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Große Liebe. Die Cuvrybrache bewegt viele Berliner - und das schon seit Jahren.

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Vom Ausflugsort zur Favela von Berlin-Kreuzberg: Die spannende Geschichte der Cuvrybrache

Die Besitzerchronik der Cuvrybrache erzählt 400 Jahre Berliner Stadt- und Kulturgeschichte: Vom grünen Naturidyll und Spielplatz Felix Mendelssohn Bartholdys zum Spekulantenfilet, Schnapslager, Chaosort.

Für Lea Salomon ist ihr Landhaus jenseits der Stadtmauern das bezaubernste Refugium Berlins. „Der liebliche ungestörte Anblick der schönen Natur gibt meinem Herzen das reinste Vergnügen“, schreibt die 22-Jährige im Juli 1799 schwärmerisch an einen befreundeten Pastorensohn, der sie in dem „kleinen Paradiese“ an der Spree besuchen soll: „die milde Jahreszeit, der Genuss heiterer, freier Luft, ein herrliches Leben in dem reizendsten Garten, gesellige Freuden“.

Was die geborene Berlinerin da schildert, ist eine weitläufige Anlage vor dem Schlesischen Tor, heute Kreuzberger Terrain. Ein Teil davon als „Cuvrybrache“ berüchtigt – unter den Schlagworten Besetzerchaos, Brandstiftung, Räumung. Krasser als der Kontrast zwischen dem Wohlergehen einer bildungshungrigen Naturliebhaberin und der Verwahrlosung des Geländes wäre Epochenwandel an diesem Ort kaum zu inszenieren.

„Denken Sie sich die dichtesten, kühlsten Schatten ehrwürdiger Kastanienbäume, Linden und Platanen“, preist die Stadtflüchterin vor 215 Jahren gegenüber dem Freund ihr Sommervergnügen. „Hohe, gewölbte Laubengänge; freundliche runde Plätze und niedliche Lusthäuser; eine Fülle von Florens und Pomones Schätzen, wie von Küchengewächsen und Treibhäusern. Rechnen Sie dazu ein kleines, bequemes, ländliches Wohnhaus, an dem sich Weinstöcke, Maulbeeren und Pfirsichbäume hinaufranken, und in dem ich ein nettes, aber höchst einfaches Zimmerchen besitze: mein Klavier, Bücherschrank und Schreibpult.“

Berlin war eine verschnarchte Residenzstadt

Berlin allerdings ist zur Zeit Fräulein Salomons weniger gefühlte Weltstadt als verschnarchte Residenz: Weshalb die junge Dame gegenüber ihrem weit gereisten Briefpartner „unsere langweilige Einförmigkeit“ meint verteidigen zu müssen, auch ihre Freude an der Spiegelung „lachender grüner Ufer in klarer Flut; ich träume mir mein Arkadien, und ich bin in meiner beschränkten Mittelmäßigkeit sehr glücklich.“ Ihr „Mittelmaß“ besteht freilich auch darin, dass der eben verstorbener Großvater Daniel Itzig, Sohn eines Pferdehändlers aus Grätz bei Posen, seinen 13 Kindern umgerechnet zehn Millionen Euro vermacht hat, sowie seiner Enkelschar eine dicke Familienstiftung.

Lea Mendelssohn Bartholdy
Lea Mendelssohn Bartholdy

© bpk

Zum neuen Arkadien, jenem Sehnsuchtsort des Goldenen Zeitalters, wo das Leben jenseits aller Gesellschaftszwänge möglich wäre, ist dieses interessante Bauland bis heute nicht geworden: Jüngste Superlativzuschreibungen reichten von „Deutschlands erster Favela“ bis zu „einzigartiger Wasserblick für Luxuswohnungen“. Die Nutzungsdispute kreisen immerhin um Probleme benachteiligter Minderheiten, der Obdachlosen, der Zigeuner und anderer Migranten. Tatsächlich waren es Zuwanderer, die das Kommen und Gehen der heute vergessenen Cuvry-Viertel-Besitzergeschichte geprägt haben, Edelausländer oder bedarfsweise als nützlich eingestufte Minoritäten: im Wechsel mit erwerbsfrohen Staatsdienern und unter Beteiligung der Kommune, die das Terrain mehrfach besaß und versilberte.

