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Vor dem Gitter. Anwohner Ole Spaarmann lebt seit Tagen unter Polizeibewachung.

© Mike Wolff

Drama um Flüchtlinge in Berlin-Kreuzberg: Ein Kiez lebt unter ständiger Polizeikontrolle

Polizisten sind angespannt, Anwohner genervt. Hier erzählt der Kreuzberger Ole Spaarmann, ein Nachbar der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule, wie er den Belagerungszustand erlebt. Ein Protokoll.

Zum Beispiel Donnerstagabend in der Wiener Straße, Ecke Lausitzer. Ich stand vorm Kaffeehaus Quitte auf dem Bürgersteig, im Fernsehen lief Deutschland gegen USA. Als um Viertel vor sieben die Halbzeitpause begann, gab es Schreie von der anderen Straßenseite. Ich sah, wie behelmte Polizisten auf sitzende Demonstranten losstürmten. Einige wurden umgeschubst, anderen ins Gesicht geschlagen. Ich war schockiert, und das Beste, das mir einfiel, war, die Szene mit dem Telefon zu filmen.

Die Menschen, die dort auf der Straße hockten, waren keine gewaltbereiten Demonstranten. Das war eine bunt gemischte Gruppe harmloser Leute, darunter etliche Anwohner, Schüler, junge Frauen in bunten Röcken, Kreuzberger Altlinke. Zwei Passantinnen, vielleicht um die 40, standen bloß mit ihren Fahrrädern in der Nähe, die gehörten überhaupt nicht dazu. Beamte haben sie trotzdem umgestoßen, und ich hab’ mich gefragt: Was ist hier eigentlich los?

Die Frage stelle ich mir öfter in diesen Tagen. Seit sich am Dienstag ein paar Dutzend Flüchtlinge geweigert haben, die Gerhart-Hauptmann-Oberschule freiwillig zu verlassen, befindet sich mein Viertel im Ausnahmezustand.

Ich bin Programmierer, meine Büro-Gemeinschaft liegt in dem abgesperrten Bereich rund um die Schule, meine Wohnung etwas außerhalb. Wenn ich also morgens zur Arbeit will, muss ich erst mit den Beamten an den Absperrungen diskutieren, damit ich überhaupt durchgelassen werde. Ein einzelner Polizist begleitet mich dann direkt bis vor die Haustür. Kundenbesuch kann ich nicht empfangen, einem Handwerker mussten wir absagen, meine Arbeit und die meiner Kollegen ist im Grunde unmöglich geworden. Die Ladenbesitzer in den betroffenen Straßen trifft es natürlich viel schlimmer. Sie verkaufen gar nichts mehr. Das ist nervig, aber nicht so unglaublich wie das Verhalten einiger Polizisten.

Auf der anderen Seite. Vor dem Gitter haben sich Unterstützer der Flüchtlinge niedergelassen.
Auf der anderen Seite. Vor dem Gitter haben sich Unterstützer der Flüchtlinge niedergelassen.

© Mike Wolff

Ich gehöre keiner Partei an, würde mich aber als links-liberalen Menschen bezeichnen. Mir geht es jedoch nicht um politisches Lagerdenken, sondern um meine Fassungslosigkeit als Anwohner. Und ich hätte nie geglaubt, dass so etwas möglich ist: wie martialisch auftretende Polizisten hier ein Gefühl von Unsicherheit verbreiten. Einige laufen tatsächlich mit Maschinenpistolen herum. Ich verstehe das nicht: Auf wen wollen die eigentlich schießen?

35 Polizeiwagen hintereinander

Am ersten Tag habe ich noch die Polizeiwannen gezählt, die hintereinander an mir vorbeifuhren. Es waren 35, alleine in der Lausitzer Straße. Wer die Polizisten in Kampfmontur sieht, muss glauben, es handele sich hier um einen Anti-Terror-Einsatz oder eine Geiselbefreiung - aber nicht um eine Aktion gegen einen Haufen verzweifelter Menschen, die ein Bleiberecht in Deutschland verlangen.

Die Teilnehmer der Sitzblockaden verhalten sich nicht aggressiv. Ich habe Mädchen gesehen, die Violine oder Querflöte spielen. Es wird viel gesungen. In der gesamten Woche habe ich noch keinen Flüchtling und keinen Unterstützer beobachtet, der zu Gewalt aufgerufen hätte. Im Gegenteil: Ständig wird betont, dass man hier friedlich protestieren will und dass man auf keinen Fall anderen Menschen schaden wolle. Dass einige Flüchtlinge mit Selbstmord drohen, unterstreicht für mich nur ihre Verzweiflung.

Als Kreuzberger bin ich Demonstrationen und Polizeieinsätze gewohnt. Aus der Ferne kann ich oft schwer einschätzen, wer nun gerade wen provoziert hat und wer schuld ist an der Eskalation. Nach fünf Tagen Ausnahmezustand vor meiner Haustür muss ich sagen: Die Aggression geht – meiner Wahrnehmung nach – eindeutig von der Polizei aus.

Die Beamten an den Absperrungen sind friedlich

Damit meine ich nicht die Beamten direkt an den Absperrungen, die habe ich durchweg als freundlich erlebt. Sondern Beamte in Kampfmontur, die hier regelmäßig friedliche Demonstranten wegschubsen und auch beleidigen, in Menschenmengen reindrängen, mehrfach schon Pfefferspray eingesetzt haben, weinenden Frauen mit den Fingern in Augenhöhlen greifen und sie wegzerren. Ich verstehe nicht, warum Polizisten Berliner Bürgern „Halt’s Maul“ entgegenschreien sollten. In den vergangenen zwei Jahren bin ich fast täglich an der besetzten Schule vorbeigelaufen, habe mich nie unsicher gefühlt. Jetzt sehe ich Greiftrupps, die Demonstranten einkreisen, gegen Häuserwände drängen und dann minutenlang mit Scheinwerfern anstrahlen.

Hätte mir jemand vor zehn Jahren erzählt, dass eine grüne Bezirksbürgermeisterin mit 900 Polizisten einen halben Kiez in Kreuzberg lahmlegt, um ein von Flüchtlingen besetztes Gebäude abzusperren, ich hätte es nicht geglaubt. Falls die Polizei tatsächlich einen Grund hat, hier auf offener Straße mit Maschinenpistolen aufzutreten, sollte sie den uns Anwohnern bitte schön erklären.

Protokolliert von unserem Autor Sebastian Leber.

Ole Spaarmann

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