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Heimat auf Zeit. Die Protestierenden sollen ihre Zelte, die bisher in der Brüsseler Kirche standen, nun abbauen.

© Christophe Bortels

Kampf der Flüchtlinge in Europa: Der Oranienplatz ist überall

Nicht nur in Berlin wird spätestens seit dem Camp auf dem Oranienplatz über Flüchtlinge debattiert: In ganz Europa kämpfen Betroffene mit teils illegalen Methoden für ein besseres Leben.

Auch hier haben sie gekämpft. Acht Monate lang. Samir Hamdard sitzt als einer der letzten noch an dem eckigen Tisch mitten in der Johannes-der-Täufer-Kirche im Brüsseler Szeneviertel Sainte Catherine. Links von ihm sind die Zelte aufgebaut. Er ist einer von 20 Afghanen, die seit September in der Kirche campen. Sie protestieren für ein Aufenthaltsrecht in Belgien, für ein Recht auf Asyl. Von den Flüchtlingen am Oranienplatz in Berlin hat Hamdard gehört. Einmal, glaubt er sich zu erinnern, habe er mit einem Aktivisten telefoniert. Aber vielleicht war das auch eine der anderen Aktionen. In Hamburg, in Wien, auf Lampedusa. Die Flüchtlinge am Oranienplatz sind nur eine Bewegung unter vielen in Europa. Ein paar von vielen Schicksalen.

Hamdard hat gerade seine eigene Niederlage zu verkraften. Die Besetzung der Kirche nämlich soll nun enden, so hat es der Kirchenrat beschlossen. In den vergangenen Monaten hatte die Bewegung ihre politische Relevanz nach und nach verloren. Von 400 Aktivisten, darunter Familien mit Kindern, blieben nur zwei Dutzend. Daniel Alliet, der Priester der römisch-katholischen Gemeinde, hatte Bedenken, ohne konkrete Aktionen werde die Kirche zum Obdachlosenheim. Die Flüchtlinge müssen raus. Bleiben wird ein Info-Stand.

Das System O-Platz, es ist oft zu finden in Europa. Im Gedächtnis geblieben ist etwa Mohammad Hassanzadeh Kalali, der iranische Asylbewerber, der sich aus Protest in Würzburg gemeinsam mit anderen Aktivisten den Mund zunähte. Der 500 Kilometer lange Marsch der Asylbewerber durch ganz Deutschland, der Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor und schließlich die Besetzung des Oranienplatzes. Nicht wenige Politiker empfanden die Aktionen als Erpressung. Nicht nur in Deutschland.

Mit Flüchtlingen lässt sich keine Wahl gewinnen

Auch bei Hamdard und seinen Mitstreitern hat sich ein Satz besonders ins Gedächtnis gebrannt. Als die Afghanen einen Protestmarsch zum Wohnhaus von Maggie de Block, der belgischen Staatssekretärin für Asyl und Integration, organisierten und auf ein Bleiberecht pochten, ließ sie mitteilen: „Gesetz ist Gesetz.“ Und das belgische Gesetz besagt, dass bestimmte Regionen Afghanistans sicher sind, etwa die Hauptstadt Kabul. Für ihre strikte Haltung wird die flämische Liberale in Brüssel, Europas Hauptstadt, geliebt und gehasst. Wie Berlins Vize-Bürgermeister Frank Henkel, der sich von der Jungen Union für die Räumung des Oranienplatzes feiern lassen kann und dem der Hass der Antifa für sein Ansehen im eigenen politischen Lager nur nützt. Mit dem Einschreiten für Recht und Ordnung lässt sich Wahlkampf machen. Einfach, weil es Menschen gibt, die einen dafür wählen können. Aber Wahlkampf für die Belange der Flüchtlinge?

„Sie können nicht wählen gehen, und mit ihnen lässt sich kein Geld verdienen“, sagt Anneliese Baldaccini von Amnesty International. Sie setzt sich trotzdem ein. Für Amnesty hält sie Kontakte zu den Institutionen der EU, um etwa bei der Asylgesetzgebung Verbesserungen zu erzielen. Ohne den Druck der Straße, ohne O-Platz, ohne Demos, sagt sie, sei der Kampf aussichtslos. „Wir brauchen die Proteste, damit das Thema auf der Agenda bleibt.“ Auch die illegalen? Die Besetzungen? Protestmärsche, die schon deshalb nicht erlaubt sind, weil die Teilnehmer gegen ihre Residenzpflicht verstoßen?

Ja, sagt Cornelia Ernst, die für die Linkspartei im Europaparlament sitzt. „Man muss die Flüchtlinge ja nicht hier haben wollen. Aber man darf sie auch nicht an der Grenze sterben lassen.“ Schon um den sozialen Frieden zu wahren, müsse man die Bedingungen für Asylsuchende verbessern. Natürlich, fügt sie hinzu, werde Asylpolitik aber nicht das Hauptwahlkampfthema der Linken für die anstehende Europawahl.

„Flüchtlingsproteste sind sehr lokal und kurzfristig gedacht“

All das zeigt, dass selbst die Unterstützer der Asylsuchenden nicht recht wissen, wie die Flüchtlinge ihre Forderungen auf legalem Weg erstreiten könnten. Zwei Etagen über Ernst hat Franziska Keller ihr Büro im Europaparlament. Gerade ist die Brandenburgerin zur Spitzenkandidatin der europäischen Grünen gewählt worden. Ob das Flüchtlingsthema im Wahlkampf zieht, bezweifelt auch sie. „Aber wir machen es trotzdem“, sagt Keller. Die Proteste am Oranienplatz oder die Besetzung der Kirche in Brüssel findet sie wichtig. Auch Keller hatte in ihrem EU-Wahlkreis in Bitterfeld ein Protestcamp von Flüchtlingen. Nur spürbaren Erfolg verspreche das eben nicht. „Flüchtlingsproteste sind sehr lokal und kurzfristig gedacht“, sagt sie. Dazu sind Proteste und Forderungen so heterogen wie die Flüchtlingsgruppen selbst.

Keller hat die großen Linien der Asylpolitik im Blick. Eine menschenwürdige Politik an den EU-Außengrenzen, schnellere Asylverfahren, einheitliche Qualitätsstandards in den Mitgliedsländern. Selbst Amnesty International erkennt an, dass das EU-Parlament auf diesen Gebieten mit dem neuen Asylpaket viele Verbesserungen erwirkt hat. Doch die Hoffnungen der Flüchtlinge, ob in Brüssel oder in Berlin, sind konkreter. Sie wollen bleiben dürfen, nach teils Jahren der Flucht und Heimatlosigkeit. Sie wollen arbeiten, zur Schule gehen, frei sein – und zwar jetzt. Sie wollen all jene Rechte, die außerhalb der Zuständigkeit der Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann liegen. Rechte, die Dilek Kolat den Flüchtlingen im Namen des Senats nicht versprechen konnte. Rechte, die auch die EU für sie nicht vorsieht.

Auch wenn Hamdard die Kirche in Brüssel verlassen muss, soll der Protest weitergehen. Dann könnte es auch ein erstes echtes Treffen mit den Aktivisten vom Oranienplatz geben. Zum nächsten Gipfel des Europäischen Rates am 26. Juni soll es einen Flüchtlingsmarsch nach Brüssel geben. Mit Aktivisten aus möglichst vielen Mitgliedsstaaten. In der Stadt der Lobbyisten, heißt es bei den Flüchtlingen, müsse es doch möglich sein, seine eigenen Interessen zu vertreten.

Der Text entstand im Rahmen des Austauschprogramms „Nahaufnahme“; initiiert vom Goethe-Institut.

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