Ende des 16. Jahrhunderts beginnt die Erschließung

1579 beginnt die Erschließung der Topografie, als der Cöllner Magistrat vor dem Schlesischen Tor eine Schäferei mit Meierei anlegt. Das Anwesen erwirbt Bürgermeister Bartholdy 1648, es entstehen weitere Gartenhäuser und Wirtschaftsgebäude. Sein Sohn Christian Friedrich Bartholdy, der als Gesandter in Wien um 1700 durch geschicktes Verhandeln dazu beigetragen hat, dass Preußen die Königskrone erhält, baut den Betrieb am Fluss inklusive Windmühle aus; später wird er Staatsminister.

Nach Bartholdys Tod 1714 verkaufen Erben die Meierei zurück an den Magistrat: Mittlerweile gehören dazu eine Brauerei, eine Schnapsdestille, Ställe für Viehzucht sowie Baum- und Küchengärten. Anfangs verpachtet die Stadt den ländlichen Komplex, bis sich 1771 der Käufer Daniel Itzig meldet.

Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy lernte hier Klavier

Blitzblank. Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy war in seiner Kindheit im späteren Kreuzberg.
Blitzblank. Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy war in seiner Kindheit im späteren Kreuzberg.

© dpa

Brandenburgs Juden waren erst 1573 zum dritten Mal „für alle Ewigkeit“ vertrieben worden; 1671 hatte die Geschichte der hiesigen Jüdischen Gemeinde mit dem „Ansiedlungsprivileg“ für zwei jüdische Familien aufs Neue begonnen. Itzig, der geborene Berliner polnischer Herkunft, ist als Hoffaktor in zwei Jahrzehnten zum mächtigsten Juden Berlins aufgestiegen. Ab 1752 hat er die preußische Münze beliefert, war auch aufgrund minderwertiger Prägungen, die mit dem König abgesprochen waren, reich und ein verhasster Mann geworden. Während er sein Palais an der Burgstraße ausbaut, ernennt ihn Friedrich II. 1764 zum „immerwährenden Oberlandesältesten der Judenschaft in Preußen“.

Nach der Bartholdischen Meierei kauft Itzig 1773 den nahen „Luisenhof“ an der Köpenicker Straße (heute Nr. 185 bis 188 und Nr. 8) innerhalb der Stadtmauern: ein Gelände zwischen heutiger Zeughaus- und Wrangelstraße, das über die Köpenicker Straße bis zur Spree geht. Mit Riesengarten, Wirtschaftsbauten und einem Haupthaus, das der aufgeklärte Kulturförderer aufstockt und mit Freitreppe versieht. Dazu ein Freilufttheater, Bogengänge, Statuen, Plantagen. Vom Volk bezeichnet als Großer Judengarten, im Stadtplan als Itzigs Garten, vergleichbar nur dem Park von Sanssouci!

Als erster Jude hatte Itzig 1791 preußische Staatsbürgerrechte erhalten. Kurz nach dem Tod des Patriarchen 1799 wird das Prachtanwesen von einem Erben bankrottbedingt veräußert.

Die heutige Cuvrybrache fünf Fußminuten südöstlich ist zu diesem Zeitpunkt noch ein außerhalb der Stadtmauern gelegenes Fleckchen für Milchwirtschaft und Sommerfrische: Hier hatte die früh verwitwete Itzig-Tochter Bella Salomon mit Tochter Lea und deren Geschwistern viele heiße Berliner Sommer verbracht. 1805 lässt sich Sohn Jacob Levin karrierebedingt taufen, heißt nun Jacob Ludwig Salomon Bartholdy. Seine Mutter adaptiert zwar selbst diesen „Christennamen“, doch den Glaubensverrat verzeiht sie ihm lange nicht. Die Meierei des Gärtners Melchert nebenan hat Bella 1806 noch hinzugekauft, so dass nun der Gesamtkomplex der Meierei Bartholdy mit Feldern, Wiesen, Mühle, Müllerhaus, vielen Wirtschaftsgebäuden und dem prächtigen Haupthaus zwischen Spree und heutigem Landwehrkanal, Lohmühlengraben und heutiger Falckensteinstraße 313 Morgen umfasst.

Flucht vor der Hamburger Zollfahndung

1811 muss Lea Salomon, die inzwischen den Bankier und Philosophensohn Abraham Mendelssohn geheiratet hatte und nach Altona gezogen war, mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern aus dem napoleonisch annektierten Hamburg vor der Zollfahndung fliehen: Übergangswohnsitz nach überstürzter Heimkehr an die Spree wird Mutter Bellas Meierei. Hier erhalten deren Enkel Fanny und Felix, die späteren Komponisten, bei Mama Lea wohl erste Berliner Klavierstunden, hier verbringt die Familie nach dem Bezug ihrer Stadtwohnung am Gendarmenmarkt die schönste Saison; hier entflieht Naturfreundin Lea dem City-Frust, während Gemahl Abraham, der passionierte Städter, sich angesichts ländlicher Öde mit einem Brauereiprojekt tröstet. Von hier aus besucht Felix die Schwimmschule des Generals Ernst Heinrich Adolf von Pfuel an der Köpenicker Straße.

