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Inge Liss mit ihrem Schützling aus Syrien beim gemeinsamen Mittagessen. Im Rahmen ihrer selbst zusammengestellten Harzt IV-Menüs gab es diesmal Kartoffelgratin und Salat, Kosten etwa ein Euro pro Person

© privat

Interviewreihe: Alltag mit Flüchtlingen in Zehlendorf: " Nun weiß ich, was die Asylsuchenden durchmachen"

Unsere Leserin hat als Kind selbst nach dem Krieg die Fluchtbewegungen aus den Ostgebieten erlebt. Nun hat Inge Liss das Sorgerecht für eine minderjährige unbegleitete Syrerin übernommen. Dem Tagesspiegel Zehlendorf hat sie erzählt, was sie seither alles erlebt hat.

Unser Schützling ist mit 16 Jahren vor einem Jahr aus Frankreich nach Deutschland gekommen. Ihre ältere Schwester hatte ich über das Taizégebet in unserer Kirche kennen gelernt, beide sind ja Christinnen aus Damaskus. Die Ältere war bereits seit längerem in Deutschland und studiert BWL in Halle. Sie hat uns ihre Schwester vorgestellt, als diese im Juli 2014 nach Berlin kam. Als erstes habe ich sie zur Clearingstelle in die Wupperstraße gebracht, wohin unbegleitete Jugendliche kommen, und habe dort den Asylantrag für sie gestellt. Von der Clearingstelle wird dann das Jugendamt eingeschaltet; und das hat alles sehr gut geklappt, muss ich sagen.

Vor einem Jahr haben mir ihre Eltern das Sorgerecht für ihre heute 17jährige Tochter übertragen. Sie leben gerade in einem Lager im Libanon, weil ihr Stadtteil in Damaskus komplett vom IS kontrolliert ist, möchten nun aber auch nach Europa, zu ihren Töchtern. Da sie erreichbar sind, habe ich das Sorgerecht, nicht die komplette Vormundschaft. Das bedeutet, dass ich bei ärztlichen Operationen unterschreiben muss und dass ich mit ihren Erziehern im Wohnheim, mit den Lehrern und mit dem Jugendamt spreche.

Inge Liss hat schon als Kind die Fluchtbewegungen aus den deutschen Ostgebieten erlebt. Nun engagiert sie sich als Sorgerechtsbevollmächtigte für ein syrisches Mädchen
Inge Liss hat schon als Kind die Fluchtbewegungen aus den deutschen Ostgebieten erlebt. Nun engagiert sie sich als Sorgerechtsbevollmächtigte für ein syrisches Mädchen

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Beim Gespräch in der Ausländerbehörde war ich auch dabei, da saßen wir gemeinsam dem „Entscheider“ gegenüber, der über ihr Bleiben zu entscheiden hatte. Und da gab es erst einmal einen Schockmoment, denn er meinte, dass sie ja über Frankreich, also ein sicheres Drittland, eingereist sei und daher in Frankreich den Antrag stellen müsse. Ein Jahr hatte sie dort bei ihrem Onkel gelebt, der wollte aber kein Asyl für sie beantragen, sondern sie zurück zu ihren Eltern schicken. Die waren ja aber zu dem Zeitpunkt auch schon auf der Flucht.

Der Entscheider riet uns dann aber, einen Antrag auf Selbstentscheidungsrecht zu stellen. Und ein Asylrechtsanwalt sagte uns, dass Minderjährige in Frankreich ohne Vormund kein Asyl beantragen können. Außerdem dürfen Unbegleitete nach einer bestimmten Frist nicht abgeschoben werden, wie wir dann erfahren haben. Mittlerweile ist sie ja als Flüchtling anerkannt; in zwei Jahren muss darüber neu entschieden werden.

