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Er lebt seine Utopie, ohne Geld und fern von jedem Konsumzwang: Raphael Fellmer

© Mike Wolff

Raphael Fellmer und sein Leben ohne Geld: Der Konsumstreikende

"Eotopia" soll sein schulfreies, veganes Dorf in zehn Jahren heißen. Davon träumt er. Aber im Hier und Jetzt ist es nicht leicht für Raphael Fellmer, die Menschen von seinen Ansichten zu überzeugen. Er lebt im Geld- und Konsumstreik. Unsere Bloggerin hat ihm zugehört.

Ein Frühlingsabend in Zehlendorf, zwei Schulmädchen laufen den Teltower Damm entlang. Die eine nimmt ihr Schulbrot aus dem Rucksack, beißt einmal ab, verzieht angewidert das Gesicht. „Ih, das ist ja von gestern, schon voll trocken“, sagt sie und schmeißt es in den nächsten Mülleimer.

Keine 300 Meter weiter im "Studentenhaus der Begegnung", dem derzeitigen Korporationshaus des Vereins Deutscher Studenten Berlin-Leipzig und Charlottenburg, steht Raphael Fellmer in Turnschuhen und Schlabberpulli vor einer Reihe Verbindungsstudenten und spricht über die heutige Wegwerfmentalität unserer Gesellschaft; darüber, dass in Deutschland die Hälfte aller Lebensmittel weggeschmissen wird, und dass es 50 Millionen Autos gibt, die 23 Stunden am Tag stillstehen. Und wenn sie dann benutzt werden, sitzen durchschnittlich 1,3 Personen darin.

„Wir könnten theoretisch bei jeder Autofahrt noch die Menschen aus allen Nachbarländern Deutschlands mitnehmen“, konfrontiert Fellmer seine Zuhörer. Er selbst hat kein Auto und auch kein Geld, um sich eins zu kaufen. Nicht weil er arm ist und keine Arbeit findet, sondern weil Raphael Fellmer seit vier Jahren bewusst im Geld- und Konsumstreik lebt. Konkret heißt das, dass er keinen einzigen Cent verdient und auch keinen einzigen Cent ausgibt. Fellmer lebt von dem, was andere zu viel haben und ohnehin wegschmeißen. Sein Essen holt er sich von Biosupermärkten, bevor es abends in die Tonne geworfen wird, in den Urlaub trampt er, und seine Möbel kommen aus der Zu-verschenken-Kategorie bei Ebay.

Ist er nichts weiter als ein Schmarotzer?

Fellmer lebt mit seiner Frau Nieves und der zweijährigen Tochter Alma Lucia nicht etwa auf der Straße, sondern in einem Einfamilienhaus in Zehlendorf. Bezahlen tut er auch dafür nichts: Miete, Strom-,Wasser- und Heizkosten übernehmen das Ärzte-Ehepaar, das mit im Haus lebt und Fellmer und seiner kleinen Familie Ende letzten Jahres anbot, in eines der leer stehenden Zimmer im Haus zu ziehen.

Ist Fellmer nichts weiter als ein Schmarotzer, der auf Kosten anderer lebt, ist gleich eine der ersten Fragen aus dem skeptischen Publikum?

Nein, das sieht der 30-jährige Familienvater nicht so. Vielmehr seien alle Anwesenden im Raum ein Teil der Gesellschaft, die auf Kosten anderer leben. Mit anderen meint Fellmer Menschen in Entwicklungsländern, in Afrika und Lateinamerika, die tagtäglich ums reine Überleben kämpfen, während in Europa tonnenweise Lebensmittel weggeschmissen werden.

Raphael Fellmer diskutiert mit den anwesenden Gästen in Zehlendorf.
Raphael Fellmer diskutiert mit den anwesenden Gästen in Zehlendorf.

© Nora Tschepe-Wiesinger

„Wenn jeder auf der Welt so leben würde, wie wir hier in Europa, bräuchten wir vier Planeten“, wirft Fellmer ein erneutes Beispiel für die luxus- und konsumorientierte Gesellschaft unserer Zeit in den Raum. Es herrscht unangenehme Stille unter den Zuhörern. „Wir können nicht mehr so weitermachen, wie bisher“, mahnt Fellmer und verweist auf die zunehmende Ressourcenknappheit, die Verschmutzung der Erdatmosphäre durch Treibhausgase und das Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich.