Kulturgeschichte macht die Meierei, als das Ehepaar seine Kinder heimlich taufen lässt und Schwager Jacob empfiehlt, dem Namen Mendelssohn „zur Unterscheidung“ von der jüdischen Verwandtschaft ein „Bartholdy“ hinzuzufügen. Allerdings scheitert das Vorhaben des Vaters Abraham, den „Mendelssohn“ ganz abzustreifen – was er damit zu begründen sucht, es könne einen „christlichen Mendelssohn“ so wenig geben wie „einen jüdischen Confucius“. Diesen Assimilationsplan vereiteln seine Kinder: Das ungeliebte „Bartholdy“ nehmen sie zwar hin, doch den Namen des berühmten Großvaters Moses möchten sie nicht aufgeben.

Als solch ein Namenskonflikt bei den Mendelssohn Bartholdys hochkocht, steht die Meierei schon vor der Abwicklung. Bella Bartholdy (geb. Salomon) war 1824 gestorben; ihre Erben hatten die Sommerfrische an einen „lieben braven Mann“ veräußert, „der höchstens einzelne Stück Wiesen davon verkaufen wird“: Heinrich Andreas de Cuvry.

Cuvry ist Jurist, Kommunalpolitiker hugenottischer Herkunft – und nicht so zurückhaltend, wie die Vorbesitzer erhofft hatten. Er beginnt nach zwei Jahren, als das Vorkaufsrecht des Senats erloschen ist, sein Territorium zu stückeln und gestückelt zu verscherbeln: an einen Gastwirt, einen Zuckersieder, an den Kupferschmied und kommenden Walzwerkfabrikanten Heckmann, zuletzt auch an den Görlitzer Bahnhof. 1839 erhält die Schlesische Straße ihren Namen. An dem durch „Cuvrys Garten“ zum Fluss herabführenden „Grünen Weg“, der bereits zu Lebzeiten des Patrons (1858) Cuvrystraße genannt wird, stehen noch Ecke Schlesische (Nr. 17 bis 22) die alten Meiereigebäude. Nr. 15 wird die Adresse fürs barocke Herrenhaus de Cuvrys.

Nach der Wende kam auch der Yaam-Club

Zwischenmieter. Auch der Yaa.Club befand sich früher auf der Cuvryvbrache.
Zwischenmieter. Auch der Yaa.Club befand sich früher auf der Cuvryvbrache.

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Großbürgervillen reihen sich noch auf der Südseite der Schlesischen Straße aneinander, dazugehörige Gärten reichen jenseits der Straße bis zur Spree. In anderen Teilen des Geländes entstehen neue Straßen, Mietshäuser werden hochgezogen – eine expansive Entwicklung, der nach der Gründerzeit, zum boomenden Jahrhundertende, schließlich auch prächtige Landhäuser, Parks, verbliebene Handwerksbetriebe weichen sollen.

Badeanstalt für getrennte Geschlechter

Am unteren Sackgassenende, Cuvrystraße 52, lädt von 1895 bis 1922 eine kastellähnliche „Doppelbadeanstalt“, mit 100000 Mark Baukosten die bis dato teuerste ihrer Art in Berlin, zur geschlechtergetrennten Erfrischung. Cuvrys Gartenstück davor hat Stadtrat Theodor Sarre, ebenfalls hugenottischer Abstammung und Schwiegersohn des Fabrikanten Heckmann, um 1880 an den Branntweinbrenner Kahlbaum verkauft. Das Areal der heutigen Cuvrybrache setzt sich um 1910 aus den Parzellen Schlesische Straße 33/34 und Cuvrystraße 50/51 zusammen – für Buden oder Lagerhallen genutzt oder für „Baustellen“, wie ein Stadtplaneintrag lautet; jedenfalls nicht fest bebaut – schon damals offenbar ein Zwischenraum und Provisorium.