Ich war mit ihr so lange auf Ämtern, das war eine Katastrophe! Stunde um Stunde haben wir da gesessen. Nun weiß ich, was die Asylsuchenden da durch machen. Aber es ist auch beruhigend, wenn man weiß, dass die Behörden gründlich sind. Im Großen und Ganzen war das Verhalten des Familiengerichts wirklich in Ordnung, und die Betreuung durch das Jugendamt hat gut funktioniert. Sie wohnt nun auch hier in Steglitz, betreut vom Jugendamt. Mehr möchte ich nicht sagen, denn sie hat eine panische Angst vor dem Geheimdienst. Sie nutzt auch keine sozialen Medien, das haben ihr schon die Eltern eingebläut, und auch Kontakte zu anderen Syrern solle sie meiden, das könne ihr sonst schaden. Die Eltern rufen auch jeden Tag an und erkundigen sich nach ihr.

Nachdem sie in Libanon schon in der 10. Klasse war, musste sie in dem einen Jahr in Frankreich nochmal die 10 Klasse besuchen. Und hier in Steglitz ist sie auch nochmal ein Jahr in die 10. Klasse der Montessori-Schule gegangen. Nun ist sie endlich in einer 11. Klasse, auf einem Gymnasium. Für die Aufnahme auf das Gymnasium, die ehemalige Schule meiner Tochter, habe ich mit der Direktorin gesprochen. Unsere Syrerin ist nun sehr glücklich dort und kommt dort auch gut mit. Wir geben ihr Nachhilfe in Deutsch und eine Nachbarin und mein Mann helfen ihr in Mathe und Chemie.

Heute kommt sie in drei Freistunden zum Mittagessen. Ich zeige ihr, wie sie sich gesund ernähren kann, und wo sie für 42 Cent Spinat bekommt. Wir nennen das unser "Hartz IV-Kochbuch".

Ihre ältere Schwester kommt oft am Wochenende aus Halle zu Besuch. Und für den Familiennachzug haben wir auch schon alles organisiert: Wenn ihre Eltern nachkommen, können sie erstmal bei Bekannten von uns wohnen.

In unserem großen Freundeskreis sind ja alle ehrenamtlich engagiert und wir helfen uns alle gegenseitig - jeder weiß was, kennt wen, kann was organisieren. Überhaupt haben wir in dieser ganzen Zeit so viel Hilfe erfahren, das war einfach toll. Zum Beispiel hat unser Anwalt 700 Euro gekostet, und diesen Betrag haben wir im Bekanntenkreis gesammelt.

Ja, ich habe sie schon sehr in mein Herz geschlossen. Wir machen, was man eben als Familie so macht: Wir besuchen Museen, kochen gemeinsam, feiern gemeinsam Familienfeste; damit sie lernt, hier ihr Leben zu gestalten. Nach der Schule möchte sie Medizin oder Psychologie studieren, auf jeden Fall aber erstmal auf eigenen Füßen stehen. Auch meine Tochter hat beide Mädchen ins Herz geschlossen, die sind beide inzwischen Familienmitglieder. Man kann sagen, gerade die Jüngere ist ein Kind, für das wir uns verantwortlich fühlen. Ich bin einfach da, wenn sie Fragen hat, wie eine Oma, aber im Sinne einer älteren Freundin.

Die syrische Katastrophe erinnert an die eigene Lebensgeschichte

Durch die syrische Katastrophe wird man auch an die eigene Lebensgeschichte erinnert: Auch meine Familie musste aus Pommern und Ostpreußen fliehen, Knall auf Fall unter unsäglichen Umständen. Als kleines Kind habe ich erlebt, wie sechs verschiedene Familien auf dem Hof meines Großvaters in Hessen untergebracht waren. Und wenn ich nun sehe, wie so ein Kind alleine im Ausland zurecht kommen soll, dann fühle ich mich verpflichtet - und dann sind wir auch als Gesellschaft verpflichtet, zu helfen.

Ich bin ja gerade 65 geworden und in Rente gegangen - und eigentlich wolle ich mich auch mehr um meinen Garten kümmern. Aber der ist zum Biotop geworden, die Schnecken feiern da dicke Feste. Beruflich komme ich aus der medizinischen Ecke, habe mehrere Jahre in Afrika gelebt und dort vielleicht einen anderen Blickwinkel bekommen. Aber ich würde wirklich jedem empfehlen, sich darauf einzulassen, gerade auch Älteren, denn die Erfahrung mit unseren syrischen Mädchen bereichert ungemein.

Aufgezeichnet von Maike Edda Raack.

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