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Sommerfelds Aue. Heute in der Onkel-Tom-Straße, damals Spandauer Straße

© Bernhard Wiens

Frühes Beispiel des Neuen Bauens: Eine „Zigarrenkiste“ macht Karriere

„Sommerfelds Aue“ - das ist ein Ensemble aus vier Häusern an der Onkel-Tom-Straße mit integrierter Drehbühne, entstanden um 1923. Unser Leser deckt neue architektonische Erkenntnisse auf

Wer hat "Sommerfelds Aue" entwickelt, wer war der Architekt, wer führte den Bau aus? Das Ensemble aus vier Häusern liegt verschwiegen an der Onkel-Tom-Straße unweit des U-Bahnhofes (die Hausnummern in der Onkel-Tom-Straße sind 85, 87, 89, 91, die Straße hieß damals Spandauer Straße) und erregte doch zu seiner Entstehungszeit, um 1923, Aufsehen – unliebsames Aufsehen. Heute kommen mehr und mehr Details zum Vorschein und ergeben ein rundes Bild, das sich nur noch nicht herumgesprochen hat: Sommerfelds Aue ist ein Juwel der Moderne. Als damals schon bemerkenswert galten die Drehbühnen in zwei der vier Häuser, und als Urheber des Ensembles treten, im übertragenen Sinn, drei Figuren auf die Bühne: Richard Neutra, Erich Mendelsohn und Adolf Sommerfeld.

Die zweigeschossigen Häuser muten mit ihren Flachdächern kubisch an, obwohl die Grundrisse rechteckig sind. Horizontale Mauer- und Fensterbänder sind asymmetrisch gegeneinander versetzt. Durch zurückspringende Ecken und vorspringende Balkone bei glatt verputzten Fassaden wirken die Häuser wie aus übereinander gelagerten Flächensegmenten zusammengesetzt. Aus den Flächen ergibt sich ein Raumbild. Prägend sind die ochsenblutfarbenen Putzbänder aus Riffelputz. Von zwölf vorgesehenen Häusern sind vier gebaut worden.

Die Häuser tragen die Handschrift Erich Mendelsohns. Das mag dazu verleitet haben, ihm die Entwürfe zuzuschreiben. Aber mit der Architektur ist es wie mit alten Maler-Werkstätten. Die Autorenschaft ist bei größeren Projekten nicht immer eindeutig. Mendelsohn holte 1921 Richard Neutra aus Luckenwalde in sein Berliner Büro. Beide waren mit Werken in Luckenwalde vertreten, darunter Mendelsohns epochemachender Bau der Hutfabrik. In Berlin ging der jüngere Richard Neutra bei mehreren Vorhaben seinem Mentor zur Hand, so beim Umbau des Mosse-Hauses. Für Mendelsohn kam in Berlin der Durchbruch, wovon heute noch - oder wieder - der Komplex am Lehniner Platz zeugt, der die „Schaubühne“ beherbergt, oder der expressionistische Einstein-Turm in Potsdam. Hier war Neutra an der Gestaltung des Gartens beteiligt.

In Zehlendorf zeichnet Mendelsohn noch für das Landhaus Bejach in Steinstücken verantwortlich. Die Planungen für Sommerfelds Aue gab er jedoch an seinen gelehrigen Mitarbeiter ab. In einer demnächst erscheinenden Veröffentlichung untermauert die Kunsthistorikerin Harriet Roth die „Autorenschaft“ Neutras. Dazu studierte sie gründlich die Bauakten und grub bisher unbekannte Briefe des Architekten aus. Neutra selbst war sehr wortgewandt und fasste sein bewegtes Leben in unterhaltsamen Memoiren („Auftrag für morgen“) zusammen.

Straßenansicht von Sommerfelds Aue
Straßenansicht von Sommerfelds Aue

© Wolfgang Bittner

1892 in Wien geboren, führten ihn seine Lehrjahre über die Schweiz und Deutschland in die USA, wo er 1924 freundschaftlich vom großartigen Frank Lloyd Wright aufgenommen wurde, der – im zeitlichen Vergleich mit Europa – Prinzipien der Moderne vorweggenommen hatte. Flachdächer blieben Neutras Markenzeichen, das er an vielen Villen im Umkreis von Los Angeles realisierte. Er mauserte sich zum Vertreter des „International Style“, der auch auf Größeres wie Kirchenbauten und Universitäten anwendbar war. Offene Grundrisse und große Glasflächen gaben die Sicht auf Garten und Landschaft frei, die bei Privathäusern zur Wohnraumerweiterung wurden.

Gerne legte Neutra geometrische Wasserbassins an den Einfamilienhäusern an, die das Drinnen nach draußen spiegelten und vice versa („reflecting pool“). Darin ähnelte er Mies van der Rohe. Aber er trat auch aus dem Schatten des Bauhaus heraus mit seinem Programm eines „Biorealismus“, einer organischen Einbindung in die umgebende Landschaft. Dass er einer der Großen des 20. Jahrhunderts war, erkannte auch die Bundesregierung, die ihn nach dem Krieg einlud, seine Bautypologie für den  Wiederaufbau einzusetzen. Neben Siedlungen im Stil von Gartenstädten waren das vor allem Bungalows. Die Moderne wurde dank Richard Neutra re-importiert. Er starb 1970 in Wuppertal.

