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Manchmal, in seltenen Momenten, sagt er Sätze wie: "Manchmal wünsche ich mir einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

© Thilo Rückeis

Teil drei der Zehlendorfer Armutsserie: Obdachlos im Dorf

Den Brief der Tochter bewahrt er wie einen Schatz. Das ist seine Chance, der Einsamkeit zu entfliehen. Peter ist obdachlos, im reichen Zehlendorf. Die meisten halten den Mann unter der mächtigen Eiche für eine Ausnahme. Lesen Sie den dritten Teil unserer Zehlendorfer Armutsserie.

Als er von seiner Tochter erzählt, werden seine Hände ruhig, der Körper entspannt sich, das rot gereizte und von Pusteln übersäte Gesicht mit den blauen Augen wird seltsam schön. Er lächelt verlegen in sich hinein. Die ganzen Abgründe seines Lebens können ihm in diesem Moment nichts anhaben. An diesem sonnigen Herbsttag ist er ein glücklicher Obdachloser.

Peter, 54, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, lebt seit mehr als zehn Jahren auf der Straße. Einst führte er ein bürgerliches Leben in einem bürgerlichen Bezirk – in Zehlendorf. Dann kam der Absturz. Peter aber erzählt vom Glück.

Im vergangenen Sommer muss er wegen seiner entzündeten Beine ins Krankenhaus, als er nachts im Gang sitzt, tritt plötzlich eine Frau auf ihn zu und sagt: „Hallo Papa, ich bin es, deine Tochter Yvonne.“ Er kann es nicht glauben, starrt sie an, wiederholt ihren Namen. Er hat sie seit ihrem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Dann muss er heulen. Eine halbe Stunde reden sie miteinander, sie berichtet, dass es auch den beiden Geschwistern gut gehe, „wohnen alle in Steglitz-Zehlendorf“. Über die Mutter verlieren sie kein Wort, Peter fragt nicht, dann geht er fort, Tränen in den Augen, „war schön jewesen“.

Er bettelt nicht. Er hat sich einfach ins Ortsbild gesetzt, gehört dazu wie ein Baum, ein Haus, ein altes Geschäft. Peters Heimat ist der Historische Winkel, Zehlendorfs Mitte, direkt an der alten Dorfkirche und neben dem Heimatmuseum.
Er bettelt nicht. Er hat sich einfach ins Ortsbild gesetzt, gehört dazu wie ein Baum, ein Haus, ein altes Geschäft. Peters Heimat ist der Historische Winkel, Zehlendorfs Mitte, direkt an der alten Dorfkirche und neben dem Heimatmuseum.

© Thilo Rückeis

Jetzt sitzt Peter wieder an seinem Stammplatz in Zehlendorf Mitte, auf der Bank vor der Dorfkirche gleich neben dem Heimatmuseum. Zehlendorf – das ist für viele Berliner immer noch ein Synonym für reich, fein und grün. Hier sind Wasser, Wald und großer Stolz zu Hause. Beim sonntäglichen Brötchenkauf in Zehlendorfs Mitte oder in Dahlem treffen sich die Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Kultur.

Der Berliner Südwesten gilt als Hort der Gutbürgerlichen, die Einkommen sind höher als anderswo in Berlin, die Villen älter und die Gärten größer. Die Schulen sind gut, die Gymnasiumsdichte ist hoch, die Kriminalitätsrate niedrig. Die Welt scheint hier tatsächlich noch in Ordnung zu sein. Weitestgehend. Aber sie bekommt Risse. Und Menschen wie Peter machen die sichtbar. An trockenen Tagen, wenn es die Herbstsonne schafft, den bevorstehenden Winter auf Distanz zu halten, ergibt sich in Zehlendorfs Mitte ein noch ungewohntes Bild. Auf den 700 Metern vom S-Bahnhof Zehlendorf bis hoch zum großen Supermarkt an der Clayallee sitzen oder stehen zuweilen bis zu zwölf Bettler und Bedürftige.

Sein Platz, vor dem Friedhof an der alten Dorfkirche. Auf seinem Fahrrad hängt sein Hab und Gut und ein bisschen etwas zur Zierde.
Sein Platz, vor dem Friedhof an der alten Dorfkirche. Auf seinem Fahrrad hängt sein Hab und Gut und ein bisschen etwas zur Zierde.

