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Leyla Cakan im Oktober 2015 in Berlin.

© Georg Moritz

Spandauerin mit türkischen Wurzeln: "Warum wird nicht in uns bildungshungrige junge Immigranten investiert?"

Ihre türkische Familie und der deutsche Staat machten Leyla Cakan den Anfang in Deutschland schwer. Jetzt holt sie das Abi nach. Ein Porträt.

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was hält die Welt zusammen? Leyla Cakan stellt sich diese Fragen oft. Sie macht ihr Abitur nach, weil sie Antworten sucht. „Ich habe große Lust aufs Lernen“, sagt sie.

Es ist Nachmittag, Leyla Cakan kommt von der Schule und muss schnell mal was essen. Sie steuert einen Imbiss in den Spandau Arcaden an und bestellt Frühlingsrollen. „Meine Eltern wollten, dass ich es in Deutschland besser habe“, sagt sie und fasst ihr bisheriges Leben kurz zusammen: Als Neunjährige von den Eltern aus Anatolien zu Tante und Onkel nach Berlin geschickt, wo sie putzen und kochen muss. Die Grundschule in Neukölln ist die einzige Abwechslung. Obwohl sie kein Deutsch spricht, schafft sie auf Anhieb die vierte Klasse. Nach der sechsten Klasse verbietet ihr die Tante, weiter in die Schule zu gehen. Ihr Leben besteht fortan nur noch aus putzen und kochen für die Tante.

Statt Abi zu machen muss sie arbeiten

Zwei Jahre später läuft sie weg zur nächsten Polizeistation, die Beamten bringen sie in einem Jugendheim und später in einer betreuten Wohngemeinschaft für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge unter. Ihr Leben nimmt Fahrt auf. Sie geht wieder zur Schule und absolviert die Realschule mit guten Noten. Doch Abitur kann sie nicht machen, weil sie 19 Jahre alt ist und nicht weiß, wovon sie leben soll, wenn sie weiter zur Schule gehen würde.

Leyla Cakan fällt in eine Gesetzeslücke, über die der Tagesspiegel 2006 berichtet (damals tritt Leyla unter Pseudonym auf, auch ihr Foto zeigt sie nur von hinten): Unterstützung durch die Jugendhilfe wird nur bis zur Volljährigkeit gezahlt. Bafög für eine Ausbildung bekommt sie nicht, weil ihre Eltern nie in Deutschland gearbeitet haben. Arbeiten darf sie auch nicht, weil sie keine Arbeitserlaubnis besitzt. Ein Mitarbeiter im Jobcenter gewährt ihr schließlich gnädigerweise 699 Euro Sozialhilfe im Monat als Darlehen und drängt sie zur Lehre als Modenäherin.

Ihr Leben bleibt weiter im Vagen. Sie bekommt lediglich eine befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis – und auch die nur, weil sich die Härtefallkommission vehement für sie einsetzt. Als Modenäherin findet sie keine Anstellung, von ihren Jobs als Änderungsschneiderin kann sie nicht leben. Sie sattelt noch mal eine dreijährige Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin drauf.

"Ich gehe ständig an meine Grenzen"

Das Geld dafür muss sie sich selbst verdienen. Unterstützung stehe ihr nicht zu, weil sie ja schon eine Ausbildung habe, heißt es im Jobcenter. Also arbeitet sie morgens vor Schulbeginn zwei Stunden in einem Kiosk, abends kellnert sie. Sie arbeitet drei Jahre in einer Anwaltskanzlei, jetzt macht sie das Abitur nach. „Ich gehe ständig an meine Grenzen“, sagt Leyla Cakan. „Das müsste ich nicht, wenn ich gleich das Abitur hätte machen dürfen.“

Aus dem schüchternen, in sich gekehrten Mädchen ist eine selbstbewusst wirkende Frau geworden, die ihre Rechte einfordert. Sie hat eine kleine Wohnung in Spandau, ab und zu besucht sie ihre Familie in der Türkei. Seit Januar hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie könnte stolz auf sich sein.

Warum wird nicht in sie investiert?

Doch in ihren dunklen Stunden, von denen es nicht wenige gibt, sagt Leyla Cakan, kämen die Kränkungen hoch und die Sehnsüchte. Die Kränkung, damals als Ausländerin anders behandelt worden zu sein als deutsche Jugendliche, obwohl sie immer gute Noten hatte und bewiesen hat, dass sie ehrgeizig ist. „Deutschland braucht Jugendliche wie mich. Warum wird in uns nicht investiert?“ Das Darlehen, das ihr das Jobcenter 2006 gewährt hat für die Ausbildung zur Näherin, stottert sie mühsam ab.

Die Frühlingsrollen sind gegessen, Leyla Cakan schaut auf die Uhr. Die Hausaufgaben warten. Ihr Leben ist eine einzige Hetze, von Arbeit zur Schule zur Arbeit. „Meine Bestimmung ist es, Bildung nachzuholen“, sagt sie: das Abitur nachholen, Wissen nachholen, das Leben nachholen, das in ihren Träumen so anders sein könnte. „Vielleicht wäre ich jetzt die Juristin in der Anwaltskanzlei und nicht die Gehilfin“, sagt sie, und es klingt Trotz mit.

Auf keinen Fall dürfe man sich in ein „Loch der Hoffnungslosigkeit“ fallen lassen, diesen Tipp möchte sie den neuen Flüchtlingen unbedingt mitgeben. Und: Wenn man ein „Nein“ höre, dürfe man sich nicht abhalten lassen, an die nächste Tür zu klopfen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Tagesspiegel-Samstagsbeilage "Mehr Berlin". Andere Menschen, die wie Leyla Cakan in Berlin Asyl fanden, werden hier vorgestellt.

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