Also was tun? Sollen wir alle unser Geld verbrennen und uns zukünftig aus dem Müll ernähren? Nein, es reiche schon aus, ein bisschen mehr als Team zusammenzuarbeiten, denn der größte Einsparmoment beim Ressourcenverbrauch entstehe beim Teilen, sagt Fellmer und fragt seine Zuhörer ganz direkt: „Brauchen wir wirklich alle unser eigenes Wlan-Netz, wenn es um uns rum zehn weitere Internetverbindungen gibt? Brauchen wir alle ein eigenes Auto, wenn es 23 Stunden am Tag nur in der Garage steht? Braucht jeder von uns einen eigenen Drucker, Scanner, Beamer? Wäre es nicht sinnvoller, zu teilen?“

Initiator von foodsharing.de

Fellmer verweist auf Internet-Plattformen wie couchsurfing und foodsharing.de, auf denen das ressourcenschonende Konzept des Teilens bereits konkret aufgegriffen wird. Auf couchsurfing.de bieten Menschen Fremden auf der Durchreise kostenlos einen Schlafplatz in der eigenen Wohnung an. Auf foodsharing.de werden eigene überschüssige Lebensmittel angeboten und für andere zum Abholen bereitgestellt.

Raphael Fellmer ist einer der Initiatoren von foodsharing.de. Die Idee dazu kam dem Berliner vor zwei Jahren bei einer seiner nächtlichen Streifzüge zu den Abfalltonnen des Bio-Supermarktes BioCompany in Zehlendorf-Mitte. „Mir wurde auf einmal klar, dass ich nicht jeden Tag einfach nur zur Tonne gehen und mir wie bei Tischlein deck dich die Lebensmittel rausnehmen kann“, erzählt Fellmer.

Jan Ozeir (links) und Sami El-Benni haben aus dem Vereinshaus von Hertha03 das "Golden Goal" gemacht; eine Sportbar, die gleichzeitig Restaurant und Club ist.
Jan Ozeir (links) und Sami El-Benni haben aus dem Vereinshaus von Hertha03 das "Golden Goal" gemacht; eine Sportbar, die gleichzeitig Restaurant und Club ist.

© Thilo Rückeis

Also habe er all seinen Mut zusammen genommen und sich getraut, die Läden direkt anzusprechen, ihm die überschüssigen Lebensmittel zu übergeben, bevor sie in die Tonne wandern. Fellmers Mut wird belohnt: Seit 2012 geht er mehrmals in der Woche nach Ladenschluss bei Biosupermärkten in Zehlendorf vorbei, holt Lebensmittel ab und verschenkt sie anschließend an Freunde, Bekannte und Bedürftige. Das, was übrig bleibt, stellt er bei foodsharing.de ein.

„Global denken – lokal handeln“, das ist das Motto des Berliner Geldverweigerers, und dazu fordert er auch seine Zuhörer an diesem Vortragsabend auf. Im Gegensatz zu ihm haben die meisten der anwesenden Medizin-, Jura- und BWL-Verbindungsstudenten Geld – und davon nicht unbedingt wenig. Dementsprechend schwer fällt es einigen, sich die Welt ohne Geld, in der Raphael Fellmer seit vier Jahren lebt, vorzustellen.

„Es ist nun mal so, dass das kapitalistische System das einzige ist, das bisher funktioniert hat. Die Leute würden doch ihre Arbeit nicht mehr machen, wenn sie dafür kein Geld bekämen." Solche Sätze muss Fellmer sich mehrmals am Abend anhören und argumentiert vehement dagegen. Er ist fest davon überzeugt, dass es auch in einer Welt ohne Geld Menschen gäbe, die Schienen verlegen und Fahrradreifen reparieren würden – aus rein intrinsischer Motivation heraus und nicht, weil sie dafür bezahlt würden.

Eine geldfreie Welt, in der man teilt, statt besitzt – kann das funktionieren?

Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.
Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.

© privat

Raphael Fellmer zumindest ist davon überzeugt. „In zehn Jahren wird Geld schon lange nicht mehr so viel bedeuten wie heute“, glaubt er. Und wo sieht Fellmer sich selbst in zehn Jahren? „Wir wollen auswandern, raus aus Deutschland, weg vom Konsum- und Systemzwang“. Fellmer und seine Frau wollen im Süden Europas ein schulfreies veganes Ökodorf im Zeichen der Nachhaltigkeit und Selbstversorgung gründen. Ein Namen hat das Dorf auch schon: Eotopia.

Die Autorin schreibt als freie Mitarbeiterin für den Tagesspiegel, sie ist in Zehlendorf aufgewachsen. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

Nora Tschepe-Wiesinger

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