© Thilo Rückeis

Das gab es hier früher nicht – dass Armut offen zu sehen ist. Manche von ihnen kommen nur nach Zehlendorf, um ihre Obdachlosenzeitung zu verkaufen, andere, Deutsche, haben sich mit Hund und handgeschriebenen Zetteln ausgestattet ihren Stammplatz auf dem Bürgersteig gesichert. Peter ist beides, einer und keiner von ihnen. Denn er ist immer da, und auch sonst ist bei ihm einiges anders als bei den anderen. Zehlendorf Mitte ist gewissermaßen sein Wohnzimmer, sein Zuhause, auch wenn es nur die Straße ist. Peter bettelt nicht. Hat sich einfach nur hineingesetzt in das Ortsbild, gehört dazu wie ein Haus, ein Baum, ein altes Geschäft. Sitzt da auf der Bank vor dem historischen Friedhof und wartet, dass ein weiterer Tag vorbeigeht, beobachtet den ewigen Stau im Berufsverkehr, das unaufhörliche Treiben vor seiner Nase, hört das Hupen der Autos, betrachtet die an ihm vorbeieilenden Menschen. Neben ihm lehnt sein Fahrrad, verziert mit Deutschlandfahne und -kette, auf dem er all sein Hab und Gut verstaut, ein Rucksack, Isomatte und die Thermoskanne, die ihm abends Menschen füllen, die es gut mit ihm meinen.

Beim Mittagstisch gibt's Hühnerkeule

Viele Zehlendorfer glauben, dass Peter etwas Besonderes sei, eine Ausnahme, ein Gescheiterter, von denen es nicht viele gibt in dieser Gegend. Einer, dessen Schicksal nichts aussagt über den sozialen Alltag in dieser Wohngegend. Kaum einer will wahrhaben, dass Peter die Vorhut sein könnte. Weil selbst in der Idylle des Berliner Südwestens die gesellschaftlichen Gruppen auseinanderdriften. Niemand weiß, wie viele Menschen hier auf der Straße leben. Und auch wenn in der statistischen Wohlstandskurve bislang nur ein leichtes Zittern erkennbar ist: Wer genau hinschaut und sehen will, der kann beobachten, dass der soziale Abstieg bei vielen Menschen längst begonnen hat. Seit Jahren registriert das Diakonische Werk, dass die Suppenküche in der Pauluskirche, im Herzen Zehlendorfs gelegen, immer voller wird. Für Rentner und Alleinerziehende werden bezahlbare Wohnungen rar, teure Eigentumswohnungen entstehen. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist, wenn auch marginal, gegen den berlinweiten Trend gestiegen.

Peter sagt, er sei ein stolzer Zehlendorfer.
Peter sagt, er sei ein stolzer Zehlendorfer.

© Thilo Rückeis

Beim Mittagstisch der Diakonie in der Pauluskirche gibt es heute Hühnerkeule mit Kartoffeln und Rotkohl, 25 Menschen drängeln sich in den kleinen Raum. Die Hälfte der Besucher kommt aus anderen Bezirken, Neukölln oder Reinickendorf, der Rest sind Zehlendorfer. Senioren, arbeitslose Männer, die nicht gelernt haben, sich selbst zu versorgen, und auch einige Obdachlose sind darunter. Gleich gegenüber im Gemeindehaus sehen die ehrenamtlichen Helfer, wie die Zahl der Gestrauchelten langsam, aber stetig steigt, die sich Mäntel und Hosen aus der Kleiderkammer holen oder nur mal eben einen günstigen Kaffee trinken wollen. In Zehlendorf Mitte, an der großen Eiche, wo Peter sitzt, kommt oft ein älteres Geschwisterpaar vorbei. Es lässt sich nieder und guckt auf die Kreuzung. Sie sagt, sie habe 48 Jahre gearbeitet, bekomme 800 Euro Rente. Die Miete beträgt 360 Euro, der Eigentümer habe bereits die nächste Erhöhung angekündigt. Sie hat Tränen in den Augen, aber versucht die Situation wegzulachen. Noch müssten sie nicht in die Suppenküche. Hinter ihnen sitzt Peter und döst.