Kambara House (Neutra 1960) bei Los Angeles. Die Inneneinrichtung ist so wie von den Erstbeziehern hinterlassen
Kambara House (Neutra 1960) bei Los Angeles. Die Inneneinrichtung ist so wie von den Erstbeziehern hinterlassen

© Michael J. Locke

Das Flachdach war, nachdem die Nazis es für den Wohnungsbau untersagt hatten, an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt und „salonfähig“ geworden.

Aber schon in den Zwanzigern war es höchst umstritten, und der Schauplatz der Auseinandersetzung war Zehlendorf gewesen. Das traf zunächst Sommerfelds Aue. Im Lauf der Planungen wurden die Häuser wegen ihrer Dächer von konservativer Seite als „Zigarrenkisten“ gebrandmarkt. Die Auseinandersetzung kulminierte 1928 im "Dächerkrieg": Die von Bruno Taut konzipierte „Onkel-Tom-Siedlung“ schloss mit dem Fischtalpark ab. Die Konservativen fühlten sich von den Flachdächern dermaßen provoziert, dass sie auf einen Schlag einen ganzen Riegel aus Steildach-Häusern davor setzten.

Sie denunzierten die Flachdächer als „nach Palästina oder Arabien“ gehörig. An dieser Stelle kommen antisemitische Ressentiments ins Spiel, die auch Neutra, Mendelsohn und Sommerfeld betrafen. Alle drei waren jüdischer Herkunft. Adolf Sommerfeld war Terrainentwickler und Bauunternehmer und als solcher maßgeblich an der Entstehung der Onkel-Tom- bzw. Waldsiedlung beteiligt und hatte sogar die Verlängerung der U-Bahn-Linie finanziert. Sein Engagement war sowohl sozialreformerisch als auch finanziell motiviert. Er war engstens dem Bauhaus verbunden. Sein eigenes Haus in der Lichterfelder Limonenstraße bestand aus dem Holz eines alten Kriegsschiffes. Es war von Walter Gropius und Adolf Meyer 1920 im Blockhausstil konzipiert worden, mit prächtiger, expressionistisch anmutender Inneneinrichtung – ein Beispiel für die Anfänge des Bauhaus.

Drehbühne im Erdgeschoss
Drehbühne im Erdgeschoss

© Aus Bauwelt 14, 1924

Der Bauunternehmer nahm in der nach ihm benannten Sommerfelds Aue auch persönlich Einfluss auf die farbige Gestaltung der Innenräume, ebenfalls vom 'Bauhaus' inspiriert. Sommerfeld war von Anfang an bei den Planungen dabei. Wer aber war für die Drehbühnen verantwortlich? Harriet Roth hat Indizien gesammelt: Richard Neutra war technikaffin und theaterbegeistert. Er betätigte sich als Komparse am Theater am Nollendorfplatz. Was liegt näher, als beides zur Bühnentechnik zusammenzuziehen und zur Inszenierung von Räumen im Haus einzusetzen?

Die im Durchmesser 4,75m großen und elektrisch betriebenen Drehbühnen waren in drei voneinander abgeschirmte Segmente eingeteilt, durch welche dem Wohnzimmer Erkerräume mit unterschiedlichen Funktionen zugeschaltet werden konnten. Welche Funktionen dies waren, darüber gehen die Interpretationen bis heute auseinander. Die einen vermuten nur die erweiterte Form einer Anrichte. Während des Gastmahls können in einem abgewendeten Kompartiment die jeweils nächsten Gänge angerichtet und das Geschirr abgefahren werden. Eine Fachzeitschrift kolportierte den Gedanken, das „nicht immer repräsentative Hauspersonal von jeder Begegnung mit den Gästen fernzuhalten.“

Ein Schauspieler als Bewohner hätte die Drehbühne auch „berufsmäßig verwenden“ können

Andere Interpreten haben vor ihrem geistigen Auge ein Klavier oder einen Flügel, der nach der Mahlzeit aufgefahren wird. Da noch ein drittes Segment frei ist, sehen sie neben der Hausmusik als Wahlmöglichkeit einen Raum für Radio und Grammophon. Neutra selbst schlägt als drittes Supplement eine „gemütliche Ecke mit einer großen Bibliothek“ vor. Aber warum nicht, fragt wieder die Fachzeitschrift, das Haus an einen Schauspieler oder Filmstar vergeben, der die Drehbühne „berufsmäßig verwendet“? Die Idee als solche ist tragfähig bis in unsere an Raum knappen Zeiten: Muss der Nutzer stets zum Raum kommen, oder kann nicht je nach Bedarf der Raum zum Nutzer kommen? Entsprechende Dreh-Modelle hat etwa der Designer Luigi Colani entwickelt.

Die Berliner Tagespresse von 1924 sah noch andere Verwendungsmöglichkeiten voraus. Sie beschrieb einen Hausherrn, der stolz seinem Gast den Drehmechanismus vorführt, aber aus Versehen den falschen Knopf drückt. Schon rollt seine Frau in der Badewanne herein. Eine Karikatur illustrierte den Fauxpas. In der Realität lief es anders. Die Frauen der 20er Jahre ließen sich solche Herrenwitze nicht gefallen. Die Drehbühnen wurden 1928 ausgebaut.

Der Text erscheint auf dem Onlineauftritt von Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf. Folgen Sie der Redaktion Steglitz-Zehlendorf gerne auch auf Twitter und Facebook.

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