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Die UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie kommt im Februar 2008 in Berlin zur Charity-Gala "Cinema for Peace"

© dpa

Weibliche Genitalverstümmelung: Schnitte in Körper und Seele

Am Mittwoch eröffnet Top-Model Waris Dirie in Berlin-Zehlendorf die weltweit erste Klinik für genitalverstümmelte Frauen. Der Zehlendorf Blog hat mir ihr gesprochen und zudem Hadja Kaba getroffen, die mit ihrem Verein "Mama Afrika" gegen diese 5000 Jahre alte Tradition kämpft.

Hadja Kaba war sieben Jahre jung, als ihre Freundin ihr zeigte, was es bedeutet, beschnitten zu sein. Danach weinte sie und flehte ihre Oma an: „Ich will das auch!“

Heute ist Hadja Kaba 58 Jahre alt, eine elegante, hochgewachsene Frau, die den Verein „Mama Afrika“ repräsentiert, der gegen weibliche Genitalverstümmelung kämpft. Als sie ihre Geschichte erzählt, im ersten Stock eines Hochhauses im Märkischen Viertel, lächelt sie weise: „Ich wollte groß werden damals, eine Frau sein, und Geschenke bekommen. Beschneidung war für mich normal und keine schlechte Sache.“ So denken fast alle Mädchen in Afrika.

Die Oma kochte eine besondere Mahlzeit, Getreidegries mit Hühnchensoße. Als Kaba zu der Beschneiderin ging, die ihre Klitoris und die kleinen und großen Schamlippen entfernte, haben die anderen Mädchen und Frauen gesungen. Es war ein Fest, ein tägliches Ritual, bei dem nach Angaben der Unicef täglich weltweit Hunderte Mädchen verbluten. Nach dem Eingriff konnte Hadja Kaba nichts essen, sieh rührte das Festmahl nicht an. „Ich bestand nur aus Schmerzen.“

Damals hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, einen Tages gegen Genitalverstümmelung zu kämpfen, zu kämpfen gegen eine 5000 Jahre alte Tradition.

Auch Waris Dirie führt diesen Kampf. Und man kann sagen, dass erst mit dem Engagement des aus Somalia stammenden Super-Models dem Thema, das noch immer ein großes Tabu ist, weltweit Beachtung geschenkt wurde. Bis zu 150 Millionen Mädchen und Frauen sind laut Unicef betroffen. Praktiziert wird der Brauch vorwiegend in Afrika, im Süden der Arabischen Halbinsel und in einigen Ländern Asiens, aber auch kurdische Frauen sind oftmals beschnitten. In Guinea, wo Kaba geboren wurde, ist die Genitalverstümmelung seit 1969 offiziell verboten – trotzdem sind über 90 Prozent der Frauen beschnitten.

Am kommenden Mittwoch wird in Berlin-Zehlendorf nun die weltweit erste Klinik eröffnet, die diesen Frauen hilft. Die gesundheitlichen Folgen des Eingriffs sind immens. Das Waldfriede-Krankenhaus wird unter der Schirmfrauschaft von Waris Dirie künftig Operationen anbieten, die die Schmerzen lindern können oder die gesundheitlichen Folgen wie Beckenbodenentzündungen oder Fisteln beseitigen.

Die Verstümmelung ist irreversibel, nur teilweise können die Folgen operativ beseitigt werden. Zu diesen Techniken gehören das Abtragen von Narbengewebe, das (teilweise) Wiederherstellen der Schamlippen oder auch das Auswärtsstülpen des inneren Teils der Klitoris, um die Amputation zu kompensieren. Die physischen und psychischen Wunden der genitalen Verstümmelung können nur selten geheilt werden. Es bleiben Schnitte in Körper und Seele.

Schmerz gehört zur Kultur der Frauen

Hadja Kaba vom Verein "Mama Afrika" in Reinickendorf.
Hadja Kaba vom Verein "Mama Afrika" in Reinickendorf.

© promo

Hadja Kaba sagt, dass sie nach der Beschneidung unendliche Schmerzen hatte, aber „ein Teil von mir war auch zufrieden“. Sie will damit ausdrücken, wie verankert diese Tradition in weiten Teilen der afrikanischen Gesellschaft ist. Sie ist normaler als täglich Brot. „Der Mann ist von Gott, aber die Frau muss sauber sein. Die Frau muss Schmerzen aushalten, Schmerz gehört sozusagen zur Kultur der Frauen. Und deshalb redet niemand über das Unheil der Beschneidung“, sagt Kaba und weiß, dass viele Europäer das nicht verstehen können.

Waris Diries Leben ist schon oft beschrieben worden, sie hat ein Buch geschrieben, und die Regisseurin Sherry Hormann, verheiratet mit Kameralegende Michael Ballhaus, beide haben zuletzt den Kampusch-Film gemacht, hat das Buch verfilmt. Es war ein Welterfolg. Dirie wird gemeinsam mit Sherry Horman am kommenden Mittwoch in Berlin sein, dem Tagesspiegel sagte Dirie vorab: „Weibliche Genitalverstümmelung hat nichts zu tun mit Religion, Kultur oder Tradition. Es ist ein Verbrechen an unschuldigen Mädchen, das geahndet werden muss.“

Sie selbst wurde in Somalie mit drei Jahren beschnitten. Im Film „Wüstenblume“ zeigt Sherry Hormann das ganze unglaubliche und brutale Ausmaß dieses Rituals. Der Film nähert sich langsam. In einer Szene, als Dirie bereits in London ist, hebt sie vor ihrer britischen Freundin ihren Rock und sagt unter Tränen: „Aber nur so ist man eine Frau“. Die Freundin erwidert: „Das macht man hier mit keiner Frau.“