Die Leute reden nur "Blabla"

Peter sagt, er sei ein stolzer Zehlendorfer. Grundschüler in Wannsee, Hauptschüler in Zehlendorf Mitte, gelernter Bau- und Möbeltischler. Seine Familie gehörte nicht zu den Betuchten, aber sie war Teil einer dörflichen Gemeinschaft, in der es nicht so wichtig war, wie viel Geld man hatte, und die, findet er, heute so nicht mehr existiert. Die alten Lokale, das „Zehlendorfer Tönnchen“, „Der alte Krug“, der „Felsenkeller“ – alles nicht mehr da. Der große Markt mit Hunderten von Ständen zwischen Clayallee und Onkel-Tom-Straße – schon lange verschwunden. Zehlendorf Mitte war immer ein Ort der Begegnung. Heute, sagt Peter, hasten die Menschen „weiter und immer weiter“, und wenn sie stehen bleiben, „reden die nur Blabla, bleibt nüscht von haften“. Was Peter sagt, erzählen auch alteingesessene Bürger, denen es viel besser geht. Das Gemütliche, das Miteinander, die Identität der „Dorfbewohner“ – das alles werde immer weniger. Zumindest scheinen die solidarischen Reflexe noch halbwegs zu funktionieren. Diskret, aber wohlwollend. Sonst könnte einer wie Peter nicht überleben.

Stammplatz. Zehlendorf Eiche.
Stammplatz. Zehlendorf Eiche.

© Thilo Rückeis

Im Sommer hat er im Zelt geschlafen, an der Rehwiese, oder auf zwei Bänken, die leicht versteckt hinter Bäumen stehen. Nikolassee, da hat er mit seinen Eltern mal gewohnt, beide tot, zwei ältere Geschwister, zu ihnen gibt es keinen Kontakt mehr. Die Eltern liegen begraben auf dem Waldfriedhof, er geht sie besuchen und berichtet den Toten aus seinem Leben. Er sagt: „Ich bin ein freier Mensch, und ich kann gehen, wohin ich will, aber Gesellschaft fehlt mir schon.“ Sein Vater hat malocht, Seidenfabrik, dann Zeiss Ikon, aber die Beine waren kaputt, eines wurde abgenommen, die Rente war klein. Heute hat auch Peter offene Beine wie sein Vater, vielleicht geerbt oder vom Rauchen, vom Draußensitzen oder auch von der mangelnden Hygiene. Wenn Peter auf dem Friedhof steht, denkt er an die Zeit, als er noch ein bürgerliches Leben führte, „jute Kindheit hab ick jehabt“, und gerade jetzt, wo der Winter kommt, da vermisst er „Mutterns heimisches Backen, ich durfte immer den Teig kneten“. Nur den Pfarrer mochte er nicht, weil er ihm bei der Einsegnung prophezeite: „Aus dir wird nix!“

Schüler: Die Obdachlose war unsere Lehrerin

Die bürgerliche Familie gilt bis heute als ein hoher Wert in Zehlendorf, viele Mütter arbeiten gar nicht oder nur Teilzeit, und für ihre Kinder gilt das Gymnasium als einzig denkbare Schulform. Die Geschichte von Peters Ausstieg aus der Gesellschaft ist weniger ungewöhnlich als man denkt: die Ehe kaputt, Alkohol, Jobverlust, der Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, offener Vollzug in Plötzensee, Ärger im Job-Center, überfordert von den bürokratischen Hürden, verletzter Stolz, Ohnmacht. Und dann kommt der Fluchtimpuls: Ich will da raus!

Früher war Peter Alkoholiker, jetzt trinkt er maximal drei Bier am Tag.
Früher war Peter Alkoholiker, jetzt trinkt er maximal drei Bier am Tag.

© Thilo Rückeis

Manche halten dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr stand, andere treiben psychische Krankheiten aus dem geregelten Alltag. Auf der Straße hört man Geschichten von ehemaligen Studenten, früheren Händlern oder alleinstehenden Rentnern. Ein paar Meter weiter nördlich von Peters Stammbank lebt eine Frau, äußerlich sehr gepflegt, akkurat die Kleidung, feine Hände. Sie trägt ihren Besitz in Tüten mit sich herum und schläft oft in einem Hauseingang an der Clayallee. Manchmal schreit sie oder verzieht das Gesicht, als habe sie starke Schmerzen. „Wohnen Sie auf der Straße?“ „Ja, wenn es der Himmel zulässt, aber vielleicht werde ich bald meine Immobiliengeschäfte regeln.“

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Mal nennt sich die Frau Sabrina, mal Alexa, sie ist obdachlos, wäscht sich auf dem Friedhofsklo, das auch Peter gut kennt. Beim Bio-Bäcker, wo sie ihren Kaffee bekommt, kam kürzlich eine Familie mit ihren Kindern herein. Die Jugendlichen, sagt die Verkäuferin, hätten die Frau erkannt. Es ist ihre ehemalige Grundschullehrerin. Der tröstliche Gedanke, dass das bürgerliche Leben ewig halte, wenn man nur hart genug daran arbeite – er trügt.

