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Simone Liebscher im Wannseer Hospiz.

© Mike Wolff

Krebskranke Berlinerin im Hospiz: Leben im Angesicht des Todes

Simone Liebscher ist erst 47, weiß aber, dass sie nicht mehr lange leben wird. Nach elfjährigem Kampf gegen den Krebs ist sie ins Hospiz gezogen, dort fühlt sie sich endlich als Mensch angenommen. Und sie hat ein Anliegen: Der Tod soll kein Tabuthema sein.

Simone Liebscher würde ihrem Leben gern ein Ende setzen – nicht gleich morgen, aber spätestens in ein bis zwei Monaten, wenn ihre Krankheit ihr voraussichtlich auch das letzte Stück Würde genommen haben wird. Sie möchte nicht mehr kämpfen, denn das hat sie lange genug getan: elf Jahre, das sind 4015 Tage. So lange lebt die gebürtige Ost-Berlinerin schon mit der Diagnose Krebs, in ihrem Fall mit Luftröhrenkrebs.

Mit ihrer Krankheit ist sie nicht allein. Nach einer Schätzung des Robert Koch-Instituts erkrankten im vorigen Jahr rund 490 000 Deutsche neu an Krebs – Tendenz steigend. Für jeden Vierten endet die Erkrankung tödlich; Krebs ist nach Herz-Kreislauferkrankungen die zweithäufigste Todesursache in der Bundesrepublik. Eine der Ursachen ist der steigende Altersdurchschnitt in der Bevölkerung, denn Krebs tritt vor allem in höherem Alter auf.

Von einem Tag auf den anderen änderte sich ihr Leben

Dagegen war Simone Liebscher in der „Blütezeit ihres Lebens“, wie sie selbst sagt, als sie mit 37 die Diagnose Krebs erhielt. Große Zukunftspläne hatte sie damals, wollte sich beruflich umorientieren und auch eine Familie gründen. Doch mit dem Befund im Oktober 2002 änderte sich ihr Leben schlagartig. Statt im Büro zu arbeiten oder in den Urlaub zu fliegen, musste sie sich Operationen, Bestrahlungen und Chemotherapie aussetzen: „Ich war auf einmal gefangen und musste mein ganzes Leben von heute auf morgen auf den Krebs ausrichten“.

Zunächst war die Behandlung erfolgreich

Dabei hatte sie ihre Krankheit zunächst gar nicht bemerkt. Erst als eine Arbeitskollegin sie immer öfter darauf anspricht, dass sie nicht richtig Luft hole, geht sie zum Arzt und lässt eine Bronchoskopie machen, eine Spiegelung der Bronchien zur Untersuchung der Atemwege. Der Befund ist ein Schock: Entdeckt wird ein bösartiger Tumor an der Luftröhre.

Wenige Tage danach unterzieht sie sich ihrer ersten Operation, gefolgt von zahlreichen Bestrahlungen.

Zunächst scheinen die Behandlungen anzuschlagen: Von 2003 bis 2008 lebt Liebscher nahezu beschwerdefrei und kann ihrer Arbeit nachgehen. Trotzdem spürt sie, dass sie den Krebs nicht mehr los wird. Ihre Befürchtungen bewahrheiten sich: 2008 fängt der Krebs an zu streuen, es bilden sich Metastasen. Simone Liebscher arbeitet noch bis 2010, dann kann sie nicht mehr.

Letztes Jahr – nach einer weiteren Operation an der Lunge – erhält sie die Hiobsbotschaft der Ärzte: „austherapiert“. Chemotherapie und Bestrahlungen würden nicht mehr anschlagen. Wie lange genau Simone Liebscher noch zu leben hat, kann ihr niemand sagen. Die Ungewissheit macht ihr zu schaffen. Als sie spürt, dass der Krebs immer intensiver und aggressiver wird, schreibt sie sich auf die Warteliste für ein Hospiz – eine Herberge der besonderen Art, in die unheilbar kranke Menschen kommen, um dort zu sterben. Die Pflegekräfte versuchen mit viel Aufmerksamkeit und Sensibilität, den Patienten ein menschenwürdiges und geborgenes Leben bis zuletzt zu ermöglichen.

Die Entscheidung ist Simone Liebscher nicht schwer gefallen, obwohl sie weiß, dass sie diesen Ort nicht mehr lebend verlassen wird.  

