das Ergebnis im Kern wieder besser werden, so die Überlegung.

Wer ist Immermann?

Wo niemand widersprechen dürfte: Erstens sollten "Menschenrechte und Gewaltfreiheit im Klassenzimmer eingehalten werden" – wofür es manchmal vielleicht zwei Lehrer brauche. Und diese Lehrer sollten "einen Stoff zum Unterrichten" haben, "ein stabiles inhaltliches Gerüst, auf das man sich auch als Lehrer verlassen kann".

Schon in den Schulen sei der Stoff zu gewaltig, der vermittelt werden solle. An der Uni steigere sich das noch. Da werde der Professor schon nervös, wenn der Student nicht wisse, wer Immermann sei. Pause. Ein leichtes Zucken im Publikum. Immermann? "Ich kenn’ auch nur den Namen", sagt Kaube.

Karl Immermann ist ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Gebildet sein heißt eben nicht, alles wissen zu müssen.

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