1933 ist Eigentümer des Geländes der Bier- und Spritkonzern Kahlbaum-Schultheiß; von 1940 bis 43 der „arisierte“ Kohlengroßhandel C. Wollheim, den einst Eduard Arnhold, der Industrielle, Wohltäter und Kunstmäzen, von der Gründerfamilie übernommen hatte. Ein Tiefkühlspeicher für die Inselstadt, dessen dicke Bunkerwandfragmente heute noch einen Riesenkrater umstehen, wird hier zur Nachkriegszeit ufernah verbuddelt. Aus dem Tümpelgrund der feuchten Kuhle, die das beseitigte Betonungetüm hinterlassen hat, schießt derzeit dschungelähnlicher Schilfwald empor.

Seit den 1990er Jahren wechseln die Eigentümer

Die mittlerweile so wild umkämpften 33 000 Quadratmeter rechtsseitig der Cuvrystraße gehörten bis 1993 der Dortmunder Rhenus AG, einem Containerunternehmen der Binnenschifffahrt. Jeweils eine Spekulationsdekade lang besaßen dann Immobilienfirmen das Gelände: erst die Berliner Bodentreuhand- und Verwaltungs-AG, schließlich die damals noch bundeseigene Industrieverwaltunggesellschaft IVG (Bonn). Während der 1990er Jahre residiert hier im Verzögerungsinterim der Yaam-Club.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zieht der Senat die Zuständigkeit an sich, da der Bezirk offenbar Investorenpläne blockiert. 2012 missglückt der Plan, das BMW-Guggenheim-Lab anzusiedeln, nun kommen die Besetzer. „Die Cuvrybrache soll nicht mehr bebaut oder kommerziell verwendet werden“, lautet deren Aufruf. „Soziale und kulturelle Bedürfnisse sowie das Bedürfnis nach Selbstentfaltung brauchen freie städtische Flächen, kostenlos und nicht kommerziell. Seit 15 Jahren steht das Gelände frei und ist Gemeinschaftsgut! Der Bebauungsplan für das Gelände stammt aus der Steinzeit des Neoliberalismus und gehört versenkt.“ Außerdem wird gefordert, dass die Brache Strom und Wasseranschluss erhalten solle, zur offenen Gemeinschaftsnutzung. „SO36 hat mal wieder die Schnauze voll von Gentrifizierung! Cuvrybrache für alle!“

Jetzt sind Wohnungen mit Wasserblick geplant

Aber die Münchner Nieto GmbH & Co. Verwaltungs-KG, der bislang letzte Eigentümer, plant mit dem Berliner Investor Artur Süsskind eine Entwicklung des Grundstücks. Das Modell der Architekten – Eigentums- und Mietwohnungen samt Kita und Supermarkt – schaut ähnlich aus wie so manch anderer Wasserblick-Komplex mit Balkonappartments. „Wir wollen eure Scheiße nicht“, schallt es aus den Reihen der Favela-Aktivisten, als Süsskind das Projekt im Sommer 2013 auf einem Podium des Bezirks und des Senats vorstellt. Der Grünen-Politiker Franz Schulz, seinerzeit Bezirksbürgermeister, proklamiert bei dieser Diskussion noch einmal die Freiflächenutopie à la Kreuzberg, wofür freilich der Finanzsenator das Filetstück ein weiteres Mal der Kommune einverleiben müsste. Noch ein Jahr später, im Herbst 2014, haben sich schließlich, nach Randale und sichtbarer Rattenvermehrung, die Anfangssympathien mancher Nachbarn gegenüber dem Besetzeridyll verflüchtigt.

Die stumme Kulisse für das zuletzt planierte, per Metallzaun gesicherte kahle Feld, geben zwei monumentale Graffitis ab, Angstfiguren des 21. Jahrhunderts auf Brandmauern angrenzender Nachbarhäuser: der gesichtslose Schlipsträger, gefesselt durch die Handschellen seiner verketteten Armbanduhren, und ein Robotergnom aus Science-Fiction-Welten. Die aktuelle Petition, das Kunstwerk zu erhalten – als „Statement zum Wandel der ehemals geteilten Stadt“ und Beitrag zu ihrer „kulturellen Identität“ - dürfte angesichts der Eigentümerpläne keine Chance haben. Offenbar wird dem Potenzial der speziellen Topografie und ihrer historischen Bespielung hier, wo ein faszinierender Querschnitt durch vier Jahrhunderte Stadt- und Industriegeschichte zu erkennen, zu erinnern wäre, kein Nutzungskonzept gerecht. Bei „beschränkter Mittelmäßigkeit sehr glücklich“ zu sein bleibt – in jeder Epoche, mit jedem Budget – die Berliner Herausforderung besonderer Art.

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