Seit dem 8. Juni ist die 47-Jährige im Diakonie-Hospiz Wannsee, einem von elf stationären Hospizeinrichtungen in Berlin. Nach den vielen Krankenhausaufenthalten fühlt sie sich endlich angekommen. „Das Hospiz ist der einzige Ort, an dem ich als Mensch und nicht als Patient auftreten kann und auch so wahrgenommen werde“, sagt sie. „Außerdem kann man hier sein positives Ego ausleben, die Angestellten erfüllen einem jeden Wunsch – so habe ich mir eigentlich immer den perfekten Urlaub vorgestellt." Als sie sich der Ironie ihrer Worte bewusst wird, lächelt sie traurig. Geht das überhaupt: das Leben im Angesicht des Todes genießen?

Simone Liebscher hat die Krankheit nie akzeptiert

Simone Liebscher wirkt auf mich nicht so, als würde sie täglich mit ihrem Schicksal hadern. Es scheint, als hätte der Krebs sie abgehärtet. „Man wird im Laufe der Zeit zynisch und kritisch, aber auch gleichgültig. Ich kann es nicht mehr ändern, aber ich will mich auch nicht hinsetzen und nur noch heulen – das bringt nichts“, beschreibt sie ihren Zustand.

Nach elf langen Jahren habe sie ihre Krankheit zwar noch lange nicht akzeptiert, aber sich zumindest mit ihr arrangiert. Einfach den Moment zu leben – das ist ihr Überlebensrezept. Wenn es ihr vorübergehend einmal gut gehe und sie keine Schmerzen habe, sei das für sie Glück. Noch gibt es sie, diese wenigen Stunden, manchmal auch nur Minuten des Glücks, aber es werden immer weniger.

Liebscher bezeichnet sich als Realistin, die weder voraus- noch zurückschaut. Durch das Zusammenleben im Hospiz mit anderen Schwerkranken und Sterbenden, deren Krebs bereits weiter fortgeschritten ist, blickt sie jedoch unweigerlich in ihre eigene Zukunft. Seit elf Jahren kämpft sie mit der Atmung, um Luft, und hat fast täglich Angst, zu ersticken. Die Schmerzen, die schlechte Atmung und die Belastung der eigenen Familie – all dem würde sie so gern ein Ende bereiten, sagt sie und spricht sich damit offen für die aktive Sterbehilfe aus, die in Deutschland verboten ist. Ihr einziges Versäumnis sei es gewesen, nicht die nötigen Vorbereitungen getroffen zu haben, um in den Niederlanden oder Belgien sterben zu können. Die Benelux-Staaten sind neben dem US-Bundesstaat Oregon die einzigen Länder, in denen aktive Sterbehilfe legal ist. Dort wird sterbenskranken Patienten auf ihren ausdrücklichen Wunsch ein Präparat verabreicht, das unmittelbar zum Tode führt.

Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.
Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.

© privat

Als Simone Liebscher den Wunsch zu sterben äußert, wird mir zum ersten Mal so richtig ihre Situation bewusst – die ich als gesunder Mensch nicht kenne und nicht nachvollziehen kann. Liebscher scheint das zu merken, als sie mir unverblümt sagt, dass auch ich sterben werde. Schon mit der Geburt beginne ja ein nicht zu stoppender Alterungsprozess, der unaufhaltsam zum Tod führt. Diese Aussage schockiert mich zunächst, doch ich kann ihr nicht widersprechen.

Der Tod soll kein Tabuthema sein

Der Tod und alles, was danach kommt, ist ein Tabuthema, dem die meisten Menschen ausweichen – auch die Politik. Simone Liebscher wünscht sich, dass das nicht so bleibt und der Tod und die Hospiz- und Palliativarbeit stärker in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit rücken und bereits in den Schulen thematisiert werden.

Auch mit dem Thema Krebs müsse man sich frühzeitig auseinandersetzen, denn es könne jeden treffen. „Vor meiner Diagnose hab ich nicht im Traum daran geglaubt, mal selbst an Krebs zu erkranken. Erst wenn man schon erkrankt ist, macht man sich Gedanken um seine Gesundheit und denkt nach – davor nicht. Das ist ein Fehler!“

Noch lange nach dem Gespräch denke ich über diesen Fehler nach.

Die 19-jährige Autorin hat schon aus London für die Paralympics-Zeitung des Tagesspiegels gearbeitet. Gerade hat sie das Abitur an der Droste-Hülshoff-Oberschule gemacht. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Nora Tschepe-Wiesinger

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