Waris Dirie im März 2010 in Paris
Waris Dirie im März 2010 in Paris

© AFP

Nach einer Stunde und 45 Minuten ist der Film bei der entscheidenden Szene angelangt. Das Kind bekommt am Abend vorher eine extra Portion Reis, ähnlich wie bei Hadja Kaba, sehr früh am nächsten Morgen wird es aus dem Schlaf gerissen, und die Mutter führt es in die Wüste. Es ahnt nichts, es ist glücklich, von weitem sieht man an eine Frau wie einen dunklen Schatten, einen schwarzen Engel, der näher kommt. Schließlich ist die Beschneiderin ganz nah, eine vom Wüstenleben gezeichnete Frau mit schiefen Zähnen, die Mutter hält das Kind, und niemand, der den Film sieht, kann diese Szene zuende verfolgen. Das Kind schreit, schreit, schreit.

Bernd Quoss sitzt in seinem Büro im Waldfriede-Krankenhaus und erinnert sich an einen Vortrag von Waris Dirie. Im Juni 2012  habe sie auf einem Chirurgenkongress geredet und den Ausschnitt aus dem Film gezeigt. Der Geschäftsführer des Waldfriede-Krankenhauses wird für einen Moment still, dann sagt er: „Die Hälfte der 400 Ärzte hat geheult. Danach mussten erst einmal alle eine Pause machen.“

Quoss und sein Chefchirurg Roland Scherer entschlossen sich zu helfen. Natürlich weiß Quoss, dass ihm eine solche Klinik auch gute PR einbringt, aber das Krankenhaus in Zehlendorf ist ohnehin bereits caritativ engagiert. Es hat eine Babyklappe und führt anonyme Geburten durch. Quoss könnte ganze Bücher füllen mit Geschichten von diesen Frauen, die anonym entbinden, und vor allem über die Väter.

Außerdem hat das Krankenhaus schon ein Darm- und Beckenbodenzentrum, das Scherer leitet, der Schritt zur Genitalchirurgie war nicht mehr groß. Quoss sagt: „Bisher wird das Thema eher totgeschwiegen, aber glauben sie mir, mit solchen Operationen wird man als Chirurg weder reich noch berühmt. Da müssen Sie schon eher Kniespezialist sein. Der caritative Zweck steht hier im Vordergrund, sonst hätten wir auch Waris Dirie nicht als Schirmfrau gewinnen können.“

Der Standort Berlin ist auch aus Sicht von Dirie und der von ihr gegründeten „Desert Flower Foundation“ „gut gewählt“, wie sie sagt. Es sei das erste Zenrtum, das man unterstütze, man wolle aus den Erfahrungen lernen und weitere Kliniken auch in Afrika eröffnen. Das Waldfriede kooperiert hier mit amerikanischen Kliniken, die beispielsweise in Äthiopien aktiv sind. Dirie sagt: „Berlin hat damit die erste Klinik, die eine ganzheitliche Behandlung anbietet. Das ist ein sehr wichtiger Schritt.“

Es gibt allerdings noch einen anderen Aspekt, auf den die Ärztin und Geschäftsführerin des Berliner Familienplanungszentrums „Balance“, Sybill Schulz, aufmerksam macht: „Aufgrund des hohen Migrationsanteils in Berlin macht der Standort für Aufklärung, Beratung und gynäkologische Behandlung und plastische Chirurgie Sinn.“

Allein in Deutschland leben nach Angaben von Balance  über 30 000 Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht sind. Sehr viele von ihnen in Berlin. Die Dunkelziffer sei aber vermutlich noch höher.

Hadja Kaba lebte bis 1975 in Guinea. Nach dem Abitur studierte sie zunächst an der Universität in Conakry und später in Frankreich soziale und ökonomische Administration, seit 1985 ist sie mit ihren vier Kindern in Berlin. Im Jahr 2000 gründete sie „Mama Afrika“, aber der Verein kümmerte sich zunächst nur um Integration. Sie selbst hatte das Thema Beschneidung verdrängt, obwohl sie die Praxis an den eigenen Kindern nicht anwandte. Erst nach einem Briefing der Unicef begann sie sich wirklich mit der Materie auseinanderzusetzen. „Ich habe selbst erst spät gelernt, wie grausam die gesundheitlichen Folgen sind“, sagt sie.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Sie begrüßt es, dass es jetzt eine solche Klinik in Berlin gibt, aber sie sagt auch: „Solche Kliniken leben von Afrika, deshalb brauchen wir unbedingt auch Geld, um vor Ort aufzuklären und zu informieren. Die Unkenntnis der Frauen über die großen Gefahren der Beschneidung und der Analphabetismus sind die größten Hürden.“

Kaba selbst war bereits unzählige Male in ihrem Heimatland Guinea aktiv. Sie selbst spricht dort offiziell niemals über das Thema, das müsse immer indirekt passieren, um die Menschen und ihre Kultur nicht zu beleidigen. Leider macht oft ein kleines Gerücht die Arbeit von Jahren wieder zunichte. 2011 wurde in der Nähe ihrer Heimatstadt Kankan die Geschichte verbreitet, ein Kind sei gestorben, weil es nicht beschnitten war. Es sei unrein gewesen, hieß es. Kurz darauf setzte eine neue Welle von Beschneidungen ein, „und die Kinder wurden immer jünger“, sagt Kaba. Zwei Jahre, drei Jahre – so jung, wie Waris Dirie war, als eine alte Frau ihr mit einer Klinge im Wüstensand die Klitoris abschnitt, die die Geier auffraßen.

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