Dann nahm er die Kreissäge

Peter heiratet mit 19. Er sagt zu seinen Eltern: „Ich will die Ute. Mehr nicht.“ Ute ist schwanger, sie bekommen insgesamt drei Kinder, Yvonne, Boris und Nicole. Peter arbeitet als Fernfahrer, eines Tages kommt er früher nach Hause, Ute liegt mit einem anderen Mann im Bett. Er dreht durch, nimmt die Kreissäge, stellt Heavy-Metal-Musik auf volle Lautstärke und zerstört die Wohnung in Steglitz, mit Blick auf die Autobahn. „Nur die Kinderzimmer hab ich nicht angerührt“, sagt er. Die Nachbarn rufen die Polizei, sein Abstieg beginnt an jenem Tag vor rund 25 Jahren. Er schläft, wenn die Nächte kalt werden, im Vorraum einer Bank, sitzt dort auf der kleinen Heizung, das Kinn auf die Brust gelehnt, oder in einer anderen Filiale leicht versteckt auf dem Boden. Das Fahrrad neben sich. Schwäche gestattet sich Peter nur selten: „Manchmal denke ich, einfach einschlafen, nicht mehr aufwachen.“ Aber solche Gedanken sind für Menschen wie ihn Gift, denn wenn man Angst habe, „überlebt man den Winter nicht“. Da müsse die Mentalität stimmen.

Vor ihm der ewige Stau, das Hupen der Autos, die dahineilenden Menschen. Er sitzt den Tag ab und wartet auf den nächsten.
Vor ihm der ewige Stau, das Hupen der Autos, die dahineilenden Menschen. Er sitzt den Tag ab und wartet auf den nächsten.

© Thilo Rückeis

Unter den ganz Armen Berlins dürfte Peter noch einer der Reichsten sein. Denn er kennt kaum Hunger. Um sechs Uhr morgens, wenn das Rathaus öffnet, wäscht er sich erst auf der Toilette und wartet dann auf einer Holzbank, bis die ersten Mitarbeiter in den Gebäudeabschnitt E kommen und ihn mit Broten oder Kaffee versorgen. Im Rathaus-Keller kennen sie ihn schon so lange, die Essensportionen, die ihm hier gratis serviert werden, sind so üppig, dass er sie kaum schafft. Im Sommer bringt ihm ein Mann Butterbrote an die Dorfkirche. Er kannte Peters Vater und arbeitete als Kellner im „Tönnchen“, wo Peters Familie oft zu Mittag aß. Gegenüber von Peters Stammbank ist „Uncle Sam“, ein amerikanisches Diner, in dem er jeden Tag sein „Chili con Carne“ umsonst bekommt. Und wenn er durch die Gartenkolonien fährt, machen manche Laubenpieper Zettel an die Tür: „Peter, bitte komm.“ Dann klopft er, harkt Blätter, fegt Wege oder macht, was gerade zu erledigen ist. „Krieg’ ick ’nen Heiermann oder watt die Leute geben wollen…“

Peter hat sich als Obdachloser eingerichtet, er sagt, er brauche seine Freiheit.
Peter hat sich als Obdachloser eingerichtet, er sagt, er brauche seine Freiheit.

© Thilo Rückeis

Manchmal, ganz selten, da träumt Peter von einem Zurück. Nach dem Wiedersehen im Krankenhaus beispielsweise. Ein paar Tage später hatte die Tochter ihm einen Brief bringen lassen. Er kramt in seinem Rucksack, holt den Papierbogen heraus, mit sauberer Schrift und in blauer Tinte geschrieben. Peter hält ihn wie einen Schatz in den Händen. In dem Brief steht: „Ich brauche keinen Vater mehr. Das ist mit 31 Jahren wohl nicht mehr nötig. Aber vielleicht brauchst Du eine Tochter, um nicht mehr sagen zu müssen: Ich bin ganz allein.“ Peter schaut unentschlossen, dann schüttelt er den Kopf. Er wolle Yvonne nicht mit seinen Problemen belasten, müsse das alleine klären. Peter wird die Chance nicht ergreifen, doch als Absicherung tut sie ihm gut. Wenn er wolle, sagt er, könne er jetzt nachts einfach zum Krankenhaus gehen und mit seiner Tochter reden. Der Brief wärmt seine Seele. Er wird ihn über den nächsten Winter tragen.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und hat den Zehlendorf Blog konzipiert. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin dieser Zeitung für den Südwesten Berlins.

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